Angelika Voigt und Stefanía Voigt

Der Spiegel als Medium

Die Faszination, die Spiegel ausüben, ist begründet durch ihre Fähigkeit, uns ein Bild von uns selbst zu liefern. Diese und andere Eigenschaften haben sie mit anderen Medien gemein. Spiegel können in anderen Medien intermediale Bezüge schaffen. Spiegel zeigen uns, wie wir mit den Medien umgehen. Die beiden Beispiele, die in diesem Zusammenhang untersucht werden, sind das Musikvideo zu Christina Aguileras Beautiful und Diego Velásquez’ Gemälde Las Meninas. Trotz ihrer offensichtlichen thematischen Unterschiede weisen sie in der Funktion des Spiegels überraschend ähnliche Ergebnisse auf: In beiden Werken stellt der Spiegel den Mittelpunkt dar, indem er Kategorien eröffnet, die ohne ihn nicht erkennbar wären: In Beautiful die der Selbstbewertung und in Las Meninas die der Repräsentation. Auf der medialen Ebene ziehen sie den Betrachter zunächst in ihren medialen Raum hinein, um ihn dann auf sich selbst und seine eigene Wahrnehmung zurückzuwerfen.


Der Spiegel führt uns den menschlichen Umgang mit Medien vor Augen. Medien wie Fotografie, Malerei, auch Film und Literatur sind gerade auch Mittel der Identitätssuche. Ein weiteres derartiges Mittel ist der Spiegel bzw. das Motiv des Spiegels. Angepasst an die jeweilige aktuelle Weltsicht taucht in der Geschichte der Künste immer wieder dieses Spiegelmotiv auf, und meistens wird der Spiegel dabei gar nicht als optisches Instrument thematisiert, sondern es geht vor allem um das, was der Spiegel spiegelt – um den sich selbst beobachtenden Beobachter.

Zwei exemplarische Analysen sollen in der Folge zeigen, welche Rolle die Medien spielen und welche Funktion der Spiegel darin übernimmt. Damit die Allgemeingültigkeit unserer Überlegungen gewährleistet ist, haben wir Beispiele von Medien gewählt, die sich möglichst weitgehend voneinander unterscheiden: Die neuen, noch eher selten analysierten Medien sind vertreten durch den Musikvideoclip zu Christina Aguileras Beautiful, in dem diverse Spiegel jeweils eine prominente Rolle spielen. Und als klassisches Beispiel, das eine jahrhundertelange Faszination vorweisen kann, untersuchen wir Velásquez' berühmtes Gemälde Las Meninas und die Rolle des Spiegels, den Velásquez in dieses Bild hinein gemalt hat. Durch die bewusste Wahl der beiden Analysegegenstände soll gezeigt werden, dass es sich bei unseren Ergebnissen zur Rolle des Spiegels in den Medien nicht nur um Einzelphänomene handelt, sondern um ein grundsätzliches Konzept des Spiegels, dessen Präsenz sich nicht auf eine bestimmte Epoche beschränken lässt.

Spiegel waren noch nie einfach nur Flächen, in denen wir uns sehen können. Die verschiedenen Ausformungen des Spiegelmotivs werden in der Forschungsliteratur vielmehr mit Begriffen wie Narzissmus, Doppelgängermotiv, Innenschau, Ich-Zerfall oder Ich-Verzerrung, Wunschprojektionen und Enthüllungen des bisher Unsichtbaren umschrieben. Der Spiegel kann selbst als Medium betrachtet werden bzw. das Spiegelmotiv als intermediale Darstellung eines Mediums in einem anderen Medium. Denn wie alle Medien zeigt auch der Spiegel dem jeweiligen Nutzer etwas über eben diesen Nutzer selbst, was er ansonsten nicht hätte sehen können. Wie alle Medien ist auch der Spiegel zunächst einmal leer, zeigt nichts aus sich selbst heraus. Der Spiegel täuscht eine Repräsentation der Wirklichkeit immer nur vor: Spiegelbilder sind bekanntlich zweidimensional und seitenverkehrt. Wie alle Medien bietet auch der Spiegel uns ein Bild unserer selbst an, das wir dann interpretieren können.

Videoclip zu Beautiful von Christina Aguilera (1)

Christina Aguilera befindet sich in der Ecke eines fast leeren Zimmers, das eher aussieht wie eine Bruchbude. Nur ein alter Sessel und ein Spiegel befinden sich noch darin. Christina sieht nur auf den ersten Blick verwahrlost, ‘ungestylt’ aus (barfuß, wirre Haare, weite Hosen); genauer besehen, erweist sie sich dann doch als perfekt geschminkt und sogar ihr ‘Hinlümmeln’ ist sorgfältig arrangiert.

Im Video treten mehrfach die gleichen Figuren auf, die jeweils – einigermaßen stereotyp – verschiedene Außenseiterfiguren repräsentieren sollen. So ist immer wieder ein homosexuelles Pärchen zu sehen: Zwei Männer, die sich auf der Straße oder auf einer Parkbank sitzend küssen. Passanten gehen vorbei und schauen angewidert weg. – Ein junger, ziemlich dürrer Mann liegt in seinem Zimmer in Unterwäsche auf dem Boden. Um sein Bett herum hängen dutzende von Fotos von Bodybuildern. Verbissen stemmt dieser junge Mann Gewichte, sieht dann in den Spiegel und kontrolliert – eher resigniert, wie viele starke Muskeln er mittlerweile hat bzw. eben nicht hat. – Ein Punk mit Piercings und hochgestylten Haaren nimmt Platz in einem Bus oder in einer Straßenbahn, woraufhin alle Leute um ihn herum aufstehen und sich demonstrativ auf andere Plätze setzen. – Eine Mulattin (auch sie in Unterwäsche) hockt vor einem Kaminfeuer und blättert in Modezeitschriften. Sie zerreißt die dort zu sehenden Fotos von weißen Frauen und verbrennt schließlich die ganze Zeitschrift. – Ein junges Mädchen mit einer ziemlich auffälligen Zahnspange wird von drei anderen Mädchen verprügelt. Mit Wunden im Gesicht sitzt dieses Mädchen danach an einem langen Tisch und weint. Als Zuschauer hat man das Gefühl, dieses Mädchen sehe uns an, und fast scheint es so, als blickten wir dabei selbst in einen Spiegel. – Der Videoclip zeigt einen Transvestiten, der in Slip und Strumpfhose in seinem Zimmer steht. Er zieht sich einen schwarzen BH an, behängt sich mit Ohrringen. Später kann man beobachten, dass er geschminkt ist und eine blonde Langhaarperücke trägt. Er kniet fast andächtig vor dem Spiegel, sieht sich lange an und streift schließlich ein gelbes Kleid über. – Des weiteren ist ein magersüchtiges Mädchen zu sehen, das (ebenfalls wie fast alle anderen: in Unterwäsche) auf ihrem Sofa sitzt. Das Mädchen ist wirklich extrem dünn und hat dunkle Ringe unter den Augen. Dann geht dieses Mädchen langsam auf einen Spiegel zu, zieht dabei ihren ohnehin kaum vorhandenen Bauch ein und befühlt den übrigen Körper mit den Händen.

Nachdem diese verschiedenen Figuren und Kurzgeschichten gezeigt worden sind, erfolgt ein deutlicher Einschnitt in dem Video: Christina steht auf und stellt sich nun selbst demonstrativ vor den Spiegel. Sie rauft sich die Haare und singt jetzt: „We are beautiful ...“. Christina unterstreicht ihre Worte mit anmutigen Bewegungen, dreht sich aber (merkwürdigerweise) schließlich doch wieder um und kauert sich wieder in ihre Ecke. Nun aber ändern alle übrigen Figuren ihr Verhalten: Das homosexuelle Pärchen lächelt sich verliebt an, auch der Punk fängt an zu lächeln, und auch der zarte Gewichtheber entspannt sich sichtlich. Das Mädchen mit der Zahnspange lächelt und spiegelt sich wohlgefällig in der Tischfläche. Auch die Mulattin fängt an zu lächeln und schließt zufrieden die Augen, genau wie der Transvestit, der jetzt ganz Frau sein darf; auch er lächelt sein eigenes Spiegelbild an. – Danach gibt es erneut eine Wende, die vielleicht bedeutsamste im ganzen Video: Die magersüchtige junge Frau zerschlägt den Spiegel in ihrem Zimmer mit der Faust – nun kann auch sie lächeln, vor dem zerbrochenen Spiegel. Während man zu Beginn des Videos noch eine verwelkte Sonnenblume sah, erscheint diese Blume jetzt strahlend frisch.

Es sind mehrere Funktionen, die der Spiegel in diesem Musikvideo erfüllt: Der Spiegel erzeugt eine Art ‘Schlüssellocheffekt’ (1); der Spiegel fungiert als Medium der Selbstbewertung (2); der Spiegel bietet eine Kritik der Medien (3); der Spiegel verhilft zur Einsicht in medientheoretische Botschaften (4).

Ad 1) Der Blick der Figuren in den Spiegel wird im vorliegenden Clip als intime Situation dargestellt, in der die in den Spiegel blickende Person mit sich selbst allein zu sein scheint. Dem Zuschauer wird indessen suggeriert, er habe das ‘Glück’, diese Situation heimlich beobachten zu können. So verfolgt der Zuschauer das Geschehen wie durch ein virtuelles Schlüsselloch. Die Anziehungskraft, die ein solcher ‘Schlüssellocheffekt’, der nur in den Medien so stattfinden kann, auf das Publikum auswirkt, ist enorm: Vor dem Spiegel ist gleichsam jede Person ‘nackt’; man sieht (fast) alles; die Unterwäsche, die in einigen Szenen eine durchaus ‘tragende’ Rolle spielt, verstärkt den Effekt dieser Nacktheit eher noch.

Ad 2) Selbstbewertend sehen die Zuschauer die Figuren des Videos als mögliche Spiegelbilder ihrer selbst. Und wohl in jedem Zuschauer steckt eine gewisse Angst, man selbst könne einer von den ‘Hässlichen’ sein. Genau diese Involviertheit des Zuschauers macht sich das Video zu Nutze: Es setzt diverse Typen und Stereotypen ein, um damit leichter eine Identifikation bei den Zuschauern hervorrufen zu können. Vor allem spielt das Video mit der Wut oder der Auflehnung, die der Zwang, den propagierten Schönheitsidealen entsprechen zu müssen, bei verschiedenen Zuschauergruppen auslösen wird.

Ad 3) Der Spiegel fungiert als eine Art von Gegen-Medium zu jenen meinungsbildenden Massenmedien, die durchaus fragwürdige Schönheitsideale verbreiten. Im vorliegenden Video kann sich der Zuschauer auch mit den eher nicht-schönen Figuren identifizieren. Natürlich ist dieses Video für eine bestimmte Zielgruppe konzipiert: Potenzielle Käufer des Produkts "Christina Aguilera" sind in diesem Fall wohl vor allem Menschen, die sich in der Gesellschaft als Außenseiter fühlen und solche Jugendliche, die sich in einer typisch pubertären Identitätskrise befinden und daher kaum mit ihrem Bild von sich selbst zufrieden sein werden.

Allgemein verbreitete Schönheitsideale werden im Video zumindest vordergründig kritisiert. Die Aussage lautet (wie auch im Songtext): "Hör nicht auf das, was die anderen sagen. Du musst dich selbst akzeptieren!" Der Spiegel könnte also ein eigenes kritisches Urteil anregen. Wir sollen die angebotenen Bilder nach unseren eigenen Maßstäben interpretieren. Aber natürlich passiert genau das letztlich dann doch nicht. Wir kommen nicht an den gängigen Idealen, die uns die Medien vorsetzen, vorbei – schließlich bleibt Christina Aguilera dominant und schön. Christina erscheint unverkennbar als die einzige, die dem gängigen, durch die Medien propagierten Schönheitsideal entspricht. Sie ist gestylt von Kopf bis Fuß, während alle anderen Figuren des Videos, übertrieben, sogar unrealistisch hässlich sind. Das Video will also doch, wie so viele andere Musikvideos auch, wieder einmal – die Hässlichen zwar tröstend – nur eine schöne Sängerin verkaufen. Die anderen Figuren des Videos sollen sich zwar auch schön finden (im Spiegel), aber hauptsächlich wird deutlich, dass am Ende doch immer nur die Schönheit der Sängerin zählt. Christina ist eben doch nicht, wie dem Zuschauer vordergründig vorgegaukelt wird, der Engel der ‘Hässlichen’, ganz im Gegenteil: Sie wird durch den Kontrast zu den anderen Figuren schließlich nur noch schöner. Die unterschwellige Botschaft lautet also: Christina hat zwar die gleichen Probleme wie ihr, aber sie unterscheidet sich von euch, dadurch, dass ihr ihr nacheifern könnt.

Ad 4) Der Spiegel hat noch eine weitere, vielleicht sogar die wichtigste Funktion in diesem Video: Er fungiert – zwar nicht auf den ersten Blick erkennbar, aber auf den zweiten Blick gewiss – als Medium der Verkündung einer medientheoretischen Botschaft: Dieses Video zu sehen, bedeutet, eine mediale Verkettung zu erleben. In diesem Video führt uns der darin vorkommende Spiegel vor Augen, was wir mit Medien und Spiegeln eigentlich machen, nämlich eine Subjekterfahrung, nämlich uns selbst hineinprojizieren in das, was wir sehen. Weiter verhilft der Spiegel zu einem sozialen Zusammenhang: Der Spiegel erscheint als Verbindungs-Medium zwischen Christina, den anderen Figuren und uns selbst. Wir alle befinden uns in getrennten Räumen, aber gemeinsam ist uns der bedeutsame Blick in den Spiegel. Erst als Christina selbst in den Spiegel sieht, singt sie "We are beautiful!" Es scheint so, als könnten die Figuren im Clip über den Spiegel miteinander kommunizieren – und wir eben auch mit ihnen.

Die Rolle des Spiegels in Las Meninas

In Diego Velásquez' Meisterwerk von 1656 Die Familie Philipps IV. oder Las Meninas (2) sind die besagten Meninas, die 'kleinen Mädchen', zu sehen: die Infantin Margarita und ihre Spielgefährtinnen. Sie befinden sich in einem großen Raum mit dem Maler selbst, der neben seiner, dem Betrachter mit der Rückseite zugekehrten Leinwand steht. Er ist sichtlich dabei, ein Modell zu porträtieren, das sich außerhalb des Bildraums, d. h. unsichtbar, genau an der Stelle befindet, wo der Betrachter des Bildes steht – so als wären wir selbst die Porträtierten. Das ‘tatsächliche’ Modell wäre gar nicht auszumachen, wenn sich nicht ein Spiegel im Bildhintergrund befände, der wohl das zu porträtierende Paar reflektiert: das Königspaar Philipp IV. und seine Frau Maria Anna. (3) Daraus ergibt sich ein bemerkenswerter Sachverhalt: Die Positionen von Modell, Maler (der sein Bild komponiert) und Betrachter des Bildes befinden sich am gleichen (gedachten) Ort: direkt vor dem Bild. Was aber auf dem Bild im Bild dargestellt ist, bleibt dem Betrachter verborgen. Daraus ergeben sich verschiedene komplexe Zusammenhänge zwischen den verschieden Medien im Bild, dem Bild selbst und seinem Betrachter.

Dieses Gemälde gehört zu jenen großen Werken, die es schaffen, auf jeden Betrachter eine besondere Faszination auszuüben. Nicht zuletzt ist dies aus der Jahrhunderte währenden Diskussion um das Rätsel von Las Meninas ersichtlich. (4) Das Gemälde zieht einen in seinen Bann, und nicht nur das, es zieht den Betrachter in sein ‘eigenes Inneres’, in das Geschehen des Bildes, hinein. Durch die besondere Komposition hat der Betrachter, wie gesagt, das Gefühl, selbst das Modell des Malers im Bild und damit auch Gegenstand der verdeckten Leinwand und zugleich Zentrum des Blickes der restlichen dargestellten Personen zu sein. Der Betrachter wird zum Betrachteten. Er steht in seiner Vorstellung auf einmal mitten in dem dargestellten Raum. Wieder tritt das Ereignis ein, das allen medialen Spiegel-Erfahrungen gemein ist: Der Konsument projiziert sich selbst in das Medium hinein.

Doch diese Projektion des Selbst in das dargestellte Geschehen wird schnell wieder durchbrochen, denn eigentlich müsste sich der Betrachter selbst im Spiegel im Bildhintergrund (wenn es sich denn um einen realen Spiegel handeln würde) sehen können. Außerdem müsste sich in diesem Fall auch das Königspaar vor oder hinter dem Betrachter befinden. Beides findet aber nicht statt. Denn die Repräsentation eines Spiegels kann ja nicht spiegeln, was sich außerhalb des repräsentierten Raumes befindet. Dadurch kommt dem Spiegel eine ähnliche Funktion wie im Beautiful-Video von Christina Aguilera zu: Er macht dem Betrachter seinen selbstreflektierenden Umgang mit den Medien bewusst und zeigt ihm, dass es sich eben doch nur um eine, freilich äußerst reizvolle, Projektion gehandelt hat. Der Spiegel entlarvt das Bild als Repräsentation. Der Betrachter, dem das bewusst wird, wird auf sich selbst zurückgeworfen und er erkennt das Medium wieder als Medium. Eine unbewusste Subjekterfahrung / Identifikation / Selbstprojektion ist damit nicht mehr möglich, weil dem Medium die Verwechselbarkeit von Fiktion und Realität genommen ist. Damit zeigt sich, dass der Spiegel als Medium im Medium dieses als solches entlarvt und ihm mit der Eliminierung der konstitutiven Elemente (Subjekterfahrung / Verwechselbarkeit von Fiktion und Realität) die Fähigkeit zur medialen Erfahrung raubt. Der Prozess der medialen Erfahrung des Betrachters kehrt sich um – er spiegelt sich sinnbildlich –: Der Beobachter hat das Medium betrachtet und sich selbst darin gesehen, stößt dann aber auf den Spiegel im Medium und wird wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Dieser Prozess gilt für beide untersuchten Beispiele, für Las Meninas und für den Musikvideoclip zu Beautiful. Die Möglichkeit einer Anwesenheit des Betrachters im Bild selbst bleibt aber nur dann erhalten, wenn die dargestellte Leinwand zugleich verdeckt bleibt.

Natürlich gibt es Beispiele, in denen andere Medien auch diese allgemeine Spiegel-Funktion haben, etwa das ‘Spiel im Spiel’ in Hamlet oder auch in den neueren Medien, in einem Film wie Die fabelhafte Welt der Amélie; hier führen uns die Medien regelrecht abwechselnd in den Film hinein und wieder aus ihm heraus. Die Faszination von Medien geht dadurch aber nicht verloren, sie wird sogar verstärkt.

Wir können uns den Medien schwerlich entziehen, und schon gar nicht, wenn Spiegelfunktionen darin vorkommen. In Las Meninas macht der Spiegel die Diskussion um die gemeinsame Position von Maler, Modell und Betrachter erst möglich. Existierte er nicht, wäre das Bild um eine Stufe der Interpretation ärmer. Das, was der Spiegel hier schafft, ist die Möglichkeit der Identifikation des Betrachters mit dem Königspaar, durch das ‘gemeinsame’ Modellstehen. Der Zuschauer sieht sich imaginär mit den Augen des Königspaares, er projiziert sich in sie hinein, so wie er sich in die Figuren im Christina-Aguilera-Video hineinversetzt. Hier zeigt sich die Doppelfunktion des Spiegels: Zuerst ermöglicht der Spiegel dem Betrachter eine Projektion und Subjekterfahrung, aber dann führt er dem Betrachter genau das vor Augen, in dem er als Medium im Medium auf die Konstruktionsprinzipien des jeweiligen Mediums aufmerksam macht.

Der Spiegel als Medium spielt mit der Identität und Subjekterfahrung des Betrachters, weil er einer Eins-zu-Eins-Repräsentation von allen Medien am nächsten kommt – nicht zuletzt dadurch, dass er, im Gegensatz zu anderen Medien, alles zwar zeitgleich reflektiert, aber trotzdem am allerwenigsten ‘wertfrei’ ist. Man beurteilt sich selbst, man vergleicht das eigene Spiegelbild (wie im Beautiful-Video).

 

Fussnoten

1. Ackerlund, Jonas (Regie): Videoclip zu Christina Aguilera: Beautiful, 2003. (zurück)

2. Velásquez, Diego: Die Familie Philipps IV. oder Las Meninas (1656) Fragment. Öl auf Leinwand, 318 x 276 cm (Prado, Madrid), Bild entnommen aus: Rogelio Buendia, J.: Begegnung mit dem Prado. übers. von Ursula Gaske, Madrid 1977, S. 223. (zurück)

3. Obwohl dies die wahrscheinlichste Lösung für das Rätsel des unsichtbaren Modells ist, ist diese Frage in der Forschung, die sich mit diesem Werk befasst, höchst umstritten. Alternative Antworten auf die Frage der Identität des Modells lauten: (1) die Infantin selbst, die schon in den Meninas den Bildvordergrund dominiert. Oder (2) genau das Bild Meninas, was auch durch die ungefähre Übereinstimmung in den geschätzten Größenangaben von den Meninas und der Leinwand im Bild gestützt würde. (3) Diese Alternative hat eine weitere Ausprägung in der Spiegeltheorie; das reale Gemälde zeigt einen Spiegel, dessen Spiegelung gerade abgemalt wird, so dass wir das fertige Produkt jener Projektion sehen, die gespiegelt abgebildet wird. Diese Variante [...] [erklärt den Spiegel im Hintergrund], indem sie die Spiegelfunktion dieses Spiegels in Abrede stellt [...] (4) und schließlich lautet eine letzte Antwort: Alles oder nichts, die aus dem Bild einen Joker bzw. ein Zauberbild macht, das alles zeigt, was immer darauf projiziert wird. [...] Kein Vorschlag kann alle Rätsel des Bildes lösen.
Cf. Jahraus, Oliver: "Im Spiegel: Subjekt – Zeichen – Medium: Stationen einer Auseinandersetzung mit Velásquez' Las Meninas als Beitrag zu einem performativen Medienbegriff", in Greber, Erika und Roger Lüdeke (Hrsg.): Intermedium Literatur: Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft. Göttingen: Wallstein Verlag, 2004. (zurück)

4. Ibid. (zurück)


Verfasser: Angelika Voigt und Stefanía Voigt, veröffentlicht am 13.05.2005

   
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