Edith Piaf


Oliver Jahraus

Edith Piafs Lied, nicht der Film La vie en rose lässt uns weinen

Diese Besprechung des Films La vie en rose von Olivier Dahan aus dem Jahre 2007, der das Leben Edith Piafs ins Kino bringt, geht vor allem darauf ein, wie der Film mit der Musik Edith Piafs umgeht, und zeigt, warum er das Affektpotenzial, das diese Lieder bieten, nicht konsequent nutzen kann.

Man kennt die Frage aus den Prominentenfragebögen: Hätten Sie gerne zu einer anderen Zeit gelebt? Ich kann mit dieser Frage nichts anfangen, man lebt, wann man lebt. Die kontrafaktische Spekulation lässt mich kalt. Und doch gibt es einen einzigen Grund, warum ich die Frage gerne leidenschaftlich bejahen möchte: Und dieser Grund ist Edith Piaf. Ich hätte sie so gerne gesehen, getroffen, vor allem live – vielleicht im Pariser Olympia – gehört und erlebt. Edith Piaf starb am 10. Oktober 1963, 47 Jahre alt. Zu dieser Zeit war ich noch nicht geboren. Quel dommage! Aber so ist es eben.

Und das ist auch der Grund, gleich von Anfang an meine Befangenheit herauszustellen, wenn es etwas zu jenem Film zu sagen gilt, der von sich behauptet, das Leben meines Idols, das Leben der Edith Piaf zu verfilmen, ihre Präsenz im Kino zu repräsentieren, sie – so gut es eben mit den Mitteln eines Mediums möglich ist – wiedererstehen zu lassen.

Unter dem Titel La Mome kam der Film in Frankreich, in Deutschland unter dem Titel La vie en rose in die Kinos. Dass in Frankreich die eher intime Bezeichnung für die Kleine, das Mädchen, das Gör den Titel abgibt, lässt auf die größere, intimere Vertrautheit Frankreichs mit seiner größten Sängerin schließen, während außerhalb Frankreichs der berühmte Liedtitel zugleich eine Interpretation der gezeigten Biographie als „vie en rose“ vorgibt.

Auch Olivier Dahan, der relativ junge Regisseur des Films, hat Edith Piaf nie erlebt. 1967 geboren, gehört er zu den zu spät Geborenen, die sich anscheinend berufen fühlen, wie ich auch, das Andenken hochzuhalten. Und ist es ihm gelungen? Sicherlich. So unvergessen die Piaf ist, so deutlich wirkt doch die Wieder-Erinnerung, die mit dem Film einhergeht. Aber das ist nur die Oberfläche. Ob es an der Zeit für die Wiedererinnerung war, wer kann das sagen? Ob es ihrer überhaupt bedurfte? Die Werbetrommel wird fleißig gerührt: Das Leben der Edith Piaf kommt ins Kino, und damit ersteht sie wieder einmal neu in unseren Erinnerungen. Vielleicht ist es an der Zeit, Edith Piaf gegenüber ihrer filmischen Verwertung doch etwas in Schutz zu nehmen.

Ins Auge springt, dass dieser Film sich in eine Reihe großer, verfilmter Musiker- bzw. Sängerbiographien einfügt, die, mit großem Aufwand für das mainstream-Programm durchaus erfolgreich produziert, in der letzten Zeit in die Kinos kamen. Man denke nur an Walk the Line von James Mangold (USA 2005), der das Leben von Johnny Cash verfilmte, oder an Ray von Taylor Hackford (USA 2004), der sich der Biographie von Ray Charles widmete.

Dass aber das Leben der Piaf keine amerikanische Produktion sein kann, versteht sich von selbst. Die Filme zu Ray Charles und Johnny Cash lassen sich immer auch als Beitrag zur Autobiographie der amerikanischen Seele ebenso wie der amerikanischen Kultur lesen. Und dasselbe gilt wohl für einen Film über die Piaf mit entsprechend veränderten Koordinaten – und vielleicht sogar noch stärker, was die nationale Identifikation betrifft. Kaum ein Star ist so eng an sein Vaterland (Mutterland wäre hier aus mehreren Gründen unpassend) gebunden gewesen wie Edith Piaf an Frankreich und nicht zuletzt an Paris. Und das wird auch im Film immer wieder angesprochen, vor allem in jenen Passagen, die die Zeit zeigen, als sie sich in Amerika aufhält. Es gehört zu den bewegendsten Dialogpartien, als Edith Piaf, während einer Entziehungskur am Strand Kaliforniens sitzend und strickend, von einer jungen Reporterin gesagt bekommt: „Madame Piaf, Sie so weit von Paris entfernt?“ Und Edith Piaf antwortet: „Ich bin nie weit von Paris entfernt.“

Die Kulturdifferenz zwischen alter und neuer Welt, exemplifiziert am Beispiel der USA und Frankreichs, gehört zu den Themensträngen, die der Film aufgreift. Als sie mit dem Mann, der ihre große, aber unglückliche Liebe werden sollte, dem französischen Boxer Marcel Cerdan, in New York erstmals in eine Bar essen geht und ein dick mit Schinken belegtes Sandwich vorgesetzt bekommt, weigert sie sich, es zu essen, riecht daran und bezeichnet es als nassen Hund. Sie bringt ihren Begleiter dazu, sie in ein nobles Restaurant einzuladen, in dem man exzellenten französischen Wein bestellen kann. Damit ist deutlich: Edith Piaf ist durch und durch Französin, und wo die Kultur und mithin auch die Esskultur wohnt, das ist wohl jedermann klar.

Dass sie eine Ikone Frankreichs ist, macht uns der Film noch durch eine andere Szene, eine Urszene im besten Sinne, deutlich. Die Szene zeigt, wie die kleine Edith, die mit ihrem Vater, der Kunststücke vorführt, durch die Lande tingelt, eines Tages zum ersten Mal völlig überraschend vor dem Publikum ihres Vaters singen soll. Da sie kein anderes Lied kann, singt sie die „Marseillaise“. Das Publikum ist beeindruckt und findet Gefallen, natürlich am Gesang und an der Stimme, aber gleichzeitig auch am Lied. Die zukünftige Künstlerin verbindet sich mit ihrem Publikum in einem Akt nationaler Selbstvergewisserung, indem sie sich als eine aus der Mitte ihres Volkes ausweist.

Ein weiteres Beispiel: Als sie in späteren Jahren inmitten ihrer Entourage im Cabrio, so zeigt es der Film, durch die Wüste im kalifornischen Hinterland fährt, alles bunt ist und sonnendurchflutet und lustige Kakteen und vertrocknete Bäume die Wüste pittoresk bevölkern, mutet dieses Amerika wie eine Karikatur an. So mag es auch gerechtfertigt sein. Amerika ist ihr immer fremd geblieben. Und wenn man kritisch in Rechnung stellt, wie amerikanisiert der Blick der westlichen Welt sein mag, dann kann man auch umgekehrt ermessen, dass in dem Maße, wie diesem Blick die Künstlerbohème von Montmartre unrealistisch erscheinen muss, dies für Amerika mit seinem sonnigen Kalifornien und seinem wolkenkratzenden New York für den französischen Blick einer Edith Piaf gelten musste.

Daher ist es um so fraglicher und fragwürdiger, warum uns der Blick auch Frankreich als Karikatur darbietet. Eine Einstellung zum Beispiel zeigt mit dem Blick von oben, am Horizont des Häusermeers der Eiffelturm, genau die Welt unterhalb Montmartres. Hier singt die junge Piaf, als sie noch Edith Gassion ist, mit ihrer Freundin, um sich das Essen zu verdienen. Alles ist so detailverliebt gestaltet, so romantisch inszeniert, dass einem schlecht werden kann.

Das erinnert schon fast an das Montmartre in Baz Lurmanns Moulin Rouge, nur hat Lurmann den verfremdenden Kitsch seiner Inszenierung bewusst herausgestellt und nicht – wie dieser Film – als Realismus ausgegeben. Der Film erreicht auch nicht die Phantastik der Montmartre-Welt, die uns Jean-Pierre Jeunet in seiner Amélie fortführt, weil dort die realistischen Elemente sehr geschickt mit den phantastischen verknüpft sind. Nebenbei bemerkt, ist es verblüffend anzuschauen, wie oft die junge Edith Piaf als Amélie mit denselben figurentypologischen Merkmalen erscheint. Ob hier Dahan von Jeunet oder Jeunet selbst schon etwas vom Bildmaterial der Piaf abgeschaut hat, kann ich nicht sagen. Jedenfalls scheint hier ein französischer Frauentypus am Werk zu sein, und man bewegt sich in einem intertextuellen Raum des französischen Films. Deswegen ist es so verblüffend zu sehen, wie seltsam unentschieden dieses Frankreich-Bild – im eigentlichen Sinn des Wortes –, das uns Dahan zeigt, ist. Zwar will uns der Film die bedrückenden Verhältnisse in der Provinz und in der Kapitale, die Armut und Armseligkeit des Zirkuslebens oder der Pariser Bohème, deutlich vor Augen führen, in der die Piaf aufwächst, aber gleichzeitig wird es so verfremdet, dass man sich in einer schlechten Bohème-Inszenierung wähnt.

Nun mag man dem Regisseur und seinem Film dabei ein hehres Ziel unterstellen und behaupten, es sei darum gegangen, auch eine filmische Hommage an eine der größten Sängerinnen ins Werk zu setzen. Dass es wirklich darum gehe, die Biographie zu verfilmen, sagt ohnehin nur die Filmwerbung. Das wird man zumal bei diesem Leben, das sich in 140 Minuten kaum abhandeln lässt, nicht ernsthaft behaupten wollen.

Doch man wird dabei auch nicht übersehen, dass diese Sänger-Biographien wunderbar geeignete Sujets für Filme darstellen. Wenn man nur einmal auf diese drei genannten Beispiele blickt (Johnny Cash, Ray Charles und Edith Piaf – die Dreamgirls ließen sich noch anfügen), so erkennt man, dass das Leben der drei all das schon enthält, was sich Drehbuchautoren sonst aus den Fingern saugen müssen: eine wunderbare Geschichte, grandiose Figuren, biographische Höhen und Tiefen, psychische Höhenflüge und Fallhöhen, soziale Aufstiege und Abstürze, Tragik und Triumph auf engstem Raum und im Übermaß, eine existenzielle Amplitude, deren Spannweite man sich gar nicht größer vorstellen könnte, dramatische Wendepunkte. Das allein lässt mich staunen, dass diese Musikerbiographien nicht schon längst für den Film entdeckt wurden. Gleichzeitig frage ich mich, wer wird wohl am nächsten mit einem Film bedacht? Oder gibt es etwa doch nur wenige Beispiele?

Aber es kommt noch etwas Zweites, Wesentliches hinzu, was mit der doppelten Medienperspektive des audio-visuellen Films zu tun hat. Liefern die Biographien allein schon wunderbare Vorgabe für die bildlich erzählten Geschichten, so liefert die Musik dieser Sänger die Tonspur des Films gleich mit, und das in einer entscheidenden Funktion. So banal es 'klingen’ mag, aber was diese Musiker und Sänger im kulturellen Gedächtnis hält, das ist die Macht und die Kraft ihrer Musik, die Gemüter und die Herzen ihrer Hörer zu bewegen und mitzureißen. Um es einmal technisch pragmatisch auszudrücken: Mit dieser Musik bekommt der Film ein Affektpotenzial zur Verfügung gestellt, das er sich ansonsten mühevoll erarbeiten müsste. Filmmusik ist eines der wesentlichsten Instrumente einer Emotionalisierungsstrategie des Films. Filmmusik kann funktionieren, muss aber nicht. Diese Musik ist jedoch schon millionenfach getestet. Sie hat millionenfach ihr Affektpotenzial unter Beweis gestellt und aktualisieren können und ihr Publikum erreicht. Es ist Filmmusik allerbester Qualität mit Funktionsgarantie! Was also will ein Regisseur mehr?!

Auch hier, nicht nur in seinen Bildern, auch bei der Handhabung der Musik, ist der Film seltsam unentschieden. Es hat den Anschein, als ob er sich vor dem gewaltigen Geschenk, das ihm mit den Liedern der Edith Piaf zuteil geworden ist, gefürchtet habe, als ob er gefürchtet habe, dass seine Bilder gänzlich hinter dieser Musik zurückstehen müssten und der Film selbst ganz überflüssig erscheinen werde, wenn man der Musik einen größeren Platz einräumte. Über weite Strecken erscheint mir dieser zurückhaltende Umgang mit der Musik nicht recht einsehbar. Was wäre so schlimm für den Film gewesen, hätte er sich letztlich als großes Musikvideo zu den Lieder der Edith Piaf entpuppt? Dem Film kann Schlimmeres passieren, und es ist ihm wohl Schlimmeres passiert. Das Ganze wird selbst dort noch unterstrichen, wo man auf den ersten Blick und das erste Hören eine Ausnahme vermuten könnte, so z.B. als ein Boxkampf des geliebten Marcel Cerdan, dem Edith Piaf beiwohnt, mit einem ihrer Lieder untermalt wird.

Dennoch gelingen dem Film – und das gilt es besonders herauszuheben – auch ganz eigentümliche Formen des Umgangs mit dieser Musik, nämlich dort, wo er seine Zurückhaltung ins Extrem treibt. Es gibt eine Szene, als Edith Piaf zum ersten Mal ein echtes Konzert vor Publikum bestreiten und eben keine Gesangsnummer mehr in einem Cabaret oder Variété abliefern soll. Sie ist nervös, hat Lampenfieber und schließt sich auf der Toilette ein, aber schließlich gelingt es, sie zu überreden, auf die Bühne zu treten: Die eigentliche Geburtsstunde der Künstlerin. Als Edith Piaf endlich auf die Bühne kommt und im Rampenlicht steht, ist die Szenerie von einer leisen, leichten, fast traumartigen Musik unterlegt. Edith Piaf blickt ins Publikum. Noch singt sie nicht. Der Film wartet geduldig, die Spannung baut sich geradezu von alleine auf. Und dann singt sie – aber der Kinobesucher hört sie nicht. Er sieht nur, wie sie ihre Lippen bewegt und offenbar mit Elan und Bewegung singt. Die leichte Filmmusik bleibt und untermalt weiterhin die Szene. Die Spannung, die sich aufgebaut hatte, bis sie endlich singt, wird nun in das Auseinanderklaffen von Bild und Ton verlagert. Was der Film uns hier vorführt, ist eine Art der Vivisektion. Geradezu analytisch schneidet er die Musik aus dem Bild heraus und lässt die Zuschauer Edith Piaf singen sehen, nicht hören. Fast wie in Kafkas kleinem Text von Gesang der Sirenen gibt uns der Film einen in jeder Hinsicht visuellen Eindruck von der Gewalt der Musik, gerade indem er die Musik 'verschweigt’ und nicht hörbar werden lässt, und vielleicht 'klingt’ die Musik gerade in dieser Szene gewaltiger denn je, weil der Zuschauer sie nicht im Kino, wohl aber in seinem Kopf hört. (Hört er sie nicht, ist er wahrlich im falschen Film: sein ganzes Leben lang!)

Dennoch ist diese Szene bedenkenswert. Sie funktioniert, weil sie ausblendet, was sie eigentlich in Bilder umsetzen muss, wenn ein Film das Leben der Edith Piaf verfilmt. Es hat den Anschein, als wollte hier der Film sich am nachhaltigsten von der Gewalt der Musik emanzipieren und seine eigentliche Medialität, die der Visualität, die der Bilder in drastischer Weise herausheben. Was wie ein Triumph des Bildes über den Ton erscheint, wirkt auf der anderen Seite aber dann doch wie eine bittere Kapitulation, unabhängig davon, wie gut diese Szene im einzelnen bzw. als einzelne funktionieren mag.

Und deswegen ist diese Szene geradezu beispielhaft für den Triumph und mehr noch für das Scheitern dieses Films. Denn dieser Film kann sich gegenüber seinem Gegenstand, seinem Sujet nur behaupten, wenn er dasjenige, was sein Sujet konstituiert, gerade ausblendet, wenn er das Affektpotenzial, das die Musik liefert, gerade nicht im vollen Umfang aktualisiert. Kurz gesagt: Ich werfe dem Film vor, dass er die Musik der Edith Piaf zu stiefmütterlich, zu verkrampft, zu intellektuell, zu gefühllos behandelt. Das setzt mich dem Vorwurf aus, ich würde meine Erwartung zum Wertmaßstab erheben, was übrigens stimmt, weswegen mich der Vorwurf nicht wirklich trifft. Aber bei der Beurteilung eines Films über Edith Piaf ihre Musik als Ausgangspunkt der Argumentation zu nehmen, halte ich aus mehr als einem Grund für gerechtfertigt. Und deswegen halte ich meinen Vorwurf für gerechtfertigt.

Zumal damit eine Tendenz bezeichnet wird, die sich über den gesamten Film hinweg beobachten lässt. So viel Mühe, wie sich der Film gibt, um seine Bilder zu inszenieren, so zurückhaltend ist er mit der Inszenierung der Musik. Das verhält sich anders bei den beiden genannten amerikanischen Beispielen Walk the Line und Ray, wo die Handlung des Films immer wieder Stationen passiert, an denen die Songs als regelrechte Clips, durch die Handlung motiviert, ins Bild gesetzt werden können. Nicht so in La vie en rose. Die Lieder der Piaf werden zwar immer wieder anzitiert, aber kaum jemals in voller Länge durchgehalten. Häufig treten Bild und Ton auseinander, um zu vermeiden, dass das Bild den Ton in seinem Wirkpotenzial verstärkt. Und schon gar nicht will der Regisseur das Bild als Magd der Musik funktionalisiert 'sehen’. Dabei hätte es sich durchaus angeboten, einige der Bühnenauftritte in extenso vorzuführen, zumal auch in diesem Bereich die Darstellerin der Edith Piaf, Marion Cottilard, erstaunliche schauspielerische Leistungen vollbringt. Wer Originalaufnahmen von Edith Piaf kennt, kann erahnen, wie viel Übung im Spiel von Marion Cottilard steckt, bis sie bis in die Körpersprache der kleinen Person hinein ihr Vorbild so beeindruckend imitieren konnte.

Nur am Ende des Film wird doch ein Lied – für mich ist es das Lied der Edith Piaf schlechthin – regelrecht in Szene gesetzt: Non, je ne regrette rien. Damit findet zugleich die Erzählstrategie des gesamten Films ihren Höhepunkt. Der Film erzählt achronologisch. Zwar rekapituliert er in zentralen Ausschnitten mit Weglassungen, die dem Zuschauer nicht bewusst werden sollen, die gesamte Biographie der Edith Piaf, aber er wechselt permanent zwischen früheren und späteren Episoden hin und her. Histoire, also Handlungschronologie, und discours, also Erzählchronologie, treten auseinander. So werden die Szenen der Kindheit und Jugend immer mit den Szenen der älteren Edith Piaf regelrecht konterkariert. Die Erzählstrategie, die sich dahinter verbirgt, ist offenkundig. Oberflächlich betrachtet, kann so der Episodencharakter des Gezeigten in den Hintergrund treten. Zum Beispiel gibt es im Film nur eine, im positiven Sinn sehr spannungsreiche Begegnung zwischen Marlene Dietrich und Edith Piaf, der deutschen Diva und der französischen Artistin, in den USA. Die – versteckten – Episoden werden dabei wiederum als Stationen eines Weges betrachtet, der von seinem Ende her interpretiert wird: Das Leben der Edith Piaf wird von ihrem Tod her inszeniert. Das armselige Kind, von seiner Mutter vernachlässigt, verdreckt und wenig geliebt, wird durch die Brille der späten Piaf gesehen – eine, wenn man so will, gebrochene Brille. Denn es wird nicht nur klar, dass aus dem Kind aus der Gosse ein gefeierter Star geworden ist, ein Star, der aus der Gosse kommen musste, um zu werden, was er geworden ist. Es wird ebenso deutlich gemacht, dass dieses Leben von Anfang an mit einer existenziellen Hypothek belastet ist, die später zu einem exzessiven Leben mit dramatischen psychischen Rückschlägen, mit einem ebenso exzessiven Konsum von Alkohol, Medikamenten und Drogen, vor allem zu einer gerade rücksichtslosen Zerstörung des eigenen Körpers geführt hat. Aber selbst hier, in seinen Bildern, stößt der Film an seine Grenzen, Grenzen, die ihm von seinem Gegenstand, dem exzessiven, unfassbaren Leben Edith Piafs, gezogen werden. Dieses Leben wird grell überzeichnet, doch der Film erreicht selbst – so paradox es klingen mag – in seinen grellsten Szenen die Wahrheit dieser Existenz nicht annähernd.

Nun könnte man dem Film folgende Rechnung unterstellen und überprüfen, ob sie aufgeht: Es geht dem Film darum, das lange Sterben der Edith Piaf zu zeigen, und um dieses Ziel besser verfolgen zu können, wird auf der anderen Seite die Musik der erzählten Geschichte nachgeordnet. Eine solche Rechnung kann nicht aufgehen, was jeder 'einsehen’ wird, der auch nur das geringste Gespür für die Musik der Edith Piaf hat. Und der Film liefert selbst den Beweis hierzu, nämlich in seiner eben angesprochenen Schlusssequenz. Schon relativ früh wird dem Zuschauer deutlich gemacht, dass das Jahr 1960 eigentlich einen Endpunkt darstellt. Die körperliche Zerstörung der Edith Piaf ist so weit fortgeschritten, dass an Auftritte nicht mehr zu denken ist. Der Plan, noch einmal im Olympia aufzutreten, wird fallengelassen, als ein junger Komponist in ihre Wohnung kommt und ihr das Lied Je ne regrette rien vorspielt. In der Tat muss sich diese Szene so abgespielt haben. Edith Piaf ist von dem Lied begeistert, weil es wieder einmal ihr Lied ist, das sie hört, ein Lied, in dem sie sich und ihr Schicksal wiedererkennt. Es ist dieses Lied, das sie wieder neue Kraft schöpfen und auf den Auftritt im Olympia hinarbeiten lässt. Der Film springt dabei immer wieder in die Vergangenheit und in die Zukunft, von der Edith Piaf nicht mehr viel hat. Schließlich bricht ihre letzte Nacht an, so markiert es ein Insert. Ein zerstörter Mensch liegt im Bett und beklagt sich, dass immer die falschen, nicht die erwünschten Bilder vor das innere Auge treten. Die Rückblenden sind hier zusätzlich – als Erinnerungen – motiviert. Denn der Zuschauer sieht diese Erinnerungsbilder. Und dann sieht er Edith Piaf sterben. Aber Edith Piaf ist unsterblich. Gleichermaßen gibt es Rückblenden aus der letzten Nacht zum Olympia-Auftritt; der Zuschauer erlebt mit, wie Edith Piaf das Publikum warten lässt, weil sich ihre Halskette mit Kreuz nicht auffinden lässt. Schließlich wird sie gefunden, und Edith Piaf tritt auf und singt: „Non, je ne regrette rien“. Der Auftritt wird als Apotheose inszeniert, denn die Erzählung des Films hat schon längst den Tod der Edith Piaf erreicht und überschritten. Vielleicht ist es auch wirklich eine Apotheose. Eine vorweggenommene Himmelfahrt außerdem. Und dann ist der Film – schlagartig – nach 140 Minuten zu Ende. Die Schlussinserts laufen über die Leinwand, kleine weiße Schrift auf schwarzem Grund, absolut tonlos!

Das ist gekonnt. Das ist der Triumph und das Scheitern des Films, dieser Verfilmung von Edith Piafs Leben, gleichermaßen. Denn hier zeigt er, wie die Musik und das Leben zusammenfallen und wie aus diesem Zusammenfall jenes Affektpotenzial rührt, das den Zuschauern, sofern sie nicht taub oder gefühllos sind, die Tränen in die Augen treibt. Es ist genau jener Moment, an dem sich die Sterblichkeit eines zerstörten Körpers und die Unsterblichkeit einer kraftvollen Stimme, die Vergänglichkeit des Material und die Unvergänglichkeit des Immateriellen treffen, aber es ist ein Moment, den der Film nicht zu fassen bekommt, weil er zu spät kommt, weil er sich in genau jenem Moment als ein Medium der nachträglichen, zudem noch fingierten Dokumentation erweist, der Re-Präsentation, der nichts zum präsentischen Zauber dieser Musik beiträgt. Wenn diese letzte Szene uns zu Tränen rührt, so ist dies nicht der Film, ist dies vielleicht auch nicht seine geschickte Montage, die das Lied als Schlusspunkt genau an jener Stelle der Erzählung positioniert, an der die Bilanz des Lebens ohnehin ansteht: Non, je ne regrette rien. Ja, es ist auch nicht die Montage, die das Lied zu einer Bilanz macht, die uns zu Tränen rührt. Hier wird deutlich, inwiefern der Film zu spät kommt. Das Lied selbst ist diese Bilanz seit jenem Moment, in dem Edith Piaf es zum ersten Mal gesungen hat, indem sie es gesungen hat. So mag der Film das Lied als Apotheose einsetzen, und doch hat es schon immer mehr ausgesagt, als der Film ihm an Bedeutung überhaupt nur zusprechen kann. Dass das Lied, mit seiner bilanzierenden Endzeitstimmung, selbst wiederum in einer Schlussapotheose der Liebe am Beginn aller Dinge endet, das vermag dieser Film und wohl kein Film darzustellen, weil es nicht darstellbar ist. „…ça commence avec toi“. Der Film erweist sich gerade so als Trittbrettfahrer, der gerne etwas von jenen Gefühlen auf seine Rechnung schreiben würde, die in Wirklichkeit der Musik zu verdanken sind. Nein, nein, man braucht sich nicht täuschen zu lassen. Die Tränen gelten der Musik, nicht dem Film. Und wo der Film uns zu Tränen rührt, ist es in Wirklichkeit die Musik, mit der es Edith Piaf immer schon geschafft hat, „Minister und Prostituierte, Piloten und Seeleute, Familienmütter, Homosexuelle, Sportler, Dichter und Polizisten“, wie ihre Biographin Monique Lange (Edith Piaf. Ffm 1985, S. 170) schreibt, zum Weinen zu bringen.

Daran gescheitert zu sein, ist vielleicht noch nicht einmal das Schlimmste, was einem Film passieren kann. Doch noch einmal: Hat es dieser Erinnerung bedurft? Es heißt, in der Folge des Films seien wieder viele zu Edith Piafs Grab auf dem Friedhof Père Lachaise gepilgert, um ihr die Ehre zu erweisen. Als ich in den vergangenen 20 Jahren ihr Grab immer wieder einmal aufgesucht habe, war ich dort meistens allein. Und hat der Film erst seinen Elan verloren, werde ich wieder hinpilgern und wahrscheinlich wieder allein sein. Die Erinnerung, die der Film stiftet, wird verblassen. Und deswegen ist die Antwort irrelevant.

Seinen eigentlichen Zweck hat der Film erfüllt, wenn wir unsere Augen schließen und unser Ohr wieder der Musik Edith Piafs leihen, nein, schenken!

Leserbrief zu diesem Beitrag



Verfasser: oliver.jahraus@germanistik.uni-muenchen.de , veröffentlicht am 15.03.2007

 

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