Ästhetik öffentlich inszenierter Kommunikation / Bewertung und Bearbeitung von Redereignissen in Talkshows / Medienethik / Talkshows / öffentlich gemachte themenzentrierte Kommunikation


Konrad Kärn

Talkshows unter medienethischen, medienästhetischen und mediendidaktischen Gesichtspunkten


Abstract: Im vorliegenden Artikel wird zunächst nach der Berechtigung gefragt, sog. Talkshows unter medienlinguistischen Gesichtspunkten zu untersuchen. Talkshows liefern als "Quasitranskripte" unablässig ein vielfältig relevantes Material gesprochener deutscher Standardsprache. Der Autor befaßt sich insbesondere mit den verschiedenen Arten von Image-Destruktionen bzw. Image-Wahrung in Talkshows. In diesem Zusammenhang werden kommunikationsethische Modelle von Habermas bis Kos diskutiert. Für die medienlinguistische- und medienpädagogische Praxis wird mit Grice, Wimmer und Doelker versucht, zu handlungstheoretischen Ansätzen zu kommen. Es geht darum, Modelle zu erstellen, mit denen komplexe Redeereignisse in Talkshows erfaßt, bearbeitet und bewertet werden können. Von besonderem Interesse sind Raster auf empirischer Basis.


I. Talkshows - ein sinnvoller Gegenstand medienlinguistischer Forschung?

"Wir wissen über Ästhetik Bescheid wie kein Zeitalter sonst und leben doch in immer häßlicheren Umgebungen. Wir konzipieren die sublimsten Medienkunstwerke und setzen uns doch immer debileren Formen der Unterhaltung an eben diesen Medien aus. Wir sehnen uns nach Naturschönheit und zerstören sie gerade im Versuch, technisch über sie zu verfügen."(1)

Das ist die Meinung des Philosophen Reinhardt Knodt, und von diesem Standpunkt bis zur Frage "Lohnt es sich denn, sich mit 'Talk-Shows', einer Form öffentlich inszenierter Kommunikation 'auseinanderzusetzen'?" ist nur ein Gedankenschritt notwendig. Gesamtgesellschaftlich besteht offensichtlich Bedarf, denn zu Beginn des Jahres 1998 formierte sich eine 'Initiative' gegen 'Tages-Talkshows' - ganz im herkömmlichen jugendschützerischen Rahmen.(2) Dies und die Tatsache, daß sich täglich 4,5 Millionen Menschen solche 'Shows' ansehen und daß sie bei Senioren, aber auch Jugendlichen etwa zwischen 13 und 14 Jahren besonders beliebt sind, mag noch keine hinreichende Legitimation zur forschungsmäßigen Beschäftigung mit diesem Genre sein.
Unterschwellig stellen sich Annäherungen an die kommunikationssoziologisch inzwischen durchaus bearbeitete Alltags-Tv-Realität immer noch verdeckte geisteswissenschaftliche Dünkel entgegen, unter anderem auch Adornos Verdikt, die Medienmaschine sei eingebunden in die "hermetische Negativität" der "Kulturindustrie".(3)
Nichtsdestotrotz befinden wir uns als Medienpädagogen der Sehmaschine gegenüber in einer traditionell ausgelieferten Situation: Wir können nicht umhin, das zu bearbeiten, was die Apparate ausspucken und was uns von ihren Nutzern wieder als 'response' zurückkommt. Als Linguisten, speziell als Kommunikationswissenschaftler, sind wir in einer einfacheren und wohl auch von Vorurteilen freieren Situation: Die unendlich auf den verschiedensten Ebenen sich abspielenden Rededuelle, seien es die schlichteren Formen des Volkstalks oder die hochargumentativen 'Nachtcafés' und 'Streit im Schloß'-Sendungen geben uns (endlich) die Möglichkeit, zwar institutionell inszenierte, aber doch 'live' - Kommunikation als Korpus gesprochener deutscher Sprache zu analysieren. Die Griechen und Römer hatten es in der philosophischen Betrachtung von 'Unterhaltung' im weitesten Sinn im übrigen einfacher: Nachahmung und Vervollständigung sowie Anpassung an die Natur schlossen Ergötzung (diagogé) und Erholung (ánesis) mit ein - und wer wollte bestreiten, dass sich Zuschauer auf mehr oder weniger fragwürdige Weise an dem, was die Shows als 'menschliche Natur' bieten, auch ergötzen?


II. Beobachtungen an Hand des Genres "Talk-Show"

Wenn z.B. Bärbel Schäfer in einer Sendung mit dem Titel "Mein Doktor hat mich schön gemacht" bezweifelt, daß die Kandidatin auch genug in ihrem 'schöngemachten' Kopf hat, um zu entscheiden, was operativ damit und mit ihrem Körper geschehen soll, sich anschließend im aufbrandenden Jubel noch einmal an die Stirn tippt und bemerkt, dass ja wohl das eine mit dem anderen zu tun habe, können wir wieder einmal ein 'highlight' jener totalen Imageangriffe einfangen, die das Genre leider immer häufiger auch mit hervorbringt. Die Betroffene nickte übrigens nur betreten mit dem Kopf. Eine solche schwächliche Reaktion in totalen Imageangriffen auf das 'Image als Mensch'(4) - die Betroffene hätte eine so bösartige Äußerung nicht ohne Metakommunikation dastehen lassen dürfen - läßt uns einiges vom durchaus vorhandenen kommunikativ defizitären Gesamtpotential des Genres erahnen. Sie führt zur Frage: Handelt es sich bei einer solchen kommunikativen Verfaßtheit um eine Eigentümlichkeit menschlicher Kommunikation überhaupt oder ist sie das Ergebnis der 'verdinglichten' inszenierten Kommunikation der Sehmaschine?
Andererseits sind auch argumentatives Zurückschlagen, Plazieren von Einbahnhieben, Destroyer-Vernichtungsfiguren-Standhalten zu beobachten. Wie vollzieht sich das Erringen oder der Verlust von Interaktionsüberlegenheit, welche verschiedenen Sprachschichten- und Ebenen erscheinen - all dies können wir an Hand von Talk-Shows beobachten, ja wir können sogar im Sinne Norbert Groebens(5) darüber diskutieren, ob wir uns auf Kriterien für 'integres' und 'unintegres' Argumentieren einigen können.
Trotz Ähnlichkeiten im Sub-Genre (etwa in der Abgrenzung 'Volks-Talk' und reinem "Argu-Talk) gleicht keine Talk-Show der anderen. Groebens interessanter Ansatz ist im übrigen so neu nicht. In der Geschichte der Ästhetik, auch und gerade für den Bereich der menschlichen Rede, gab es immer wieder Ansätze, die, etwa bei Gustav Theodor Fechner, danach fragten, was der 'gemeine Mann' denn unter 'Schönheit' versteht. Im vorliegenden Fall wäre wohl zunächst eher nach kommunikativer Angemessenheit zu fragen, mit anderen Worten: Weshalb schreit das hier versammelte Volk bei einem derartig übel angelegten Imageangriff nicht auf? Legt es die 'Moderation' vielleicht durch Hochputschen der Gefühle gerade auf schwerwiegende Imageangriffe an? Inwiefern ist in diesem Zusammenhang das Urteil der Zuschauer noch autonom und nicht durch die Situation 'übersteuert'? Sehr schnell sind wir dabei natürlich bei medienethischen Fragen angelangt: Wo finden die "selbsternannten Therapeuten"(6) ihre Grenzen, wo liegen ihre Verdienste? Bedienen sie nicht doch, wie Sandra Schaefer(7) erst kürzlich in einer bahnbrechenden medienpädagogischen Diplomarbeit dargelegt hat, inzwischen handfeste soziale Bedürfnisse - nach zwischenmenschlicher Beziehung, sozialer Anerkennung und Wiedererkennen im anderen? Keinesfalls kommt die sozial unterprivilegierte Klientel so schlecht weg, wie eine Studentin unlängst vermutete. Einerseits stellen sich z.B. Menschen offen dar, die auf 'unehrliche' Weise ihr Geld verdienen, andererseits werden letzte Tabus auch im positiven Sinne gebrochen, etwa, wenn sich Prostituierte als Mütter ( "Ich bin Hure und habe ein Kind") darstellen können. Ob sich die 'Selbst-Geouteten' danach besser fühlen, ist allerdings zu fragen.
Wie es dabei um unsere ethischen Positionen bestellt ist, kann nur im Sinne möglicher Reaktionen ausgelotet werden. Wo haben wir uns, vielleicht mit irgendeiner kommunikativen Ethik (sei es das Habermassche Konsensmodell oder einfach nur dem Menschen als 'Gesprächspartner', ja vielleicht sogar als 'Ebenbild Gottes') im Hinterkopf ausgestattet, eigentlich als Zuschauer wie als wissenschaftliche Beobachter 'einzuschalten'? Dabei eröffnen sich erneut Fragen: Ist die Neigung zu destruktiven Gesprächstaktiken und radikalen Imageangriffen eine Sache der 'Volkstalks' oder finden wir sie auf allen 'Stufungen' des Genres - und, falls dies so ist, wie gehen wir tatsächlich in der Seh-Praxis damit um?
Sind die Tendenzen zum 'Auflaufenlassen', zum "Aus-dem Gleichgewicht-bringen", also Imageschädigungen auf der rhetorisch-gesprächstaktischen Ebene, wie sie gerade in intellektuell hochkarätigen Argumentations-Talks vorkommen, nicht ebenso bedenklich wie der unverstellte Imageangriff auf personalem Hintergrund?
Wird die Lust am Niedermachen des anderen - siehe die unzähligen, sozialwissenschaftlich mehr oder weniger begründeten Berichte zum Thema "Mobbing" - inzwischen nicht auch quer durch alle Bevölkerungsschichten hindurch - durch das Medium mit herausgefordert? - ausagiert?
Die Frage, ob es dabei interkulturelle Verschiedenheiten gibt, hat die finnische Linguistin Liisa Tiittula auf dem IDS-Sprachkongreß 1995 aufgeworfen, offensichtlich geht es bei den Finnen in der TV-Rede (noch) nicht so scharf zur Sache wie bei uns. Andererseits scheinen 'political correctness' und 'Kommunitarismus' in Amerika für eine Entschärfung und damit Aufwertung des Talk-Show-Genres gesorgt zu haben. Um die Gerüchte gegen ihren Mann zu widerlegen, geht Hillary Clinton auf die wichtigste offizielle Bühne, wo die Gerüchte gehandelt werden, nämlich auf die einer Talk-Show.


III. Talkshows, Ethik und medienpädagogische Praxis

Was fangen wir mit den beobachteten Verhältnissen als Sozialarbeiter, Medienpädagogen und auch Lehrer in der Medien- und Kommunikationspraxis an?
Wir können Menschen aller Altersgruppen, Jugendliche wie Senioren, vor eine 'Talk-Show' setzen und mit einigem Vergnügen oder Mißvergnügen zusammen mit ihnen kommunikationstheoretische Grundlagen erarbeiten, die ihnen auch im Alltag nützen. Die Beurteilungen sind, haben wir sie im mäeutischen Dialog über das Medium erst einmal erarbeitet, durchaus von einiger Schlüssigkeit. Wir scheinen - und dies berechtigt zur Hoffnung, dass unsere Kommunikationsrealität von der Medienflut und ihren Moden zwar berührt, aber doch nicht im Kern getroffen wird - über einem verschüttete, unterschwellig aber doch vorhandene natürliche Einschätzungsskala zu verfügen, was grobe Imageverletzungen und kommunikative Angemessenheit betrifft. Diese ist allerdings beziehungs-, einstellungs- und situationsgebunden. Was in der einen Gemeinschaft unter bestimmten Gegebenheiten als gelungenes Bonmot gelten mag, verfällt in einer anderen eventuell einer Mobbingintention.
Langfristig entbindet uns jedoch niemand und nichts von der wissenschaftlichen und medienethischen Aufgabe, für die verschiedenen Erscheinungsformen der Multimedia-Apparate brauchbare ethische Ansätze zu finden. Das gilt für die anonyme Intimität der Chat-Räume wie für "Talk-Shows" und die oftmals sensationsorintierte Berichterstattung der 'Privaten'. Mit bloß normativen oder deontologischen, also bloßen Pflicht-Ethiken, scheint es dabei nicht zu gehen. Das bedeutet, Talkshows, das in ihnen gezeigte Kommunikationsverhalten und die Gesprächsstile, die in ihnen erscheinen, als Redeanlässe mit den Rezipienten zu nutzen, ohne allzu penetrant formulierte medienpädagogische Ziele damit realisieren zu wollen. Ob hier kommunikationsethische Grundsätze, die Grice hinsichtlich der Quantität (Sei so informativ wie nötig!), Qualität (Sage nichts, was du für falsch hältst/wofür dir angemessene Gründe fehlen!), der Relevanz und der Modalität der Kommunikation (Vermeide Mehrdeutigkeit und 'Dunkelheit'!) aufgestellt hat, ausreichen, ist fraglich. Sie wären sicher zu ergänzen durch (von Institutionen/über Ehrenkodexe) zu definierende Regeln hinsichtlich des Gebrauchs von Imageangriffen. Wann und in welchem Ausmaß sind Imageangriffe statthaft, wann nicht? Rainer Wimmer hat, diesen Punkt miteinschließend, formuliert: "Jemandes Sprachgebrauch ist reflektiert, wenn dieser Jemand in der Lage ist, in relevanten Situationen die Regeln seines eigenen Sprachgebrauchs unter kommunikationsethischen Gesichtspunkten zur Diskussion zu stellen."(8) Dies zumindest wäre - durch aus nicht in unverbindlicher Weise - von einem Talk-Show-Moderator/einer Moderatorin zu fordern. Nur, wo sind die Institutionen, Zuschauer, 'Beobachter', die sie/ihn ggf. dazu bringen?
Elmar Kos hat kürzlich die Vision einer an "Integration und kommunikativer Kompetenz orientierten theologischen Medienethik"(9) entworfen - die jedoch durch uns als 'Beobachter' mit möglicherweise durchaus verschiedenen kommunikationsethischen Positionen, welche sich 'einmischen' müßten, noch zu erarbeiten sein wird. Brauchen wir nicht doch, wenn die Möglichkeiten des Habermasschen Diskurses zu Ende sind oder in bekannte unauflösbare Aporien einmünden, die Rückbesinnung auf christlich-humanistische Werte?
Dabei wäre von den Medien selbst immer wieder ein Rekurs auf Integratives zu fordern. Dies könnte in einer Selbstverpflichtung bestehen, Imageangriffe der genannten Tragweite nicht zu zeigen, auch wenn dadurch das Medium 'langweiliger' wirkt, oder aber, wenn sie gezeigt werden, mit Hilfe der Kritik irgendeines metakommunikativ wirkenden Hintergrundes, etwa durch ein Forum kommunikationswissenschaftlich besser ausgebildeter Zuschauer?
Christian Doelker(10) hat jenseits der bloßen Textebene in einem Stufenmodell gefordert, daß Zuschauer Bildtexte angemessen decodieren lernen, ja darüber hinaus müssen wir schon Kindern und Jugendlichen beibringen, so Heinz Moser, wie wir Inszenierungen der von den Medien geschaffenen 'Gesamtkunstwerke' 'lesen' können. In einem doppelt integrativen Ansatz - die Medien selbst müssen aufgrund ihres historischen medienpädagogischen Eigendefizits dabei mehr leisten als bisher, aber auch fächerübergreifende Ansätze in den verschiedensten pädagogischen Institutionen und Wirkungsstätten müssen entwickelt werden - hätten wir zunächst handlungsorientierte Modelle für eine stufenweise Ausbildung kompetenter 'Nutzer' von Medien zu entwickeln. Ein solches Modell müßte für die zappende Zehnjährige ebenso tauglich sein wie für den 'Fiege-liebenden' Senior. Von der Medienforschung dürfen wir dabei nur auf flankierende Hilfestellung hoffen, und den souverän-'emanzipierten' Medien-Glasperlen-Spieler können wir uns in der momentanen Situation nur als Idealbild vorstellen. Schon Jugendliche, die den Angeboten der Medien standhalten und eingermaßen sinnvoll damit umgehen können, wären, wenn sie im Rahmen einer 'medien-kompensatorischen' Sprachförderung geschult würden, Beispiele erfolgreichen medienpädagogischen Handelns. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Wir werden über konkrete medienpädagogische Projekte und kommunikationsästhetische Ansätze nachzudenken haben, die schnell gesellschaftlich wirksam werden müssen.



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