Stefan Loos

Schriftlichkeit – Mündlichkeit


Der folgende Artikel zeichnet die historische Entwicklung der Schrift nach. Dabei wird davon ausgegangen, daß die spezifische Entwicklung der Materialität der Zeichen die unterschiedlichen Medientechnologien ermöglicht, die die historischen Kulturstufen bis in die Gegenwart prägen. Rede und Schrift bedingen sich einander und trennen gleichzeitig die Kulturen. Ausschlaggebend für die Entwicklung von Kulturen erscheint die Kapazität ihrer Medien. Andererseits wird deutlich gemacht, daß spezifische historische Umwälzungen nicht automatisch als einschneidend bezeichnet werden können. Standardisierungen präsentieren sich als entscheidender Faktor für die umfassende Entwicklung der Schriftkulturen.

Die Untersuchungen bezüglich den Implikationen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit haben in den letzten Jahrzehnten eine ungewöhnliche und fächerübergreifende Konjunktur erfahren. Dafür gibt es stichhaltige Gründe: In der Frage nach der Bedeutung der Differenz von Schrift und gesprochener Sprache eröffnet sich für eine hier umfassend verstandene "Kulturwissenschaft" die Möglichkeit, Grundlagen und Funktionszusammenhänge unserer mittlerweile stark schriftbasierten Kultur zu erörtern. Die Fragestellung zielt also direkt auf das kulturelle Selbstverständnis und die Selbstvergewisserung der abendländischen Kultur ab. Sie entwickelt einen Beitrag zu jenem modernen Unternehmen 'Evolutionstheorie' von Gesellschaft, indem untersucht wird, wie sich Kultur durch spezielle und historische Formen von Kommunikation stabilisiert und differenziert. Dabei speisen sich die Überlegungen aus den Ergebnissen einer vor allem im Zuge des Strukturalismus entwickelten Ethnologie, die sich systematisch mit Oralität beschäftigte (grundlegend Parry, Ong, Lévi-Strauss, Goody) und denen einer historischen Medienforschung ("Toronto-Schule": McLuhan, Innis, Havelock), an die auch neuere Strömungen wie Dekonstruktion und Systemtheorie - bei aller Absetzung - anknüpfen. Gemeinsam ist diesen Überlegungen - freilich in unterschiedlichen Gewichtungen und vor allem terminologischen Verschiebungen - ihre letztlich kommunikationstheoretische Sichtweise und die Beschreibung von Kultur als historisch variiertes Funktionsgefüge von Medientechnologien.

Historische Kulturen - und mithin die Möglichkeit jeglicher "Kultur" - lassen sich treffend in diskursanalytischer Fortsetzung anhand der Kapazität ihrer Medien beschreiben als "Speicherung, Verarbeitung und Übertragung von Nachrichten" (Kittler). Diese technische Begrifflichkeit, mit einem Wort als "Information" zu verallgemeinern, hat den Vorteil, daß jegliche "Kommunikationssysteme" - so z. B. auch der Güterverkehr - in diesen Beschreibungsmodus für Kultur integrierbar sind. Damit rücken Kommunikationsformen, Übertragungskanäle usw. und insbesondere Schriftlichkeit/Mündlichkeit in das Zentrum des Interesses.

Diese Fragestellung ist speziell von J. und A. Assmann im Zuge ihres Projekts "Archäologie der literarischen Kommunikation" unter dem Aspekt "Schrift und Gedächtnis" reformuliert worden. Die Konjunktion "und" weist dabei zunächst auf die erstaunliche Trennung hin: Schrift ist noch kein Gedächtnis, sondern ein Speicher im Dienste der Erinnerung. Erst wenn eine Erinnerungskultur, sprich Auslegungskultur entwickelt wird, kann Schrift als regelrechtes Gedächtnis dienen. Diese Feststellung führt zu dem per se schon widersprüchlichen 'Ursprung' der Schrift zurück.

Die ältesten - lesbaren - Inschriften (4-3 Jtd. v. Chr.) finden sich als schlichte Namensnennungen über ägyptischen Gräbern (J. Assmann). Für 'Leser' muß sich dieses soziale Phänomen mit einem ausgearbeiteten religiösen Hintergrund verbinden, der verschriftet für diese Zeit nicht vorliegt. Allerdings bezieht sich diese Schriftstufe bereits auf eine Fortentwicklung der Schrift, da Hieroglyphen die Besonderheit auszeichnet, als Bildsymbole auch Konsonantenwert zu besitzen (Haarmann).

Die ältesten Schriften finden sich als Bildsymbole - Piktogramme - bereits vor 35 000 Jahren als Höhlenritzungen/-malereien und gehen einher mit dem, was man gemeinhin die "Menschwerdung" nennt (Leroi-Gourhan). Diese Zeichnungen sind phonetisch nicht lesbar - für ihre Produzenten und Betrachter werden sie aber höchstwahrscheinlich etwas 'bedeutet' haben bzw. mit einem Ereignis verbunden gewesen sein. In wie weit man sich darüber verbal verständigen konnte, bleibt zwangsläufig spekulativ. Wahrscheinlich ist aber mit diesem 'Ursprung' der Schrift ein (religiöses) Gedächtnis verbunden, das möglicherweise Sprache erst ausgelöst, in jedem Fall befördert hat.

Der Beginn von 'materieller Speicherung' in Schrift bleibt genauso dunkel wie ihre Verknüpfung mit der phonetischen Sprache. An diesem Punkt fände Derridas Einwand gegen den "Phonozentrismus", der sich dezidiert gegen die philosophische Behandlung von Schrift/Sprache als Vorgängigkeit der Sprache vor der Schrift im abendländischen Denken wehrt, eine massive evolutionsbiologische Parallele. Hier stoßen Überlegungen zu Schrift und Sprache an die philosophische Rätselfrage: Wenn Menschen durch 'die Sprache' - um keine scharfe Trennung der Vorgängigkeit zwischen verbaler Äußerung und Zeichen zu machen - ihre Vorstellungen und Ideen 'kommunizieren' (in einfachen Anführungszeichen, denn Luhmann würde gerade diese Ausdrucksweise unterlaufen), fragt man sich mit Kittler, wie "Menschen ohne Sprache zu ihren Vorstellungen und Ideen überhaupt gekommen sein sollen".

Dieses Spannungsverhältnis zwischen Schrift und Sprache als Kommunikationsmittel steht schon am prominenten 'Anfang' bzw. Fixpunkt des abendländischen Denkens: Platon - der schreibt - läßt im Phaidros (und im umstrittenen 7. Brief) Sokrates vehement die Schrift kritisieren. Sie vermindere die Gedächtnisleistung und könne niemals an die Verständigungsleistung des mündlichen Dialogs heranreichen. Außerdem "treibt sie sich allerorts umher" und "vieles [sei] notwendig nur Spiel". Die begründete und persönlichem Lehrverständnis verbundene Kritik (Platons geheime mündliche Lehre!) mischt sich hier mit aristokratischem Standesdünkel und wirkt - vorsichtig ausgedrückt - doch ein wenig irritierend. Denn schließlich ist es gerade Platon, der diesen 'Vorsprung durch Technik' nützt und die ihm vorausgehende und konkurrierende mündliche Philosophie der Vorsokratiker - in seiner Darstellung - erst weitgehend überliefert und sich damit als 'Zentrum' in die Philosophiegeschichte einschreibt. Wissen wird durch Schrift nicht nur durch die Zeit transportiert - worauf Platon offensichtlich großen Wert legte - sondern eben auch, wie er offenbar warnte, einschneidend demokratisiert. Theoretisch erhält jeder Schriftkundige Zugang zum gesamten verfaßten Wissen - so wie es Aristoteles dann in seiner Bibliothek vorführte. Den 'Sachzwang' der Vorteile der Schrift wußte Athen auch folgerichtig umzusetzen: Die Söhne der Aristokraten unterlagen ab sechs Jahren einer Schulpflicht, die eben vor allem Les- und Schreibpflicht bedeutete. Das 'Sich-Herumtreiben' der Schrift wird damit genau abgefedert, wenn die Führungsschicht ausnahmslos der Schrifttechnik mächtig ist.(1)

Schrift als "Technologie der bewahrten Kommunikation"(Goody/Watt) erfaßt zum Zeitpunkt Platons prominenter Kritik bereits die gesamte herrschende Gesellschaftsschicht. Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch eine Abstraktionsleistung, die die Schrift selbst betraf. Ende des 8. Jhds v. Chr. erweiterte ein griechischer Unbekannter die übernommene phönizische Konsonantenschrift zu einer Phonemschrift, die jetzt auch Vokale anschrieb. Schrifterwerb wird damit vereinfacht - der Schüler erlernt die konsonantischen Zeichen einfacher aufgrund der vokalischen Zuordnung (das Zeichen "B" gesprochen als "Be") - und das Zeichensystem Schrift vereindeutigt (im Unterschied z. B. Hebräisch!). Dieses alphabetische Schriftsystem als Ergebnis einer Phonemanalyse gibt nicht nur vor, die gesamte gesprochene Sprache und Musik zu notieren, sondern normiert rückwirkend die sprachlichen Äußerungen: Am Anfang weitreichender Entwicklungen und Expansionen steht immer eine Standardisierung.

Schrift als "Entkopplung von Kommunikation und Interaktion" (Kittler) ändert in ihrem undenkbaren Beginn den "Modus der Beobachtung" (Luhmann): Sie fixiert und eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit zu neuen Fixierungen, indem sie - nach Luhmann - die Sprache in eine akustische und eine optische Komponente verdoppelt. Die spezifischen Leistungen der (Alphabet-)Schrift ließen sich ex negativo aus den Einwänden von Platon bestimmen (Heinz Schlaffer): Schrift entlastet das Gedächtnis, macht Wissen aus Texten abrufbar und weitaus leichter transportabel, ist leicht erlernbar und ermöglicht gerade das "Spiel", also Fiktion und privates Verfolgen eigener Gedanken. Die durch den Lehrer gesicherte Unterscheidung von Wahrheit und Lüge im Verlauf eines platonisch-sokratischen Lehrgesprächs wird von Schrift schon theoretisch unterlaufen und ermöglicht das, was wir "Literatur" nennen. So 'bürgt' im Text der Autor seit Herodots Historien mit seiner persönlichen Wahrnehmung - soweit er das kann bzw. möchte (Fiktionalität!) - für den Wahrheitsgehalt, während der Sprecher im Akt seiner Rede für diesen auch körperlich einstand. Die (nicht gestellte) Frage nach der Wahrheit 'beantwortet' im mündlichen Epos dieses selbst als Erzählung des 'wahren' Mythos, untermauert durch die Anrufung der Musen - alle Töcher der einen Mutter Mnemosyne - zur nur schwerlich bestreitbaren Beglaubigung. Zweifellos konnte der Rhapsode seine Erzählung auch den jeweiligen Gegebenheiten anpassen...

Der Mythos verliert seinen unhinterfragbaren Wahrheitscharakter erst dann, wenn er verschriftet, die Gesellschaft von Mythos auf Geschichte umgeschaltet wird und der Mythos so verstärkt und überdauernd der Kritik der Philosophen ausgesetzt war. Denn diese hatten sich mit der Alphabet-Schrift - trotz aller sokratisch-platonischer Gegenrede - eines Mediums 'bemächtigt', das auf Dauer und Verbreitung gestellt ist und dessen Materialität der Zeichen ihrem eigenen Anliegen doch so perfekt entgegen kam. Die Eindeutigkeit der Buchstaben ermöglicht und befördert definitorische Verfahren, mithin Wissenschaft. So wie die Buchstaben selbst schon ein Baukastenprinzip darstellen, kann das angehäufte Wissen von Aristoteles geordnet und in eine Taxonomie eingereiht werden, die noch heute die wissenschaftlichen Disziplinen abbilden. Aristoteles sieht in seiner Lehre vom Satz die Laute als Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, während die Schrift Zeichen der Laute sei - ein Gedanke, der eben nicht nur der gesprochenen Sprache ein Primat einräumt, sondern den Zeichencharakter von Sprache und Schrift benennt. Den Streit um Wahrheit und Lüge, welche die Philosophen der Wortkunst aufzwangen, 'schlichtete' er mit dem Gedanken der mimesis - also der reduzierten Forderung nach Wahrscheinlichkeit/Möglichkeit einer Handlung - und verhalf damit der poetischen Fiktion zu ihrer Legitimation (Schlaffer).

In der Entwicklung der Schriftkultur kann nicht von einem eigentlichen Verdrängen der Mündlichkeit die Rede sein, dagegen spräche schon die Einführung der "zweiten Mündlichkeit" (Ong): Grammophon, Telefon usw. Schriftliche Kommunikation nimmt vielmehr die Formen auf, die sie aus der Mündlichkeit gewinnen kann: der Dialog bleibt bis in die Neuzeit beherrschende Form philosophischen Schrifttums. Andererseits kann man die "Prosa" als spezielle und sich ausdifferenzierende Leistung der Schriftlichkeit werten. Die Betrachtung ausschließlich mündlicher Kulturen ebenso wie ursprünglich nicht verschrifteter Dichtung erweist Reim, Metrum und redundante Wiederholung als primäres Strukturprinzip von rezitierter Mündlichkeit. Künstlerisch-kultische Sprache als Ausdruck einer Erinnerungskultur präsentiert sich so als Technik von Wiederholung und Rhythmus, die die stimmliche Aktualisierung memorierter Sprache offensichtlich erst ermöglicht. Diese Formen und Formeln finden Eingang in die Literatur, welche sich aber mit zunehmender Ausdifferenzierung von diesen löst - hin zu komplexen Erzähler-Fiktionen und schon mit Lukian weg vom zuverlässigen Autor.

Die schlichte Tatsache, daß die gesprochene Sprache an den Körper gebunden ist - und im Zeitalter technologischer Medien zunehmend: war - und sich in Rhythmus und Reim seiner bedient, scheint jedoch in bezug auf die Einführung der Schriftlichkeit mit einer für uns kaum mehr wahrnehmbaren, radikalen Veränderung des Bewußtseins einherzugehen. Während man für schriftbasierte Kulturen von einer Ausdifferenzierung der Formen von Kommunikation sprechen muß, mithin einer Verschränkung und Rückkopplung von mündlichen und schriftlichen Ausformungen der Sprache und des damit einhergehenden Bewußtseins, scheint zwischen schriftbasierter Kultur und einer ausschließlich oralen Kultur ein kaum faßbarer Bruch zu bestehen. Die Ergebnisse der Ethnologie weisen darauf hin, daß in solchen Gesellschaften abstrakte Kategorien, formallogische Denkprozesse und Selbstanalyse fehlen, ja gar kein "Ich" oder "Seele" (Havelock) vorhanden sind.(2) Mythos und Logos fallen zusammen, Geschichte findet nur als rezente Vergangenheit (3-4 Generationen) statt, die als 'Vorher' nur den zeitlosen Mythos kennt. Der immer wieder erzählte Mythos kann dabei in gesellschaftlicher Interaktion veränderten Realitäten angeglichen werden, indem sich der Sänger/Erzähler kraft seiner kultischen Autorität gegen eventuelle Einwände durchsetzen kann.

Dieser heutzutage gerne als 'ganzheitlich' verklärte Zustand macht in jedem Fall die ungeheuere Bedeutung von Schrift deutlich: sie transportiert nicht nur Wissen, sondern ist auf vielfältige Weise die Grundlage für eine Subjektivität, wie sie unsere schriftbasierte Kultur kennzeichnet und macht logisches Denken - in unserem abendländischen Verständnis - erst möglich. Die "strukturelle Amnesie" (Barnes/Goody) der oralen Gesellschaften - alles zu vergessen, was vor allem aktuell nicht gebraucht wird - findet mit Schrift nicht mehr statt. Es bilden sich Wissens-, Ausdrucks- und Gefühlshorizonte in schriftlicher Niederlegung aus, an welche die einzelnen Individuuen in stiller Lektüre "anschließen" können. In einer ausschließlich mündlichen Kultur haben Menschen nur die wenig verlockende Wahl zwischen Partizipation und Einsamkeit. Lesend kann man sich dagegen der Gesellschaft entziehen und eigene Standpunkte 'im Stillen' entwickeln, mit dem hochberühmten literarischen Beispiel für die durchaus möglichen schädlichen Effekte dieser Praxis: der fahrende Ritter Don Quijote. Gleichzeitig ermöglicht die gewissermaßen 'private Situation' der Schrift das schriftliche Festhalten persönlicher Erfahrung - "Dichten ist Herstellen von Erlebnismodellen" (Flusser). Abweichendes oder besonderes Verhalten hat so prinzipiell mehr Möglichkeiten, sich zu speichern oder gespeichert zu werden. Schriftlichkeit bietet demnach weitaus mehr - und gewagtere - Orientierungsmodelle als es eine mündliche Umwelt je zur Verfügung stellen könnte bzw. wollte. Erst mit der Schrift kann sich ein Individuum Informationen verschaffen, die seine konkrete Umgebung nicht bereitstellt und in Wahrnehmungen anderer scheinbar eintreten, die durchaus auch unvernünftig, unsozial oder gefährlich sein können. Derartig fiktionalisierte "Spielformen von Existenz" (Gumbrecht) leisten für Schreiber wie Leser gleichermaßen ihre psychologischen Dienste der 'Triebregulierung'. In einer mündlichen Gesellschaft dagegen - wenn solche Bedürfnisse zum Anders-Sein verstärkt und außerhalb der dafür vorgesehenen Bereiche auftreten - bliebe dem Individuum nur der Ausweg, sich als Narr zu verhalten. Mit diesen positiven Feststellungen wird aber gewissermaßen der diktatorische bzw. ordnungspolitische Aspekt von Schriftkultur unterschlagen. So wie das Aufkommen der Schrift unabweisbar mit der Entwicklung der Stadt korreliert und dabei zuerst einmal Erfassung von Eigentum, Abgabeverpflichtung und (Getreide-) Speicherverwaltung meint, so ermöglicht sie die Koordination einer "Mega-Maschine" (Mumford), welche einen Bevölkerungsteil beim Pyramidenbau verschleißt. Schrift - und das zeigen deutlichst alle medizinisch-juridischen Diskurse über Individuen - ist auch ein Dispositiv zur Normierung und Steuerung ihrer Untertanen (Foucault, Lévi-Strauss).

Diese machtpolitische Implikation von Schrift sollte in der Einführung des Buchdrucks als Schlüsseltechnologie (Giesecke) eine positive Wendung erfahren. Einzuschieben bleibt, daß die Entwicklung der Schriftkultur grundsätzlich in zwei Reihen von Variablen aufgeteilt werden kann: die Seite der Referenz - also die sprachwissenschaftliche Entwicklung der Schriften - und die der physikalischen Schreibmittel bzw. Medien (Kittler). Daß diese Trennung nicht gesondert herausgestellt worden ist, hat vor allem Darstellungsgründe: Die zahllosen historischen Kombinationen erforderten eine akribische und langwierige Beschreibung der jeweiligen Modalitäten (vgl. z. B. Faulstich) und ihrer Wechselwirkungen. Bekanntlich hatte die Schrift bis zur Einführung des Buchdrucks verschiedenste Träger durchlaufen; mit der Papyrus- bzw. Pergamentrolle war ein Medium in Gebrauch, welches die beschriebenen Folgen von Schriftlichkeit und eine regelrechte Schriftkultur ermöglichte. Die Weiterentwicklung zum Codex und schließlich zum papiernen Buch zeichnete sich immer noch durch Handschriftlichkeit aus. Die in der einschlägigen Literatur ausführlich beschriebenen Unterschiede dieser langwierigen Medienentwicklung lassen nicht den Schluß zu, die Geschichte der Schriftlichkeit sei eine Abfolge radikaler und sprunghafter Veränderungen. Vielmehr gilt: die Lese- und Schreibkultur bleibt dabei weitgehend stabil und erweitert sich nur langsam: antike Leser konnten eben auch schon Rollen in Skriptorien ganz gewöhnlich und preiswert kaufen. Auch die oft beschworenen Handhabungsschwierigkeiten erscheinen nicht so einleuchtend: Wer 'seine Rolle kannte', fand gewiß in kurzer Zeit relevante Textstellen. Eine wirklich umwälzende Zäsur ist also nicht festzustellen. Gutenbergs Erfindung markiert sie noch am ehesten, denn schließlich wird hier eine jener ausschlaggebenden Standardisierungen eingeführt. Mechanisierung im Verbund mit anderen sozialen Faktoren erreicht eine Reduzierung von Zeitfaktoren um einen Wert, der justament exponentielles Wachstum ermöglichte.

Die im Gutenbergschen Buchdruck in einem technischen Schritt durchgeführte Normierung von Schrift machte nicht nur alle Bücher gleich und billiger und ihre Herstellung so viel schneller, sondern wirkte ebenso auf Leser und Produzenten. Der Buchmarkt - mit seinem marktwirtschaftlichen 'Selektionsdruck'- expandierte enorm und produzierte eine Vielzahl neuer Buchtitel und -gattungen. Sukzessive konnte sich so eine Kultur entwickeln, in der die Angebote immer zahlreicher und differenzierter wurden, angetrieben von einem ökonomischen Motor, denn auch die streitbarsten Gelehrten schrieben und veröffentlichten für Geld. Das Quasi-Monopol von "Verkündigungsinstanzen" wurde unterlaufen. Neuzeitliche Subjektivität, Rationalität und Wissenschaft haben eine - von vielen - zutiefst technische Grundlage. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Schriftkultur mit der allgemeinen Lesefähigkeit - auch und besonders der Frauen - bei reibungslos funktionierendem Buchhandelsystem, anspruchsvollem und unterhaltendem Produzentenangebot und verbilligten Produktionskosten: die Zeit um 1800. Schrift war damit unzweifelhaft demokratisiert worden und hatte als Medium in Verbindung mit dem Ausbau des Postsystems eine Stellung erreicht, die sie in gewisser Hinsicht verlieren sollte.

Die Einführung der Fotographie (ab 1837) brachte bereits ein optisches Medium ins Spiel, welches die kühnen Träume der Literatur zumindest technisch umsetzte. Ein Konkurrenzmedium 'entwarf' nun keine Bilder mehr, sondern war in der Lage, die Wirklichkeit abzubilden. Die schon angeführte "zweite Mündlichkeit" setzte die zweite Fiktion von Literatur in die Wirklichkeit um: reale Rede zu speichern. Diese Medienentwicklungen konnten schon wegen ihrer Getrenntheit, Begrenztheit und Statik (Foto) das vertraute und wirkungsvolle Buch (und Theater!) als wichtigstes Medium nicht verdrängen oder ersetzen. Dies sollte der Film, der das Versprechen des Buches in Licht und perfekte Simulation wirklicher oder möglicher Welten umsetzt, grundlegend ändern. Heute bewegt die Gesamtgesellschaft Film und Fernsehen - aber auch Sport und Lifestyle - weitaus mehr als Literatur. Die unangefochtene Position des Buches als Wissensspeicher droht mit dem neuartigen Universalmedium Computer ebenfalls verloren zu gehen. Speicherkapazität und Verküpfungsmöglichkeiten, die Bücher mit Registern und Fußnoten bewerkstelligen, werden mit Computern immens erhöht und beschleunigt. Gerade für wissenschaftliche Zwecke wird das elektronische Speichermedium CD-ROM - oder seine Nachfolger - sich durchsetzen. Triumphe feiert die Schrift in einem Bereich, wo man sie nicht mehr zu sehen bekommt: in den Computer-Programmen. Auf den Computerbildschirmen läuft Schrift als Oberflächeneffekt - und das wird noch lange so bleiben - aber nach welchen Regeln sie dort läuft, ist keine eigentliche Schrift mehr, sondern ein Zeichensatz, der mathematische Funktionen codiert. Damit kommt die Schrift an ein vorläufiges Ende, hin zu einer nicht mehr sichtbaren Verkleinerung: über die Höhlenmalereien, Obelisken, Tafeln und Inschriften, handgeschriebenen Büchern und ihren technisch erzeugten Verkleinerungen des Buchdrucks wandert sie unsichtbar auf die Festplatten. Das grundsätzliche Paradox - und damit die Schrift - bleibt jedoch erhalten: der einsame Akt des Lesens und Schreibens fußt auf der Geselligkeit der Sprache.

Literaturhinweise



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