Konstruktivismus, Literaturtheorie |
Bernd Scheffer Interpretation und Lebensroman Zuerst Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1992 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1028) vergriffen Hier einsehbar: Inhaltsverzeichnis
und Vorwort. Der gesamte Text steht zum Download als *.pdf
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INHALT
KAPITEL 1: EINFÜHRUNG, ÜBERSICHT 11 1.1 Individuum, psychisches System 13 KAPITEL 2: DIE HALLUZINATORIK VON WELT UND VON LITERATUR 57 2.1 Halluzinatorik 66 1. ZWISCHENSPIEL: LITERATUR,
FERNSEHEN, KAPITEL 3: ENDLOS AUTOBIOGRAPHISCHE TÄTIGKEIT DER WAHRNEHMUNG 167 3.1 "Leser" - die Lebensromane
der anderen 186 3. ZWISCHENSPIEL: "VASALLENSAFT".
DIE EINZIG TEXTADÄQUATE INTERPRETATION IST DAS ZITAT1 253 KAPITEL 4: INTERPRETATION UND ESSAY 266 4.1 Essay 276 ANMERKUNGEN
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Vorwort Wie lassen sich veränderte Handlungsmöglichkeiten für den Umgang mit Literatur vorschlagen? Wie entwirft man, ausgehend von „konstruktivistischen“ Grundannahmen, Kunst und darin vor allem Literatur, damit sie neuerlich folgenreich erscheinen? Der in weiten Teilen der Kunst- und Literaturtheorie zu beobachtende strikte Gegensatz von Kunst und Wirklichkeit löst sich zunehmend auf zugunsten von neuen Möglichkeiten für die Produktion und Rezeption von Kunst und Literatur: Kunst und Literatur werden jetzt weniger als emphatische Gegenentwürfe, als utopische Korrektive, als großartige Mythen, nicht als phantastische Entschädigungen für fundamentale Mängel verstanden, sondern als selbstverständliche, alltägliche Demonstrationen der Irritation und (Neu-)Konstruktion von Wirklichkeit. Relationen des gegenseitigen komplexen Einflusses wie etwa Verzögerungen und Beschleunigungen spielen in antagonistischen Modellen von Kunst und Wirklichkeit eine zu geringe Rolle. Im Verlauf dieses Buches geht es auch um die Überlegung, was in der Auseinandersetzung mit Literatur, was in bestimmten Arbeits- und Lebensformen zu gewinnen oder zu verlieren ist, wenn man das notwendige Sprechen über Literatur verändert darstellt, wenn man vor allem „Interpretation“ anders als bislang konzipiert, wenn man zunächst vor allem die Parallelität von Wahrnehmung und Interpretation betont. „Interpretatinen“ werden hier verstanden als Beschreibungen von Wirklichkeit; neuartige, veränderte „Interpretationen“ als sprachliche (und metasprachliche) Ablösungen von den gängigen Beschreibungen, mit denen vorherrschede Wirklichkeit aufrecht erhalten wird, ergeben die Anstoß-Bedingung jeglicher Veränderung; Kunst und Literatur erinnern an diese Ablösungsmöglichkeit, aber sie vollziehen sie keineswegs exklusiv: Sprachliche Ablösung gibt es in allen Bereichen, in denen Wandel vorstellbar ist. Sprache und Sprachgebrauch, jedenfalls so wie sie hier verstanden werden, implizieren von vornherein, dass es so viele Beschreibungen der „Dinge“, der „Verhältnisse“ gibt, wie es Individuen gibt, die solche Beschreibungen anfertigen. Damit ist die Situation der „Abweichung“ von anderen Beschreibungen und von den Beschreibungen der anderen von Anfang an gegeben. Sprachgebrauch führt also nicht nur zur Aufrechtehaltung sozialer Wirklichkeiten, sondern gewährleistet stets auch jene attraktive und bedeutsame Instabilität, die eine individuelle sprachliche Ablösung als Vorbedingung des Wandels überhaupt erst ermöglicht. Der Umgang mit literarischen Texten, auch der professionelle Umgang ist freier, zugleich aber auch weit weniger „privat“, weit weniger „subjektiv“ als dies zumeist dargestellt wird. In der literaturwissenschaftlichen Theorie- und Methoden-Diskussion der letzten beiden Jahrzehnte lässt sich zwar eine gewisse, aber gleichwohl doch zögerliche Entsubstantialsierung solcher Kategorien wie „Autor“, „Werk“, „Leser“, „Sinn“, „Geschichte“ beobachten. Demgegenüber betrifft hier der Vorschlag eine Forcierung: Aufgrund der Eigenschaften seines Wahrnehmungssystems versteht jeder Mensch „einen Text“ notwendigerweise anders; die jeweiligen Unterschiede sind alles andere als peripher; eine für alle ähnliche „Text-Konstruktion“ erklärt allenfalls Bruchteile des jeweils produzierten Gesamtresultats einer Lektüre. Das „Verstehen“ von Texten erscheint in konstruktivistischer Perspektive nicht mehr als eine, wie auch immer geartete Bedeutungs-„Entnahme“, sondern von Anfang an als Bedeutungs-Zuschreibung. Selbst das, was wir als „Steuerfunktion“ des Textes zu erkennen meinen, selbst die Stopp-Regeln, die uns vor allzu absurden Interpretationen zu bewahren scheinen, sind Teile des Zuschreibungs-Prozesses. Nur wenn die Bedeutungen den Texten tatsächlich immanent wären, gäbe es kein Problem des „individuellen Lesers“. Das freilich soll wiederum nicht heißen, die „Welt“ und die „Literatur“ seien „zentral“ aus nur einem „Kopf“ zu erfassen. Mittlerweile gibt es in der Literaturwissenschaft zwar vielfältige (auch einige konstruktivistische bzw. systemtheoretische) Erklärungen, wie Produktion und Rezeption von Literatur als historische und gesellschaftliche Phänomene zu denken wären, man hat aber keine genauere Vorstellung davon, was beim Schreiben und Lesen von Literatur im eigenen „Kopf“ und gerade auch in den „Köpfen“ der anderen (der Autoren, der Leser) vorzugehen scheint. Wo befinden sich und wie befinden sich Leser in der Phase der Lektüre? Sie sind nicht Autoren oder Protagonisten, sie identifizieren sich strenggenommen auch nicht mit ihnen; Leser führen keine Gesamt-Regie, sie sind aber auch nicht „draußen“. Wie aber sind sie „drinnen“ oder „dabei“? Die Frage nach den „psychischen Systemen“, nach dem mentalen Ort bzw. nach den kognitiven und vor allem auch emotionalen Prozessen ist weitgehend unbeantwortet geblieben. Auf folgende Fragen sollen Antworten erprobt werden: Mit welcher Begründung bezweifelt man den herkömmlichen Gegensatz von Kunst und Wirklichkeit? Wie hebt man die verstärkte Bedeutung des Essays anlässlich der Interpretation von Literatur hervor? Worauf stützt sich die These, dass sich gesellschaftlicher Wandel überhaupt nur als kultureller Wandel vollzieht und dass der Anstoß trotz Systemdifferenz individuell erfolgt? Was bedeutet in diesem Zusammenhang „Halluzinatorik“, Sonder-Beobachtung und „endlos autobiographische Tätigkeit der Wahrnehmung“? Konstruktivistisch und kognitions-psychologisch gewonnene Kommunikations-, Sprach- und Interventionsmodelle bieten eine bislang kaum bekannte Möglichkeit, begrenzte Einflussmöglichkeiten, Eigenwilligkeiten, Missverständnisse, Resistenzen und Unabhängigkeiten gerade auch bei der Produktion und Rezeption von Literatur zu erklären. Auch der „Gegenstand“ eines Fachs und die Methoden seiner Hevorbringung lassen sich im Zuge kulturellen Wandels verändern. Literaturwissenschaft und Literaturkritik können sich verstärkt mit den Mustern der Wirklichkeitserzeugung und Wirklichkeitsgestaltung befassen, mit Beschreibungen, mit Konstruktionsregeln - im Eingeständnis, dass diese Beschreibungen, diese veränderten Unterscheidungen und die ihnen folgenden Meta-Beschreibungen ihrerseits dem üblichen Kulturverbrauch (mit allen Implikationen der Vernutzung) unterliegen. Ich versuche, eine solche Art der Auseinandersetzung mit Literatur zu entwerfen, die ich gerne leben möchte. Erhebliche Zweifel, nicht zuletzt am eigenen professionellen Umgang mit Literatur haben mich dazu gebracht, nicht weiter nur auf die Vermehrung konventioneller Untadeligkeit zu setzen, sondern gerade auch auf die sicher schleppende, zögernde Erarbeitung neuer Risiken, etwa auf das Risiko, wieder „psychische Systeme“, wieder Individualität ins Spiel zu bringen. Dass dieser Versuch, Risiken zu erarbeiten, auch auf denjenigen zurückschlagen kann, der sie hervorbringen möchte, ist nur konsequent. Entscheidungen für Themen und Verfahrensweisen sind nicht vollständig rational zu vermitteln: Es sind eben auch persönliche Lebensentwürfe; gesellschaftlicher Wandel, Kritik, Essay und vor allem die Konstruktivität von Erkenntnis und Wirklichkeit sind für einige nun einmal das nötigste, was sie brauchen, oder das liebste, was sie haben. Immerhin ist diese Voreingenommenheit explizit gewährleistet. Für mich ist es attraktiv, auch auf die Gefahr der Selbsttäuschung hin, pathetisch zu glauben, Literatur könne dabei helfen, zu verstehen, dass die vorherrschende Wirklichkeit nur eine der möglichen Beschreibungen ist. Aber vielleicht ist dies gar keine Theorie-Abweichung, sondern bereits eine Folge der Individualitäts-Fiktion, auf die hin das Kunst- und Literatursystem angelegt zu sein scheint. Die Favorisierung essayistischer
Tätigkeit macht selbstverständlich noch keinen guten Essayisten,
aber andererseits gibt es natürlich auch keine Verpflichtung,
„Konstruktivismus“ ausschließlich im gängigen
Vokabular der Systemtheorien zu beschreiben. Ansatzweise habe ich
in den „Zwischenspielen“ eigene „essayistische“
Anwendungen versucht. Im vorliegenden Text habe ich zumeist darauf
verzichtet, zu trennen zwischen „Autorin“ und „Autor“,
zwischen „Leserin“ und „Leser“, zumal gerade
hier klar sein dürfte, dass die vorgelegten Überlegungen
nicht nur männliche Praxis oder deren Nachahmung implizieren. Download des gesamten Textes (415 Seiten) als pdf (ca. 3MB): Bernd Scheffer: "Interpretation und Lebensroman" |
Kontakt: redaktion@medienobservationen.de Veröffentlicht am 27.11.2003 |
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