Medienpassion, Medientheorie, Funktion von Medien


Reiner Matzker

Mediale Lebenssteigerungen - das Werther-Syndrom
Anmerkungen zu Bernd Scheffers „Medien als Passion“

Die Frage, warum Menschen seit jeher hinter den Medien her seien, verbindet sich analog betrachtet mit der medialen Bedeutung einer literarischen Figur, die nicht ohne Wirkung auf das Geistesleben ihrer Zeit und auch unserer Zeit geblieben ist - und dies nicht nur in der Hinsicht, dass der Erfolgsroman, in dem diese Figur in Erscheinung tritt, eine umstrittene „Flut“ der Selbstmordintentionen auslöste.



1. In die Liebe verliebt wie in die Medien ...

Werther wird in ganz Europa zur Identifikationsfigur von Menschen aus frühkapitalistischen Verhältnissen, die sich durch sein Schicksal unmittelbar selbst angesprochen fühlen. Sie fühlen sich angesprochen durch einen, so Georg Lukács, „außerordentlich differenzierten, innerlichen Menschen“, der ihnen ihre Problematik vorführt „in einer sehr komplizierten, tief in die Ideologie hineinreichenden Weise“. Werther übernimmt zumindest in diesem Sinne eine doppelte Aufgabe oder Funktion: Das empfindsame Subjekt erweist sich selbst als Repräsentant desselben. Diese Doppelfunktion des Ästhetikers, der an dem ästhetischen Zeitgeist scheitert, ein „schöner Verlierer“, zeichnet sich auch in seiner recht ungewöhnlichen Liebe aus. Es ist eine Liebe, die mit Blick auf die Ästhetik als eine besondere triebökonomische Variante zu verstehen ist, eine Liebe, die mehr als der Person der Liebe selbst gilt oder auch der „seelischen Emotion“, der Leidenschaft, der Passion.

Medien, sagt Bernd Scheffer, täuschten das Bewusstsein - ähnlich wie die Liebe - über seine Geschlossenheit, über seine Abgrenzung von der Welt und von der Welt anderer großartig hinweg (s. B.Scheffer). Ist das Bewusstsein, so wie es auf Medialität angewiesen ist, auch auf Täuschung angewiesen? Und ist diese Täuschung derart fundamental, dass man sagen kann: Medialität koppele Bewusstsein und Kommunikation derart, dass daraus das Subjekt hervorgehen kann? Kann das Subjekt wirklich als „Effekt von Medialität“ verstanden werden, wo nur die Ich-Konstruktion als ein medialer und semiotischer Prozess zu verstehen ist? Das Subjekt ist der ganze Mensch ...

Fraglos ist es etwas anderes, wenn der Liebende in die Liebe verliebt ist und nicht in die leibliche Person. Werther wird zum Liebenden par excellence, zum vollkommen einsam Liebenden. „Kein Geistlicher hat ihn begleitet“, lautet der letzte Satz des Romans, wie Roland Barthes hervorhebt: die Religion verdamme in Werther nicht nur den Selbstmörder, sondern vielleicht auch den Liebenden, den Utopisten, den Heruntergekommenen, der niemandem „verbunden“ ist als sich selbst. Werthers Liebe verkörpert die im ästhetischen Vollzug angelegte Distanzierung vom ästhetischen Objekt als dem Versuch der in diesem Objekt angelegten Emotionalität in Form der eigenen ästhetischen Emotion voll und ganz zu entsprechen. Das Scheitern dieses Versuches ist im Falle Werthers gleichermaßen als Scheitern gegenüber den gegebenen Verhältnissen zu betrachten, die sich noch in seiner Überspanntheit artikulieren, aber zugleich gerade dort konterkariert werden. Die in die Welteinsamkeit des Liebenden verlegte Problematik der Elementarisierung der einzelnen steht für die Verlagerung der kommunikativen und schließlich auch ästhetischen Prozesse in das monadisierte Subjekt, das nunmehr in sich selbst den Sinn, die Reaktion des anders liebenden Gegenübers aufzuspüren hofft und dem dabei nichts als sein Ausgeschlossensein ins Gedächtnis gerufen wird. Das Bild Werthers, so Barthes, wenn Albert sie um den schlanken Leib fasst, dieses Bild, in dem die Abwesenheit wie in einem Spiegel eingefangen werde, ist ein trauriges Bild.

Die Trauer des Bildes entspringt den Motiven des Liebenden im Bewusstsein der möglichen Lebenssteigerung, die allerdings im Falle Werthers immer wieder auf seine fast zum Prinzip erhobene „Abgrenzung“ verweist. Um den Preis des Ausgeschlossenwerdens bewahrt Werthers Emotionalität humanitäre Distanz. „Ich denke an Sie“, ist die Formulierung dieser Distanz gegenüber Lotte: „Welche Freude, an Sie zu denken!“ Werthers Liebe erfüllt sich in dieser Freude. Er fühlt sich ohne Lotte allein, selbst in „mondäner Gesellschaft“. Aber eben das ist das Opfer für die Distanz, in der sich seine Liebe erschöpft. Hier kann sie gelten, ohne zu verletzen, ohne die Verhältnisse aus den Fugen geraten zu lassen, selbst in der Eifersucht zunächst noch voller Distanz, so hat es Roland Barthes gedeutet. Werthers Eifersucht erwachse aus Bildern, wenn er Albert seinen Arm um Lottes Taille legen sieht, nicht aus dem Denken. Es handle sich, und das mache eine der Schönheiten des Buches aus, um eine tragische, nicht um eine psychologische Disposition. Werther hasse Albert nicht. Albert halte ganz einfach einen von ihm begehrten Platz besetzt. Er sei Widersacher, kein hassenswerter Feind. „Ich - ihr Mann! O Gott, der du mich machtest, wenn du mir diese Seligkeit bereitet hättest, mein ganzes Leben sollte ein anhaltendes Gebet sein“. Nach Barthes möchte Werther in das System „einbezogen“ werden, einen bereits besetzten Platz einnehmen, möchte nicht länger ausgeschlossen bleiben. Er will „Lebenssteigerung“, die Distanz aufheben, die ihm gleichermaßen die ästhetische Achtung des anderen gewährt wie die Möglichkeit der Einfühlung in dessen Emotionalität als Reaktion auf die eigene Liebe.


2. Das Mediale als das ziellos Imaginäre

Lotte, sagt Roland Barthes, sei durchaus reizlos, die dürftige Hauptfigur einer starken, aufwühlenden, funkelnden, vom Subjekt Werther ins Werk gesetzten Inszenierung. Das Subjekt liebe die Liebe, nicht das Objekt. Aber diese Annahme entbehrt der subtilen Dialektik, die sich aus dieser Inszenierung ergibt. Was sich Lotte nicht anmerken lässt, ist das eigentliche Produkt des in die Liebe Verliebten, das sie nicht einfach lediglich als eine „dicke, reglose, in ihr Federkleid geplusterte Taube“ erscheinen lässt, um die „ein etwas närrisches Männchen balzt“ (Barthes). Lotte ist reglos nur in dem Sinne, dass sie fleißig ihr pragmatisches Programm erfüllt, welches ihr wieder und wieder Werthers Liebe als ebenso reizvolle wie abzulehnende Störung ins Gedächtnis ruft. So ist es im Grunde Lotte, die dem in der Liebe Werthers zum Ausdruck kommenden ästhetischen Impuls quasi umstürzlerisch erscheinen lässt. Er ist es kraft der von ihr forcierten Ablehnung.

Das Verhältnis zwischen Werther und Lotte ist tragisch, da es die Diskrepanz zwischen Alltag und Lebenssteigerung schildert. Werther, der sich durch die Liebe als Medium in seiner ganzen Emotionalität selbst medialisiert und sich in der eigenen „Medialität“ schließlich vollkommen aufhebt, verkörpert als literarische Figur das in der ästhetischen „Auftriebswirkung“ angelegte Dilemma, das Bernd Scheffer auch für die „Lebens-Steigerung“ durch Mediennutzung beschreibt. Diese Steigerungen kämen grundsätzlich an kein greifbares Ziel. Der Medienkonsum mache gewissermaßen „süchtig“, weil er immer nur in kurzfristigen Selbsttäuschungen „satt“ mache. (s. B.Scheffer)

Roland Barthes fragt sich, was geschehen wäre, wenn Werther darauf verzichtet hätte sich umzubringen. Sich von Lotte fernzuhalten hätte er bereits einmal ergebnislos getan. Was bliebe anderes als das Exil. Er hätte sich von Lottes Bild zurückziehen, schlimmer noch, jene „rauschhafte Energie versiegen“ lassen müssen, die man auch das Imaginäre nenne. Es beginne nach Freud „eine Art langer Schlaflosigkeit“. Dieser Preis sei zu entrichten: der Tod des Bildes für das eigene Leben. Werthers Selbstmord verhält sich demnach ganz im Rahmen seiner Ästhetik. Das Bild in sich „versiegen“ zu lassen, ist nicht mehr Aufgabe des Ästhetikers. Das Subjekt wird auf den Zustand des Gewöhnlichen zurückverwiesen. Am Beispiel des erwarteten Telefonanrufs nach Barthes: Es galt ja nur dem geliebten Bild die Erwartung eines Anrufs. Verblasse dieses Bild, so erhalte das Telefon, ob es nun klingelt oder nicht, seine belanglose Existenz zurück.

Es sind die schönen Bilder der aufschäumenden Phantasien, die dem sehnsüchtig Liebenden Lust bereiten, Lust am Schönen, wie Kant das Phänomen in seiner Ästhetik beschreibt. Ästhetik ist nicht ohne diese Lust an einem Schönen, das längst jenseits von hässlich und schön im üblichen Sinne angenommen wird. Das Kunstschöne, bei Werther die im Unerfüllten um Erfüllung bemühte Phantasie, hat seinen Reiz durch eine Art Wahnsinn, der schon in Platons „Phaidros“ als die Liebe zum Schönen betrachtet wird (nach Bernd Scheffer). Werther: „Diese Nacht! ich zittere es zu sagen, hielt ich sie in meinen Armen, fest an meinen Busen gedrückt, und deckte ihren liebeslispelnden Mund mit unendlichen Küssen; mein Auge schwamm in der Trunkenheit des ihrigen! Gott! bin ich strafbar, daß ich auch jetzt noch eine Seligkeit fühle, mir diese glühenden Freuden mit voller Innigkeit zurückzurufen?“

Verwiesen auf die Imagination, das Imaginäre, wird nicht der Verstand, sondern das Herz zum Organ des Ästhetikers. „Mein Herz habe ich allein“, sagt Werther, als würde es ihn vor dem Zugriff auf seine Unabhängigkeit bewahren, so sehr er sich gleichermaßen bereits an die Liebe verloren hat. Es begann, als er Lotte zum ersten Mal erblickte, im Türrahmen ihres Hauses, - sie schneidet den Kindern Brot. Bereits dieses Bild, das Bild der Liebe, zeugt von Werthers Verklärung des Gewöhnlichen, Alltäglichen. Später wird er das Schleifchen küssen, das Lotte ihm zum Geburtstag geschenkt hat, oder das sandige Zettelchen, das sie ihm zusteckt, die Pistolen, die sie berührt hat. Die Verklärung der Liebenden erst verleiht den Dingen diese besondere Ästhetik, aufgeladen durch die vermeintliche Magie des begehrten Menschen. Die abgetragenen Schuhe der Geliebten im Kleiderschrank des Verlassenen sind sein kostbarster Besitz: Möge eines Nachts auf unerfindliche Weise die Person, die diese Schuhe einst getragen hat, mit ihnen aus dem Schrank treten ... Jeder noch so alltägliche von der Liebe berührte Gegenstand wird in einer Weise aufgeladen, dass sich mit ihm unabdingbar die ganze Geschichte, die Ästhetik des Ganzen verbindet.


3. Gelebte Ästhetik

Werthers Liebe ist gelebte Ästhetik. In ihr potenziert sich künstlerisches Schaffen bis zu einem Punkt der Auflösung desselben. Werther der früher viel und gut zeichnete, bringt nicht einmal mehr das Porträt Lottes zustande. Man könnte sagen, wenn es nicht eine Paradoxie ausdrückte, dass sich hier die Kunst in der Liebe sublimiert habe. Sie hat sich zumindest an die Illusion verloren, die jetzt Wirklichkeitsersatz geworden ist. Die Utopie hat das Subjekt erfasst, die Liebe, für die es keinen wirklichen Ort gibt. Die Beziehung zur Illusion wird zur Wahrheit, sagt Roland Barthes. Das drücke sich in Werthers Verhalten aus. Er entzieht sich dem „Diskurs des gesunden Subjekts“, dem entweder - oder: „Du liebst Lotte: entweder hast du einige Hoffnung, und dann handelst du; oder du hast keine, und dann verzichtest du.“ Aber Werther bevorzuge das Nichtwählen: „Ich habe keine Hoffnung, aber dennoch ...“ Deutlich hat Lotte ihm zu verstehen gegeben, dass er seine Besuche einschränken müsse. „Lassen sie mir noch ein klein wenig Ruh, es wird alles werden“, ist Werthers Antwort. (“Please believe me, if you don't need me, I'm going but I need a little time”, singt der selbstmörderisch lebende J. Morrison in “Yes, The River Knows”.) Werthers Antwort formuliert gewissermaßen den direktesten erpresserischen Zugriff auf Lotte. Sie enthält bereits die Selbstmorddrohung, wie Roland Barthes es sieht: „Sie werden mich bald los sein!“ Und diese Drohung gewinnt an Realität, als Lotte, von eigenen Problemen bewegt, gegen Ende des Romans recht deutlich beteuert: „Es kann nicht, es kann nicht so bleiben.“

Lebenssteigerung, sagt Bernd Scheffer, meine nicht nur Steigerungen in Richtung auf positive Ziele. (s. B.Scheffer) Die Medialisierung des eigenen Lebens, welche Werther betreibt, schließt die Katastrophe nicht aus, den Gewaltakt. So überantwortet sich seine Liebe mehr und mehr der Ästhetik einer suizidalen Aktion (etwa wie sich in Jean Pauls "Titan" die Figur Roquairol auf der Bühne leibhaftig erschießt). „Im innersten Kern der Illusion nistet sich bizarrerweise das Wahrheitsgefühl ein“, schreibt Roland Barthes. Die Wahrheit ist, dass die Illusion ihren Grund verloren hat. Sie ist jetzt freischwebend. Bislang noch im Spannungsfeld der beiden Möglichkeiten zwischen einem Entweder-oder, ist jetzt eine der Möglichkeiten entzogen. Roland Barthes formuliert: „Die Wahrheit wäre das, was, einem vorenthalten, keine andere Möglichkeit mehr offenließe als den Tod (so wie man sagt: das Leben lohnt nicht mehr gelebt zu werden).“ Die Wahrheit ist die Tatsache des, um es einmal so zu auszudrücken, verlustig gegangenen existentiellen Grundes. Die Lust am Schönen geht über in die Lust des Zugrundegehens. Am Ende siegt die Konsequenz der Logik. Werthers Suizid erweist sich als gemeinsamer Kulminationspunkt von „Sturm und Drang“ und Aufklärung.

Medien bieten Lebenssteigerungen, weil sie ähnlich fungierten wie die Liebe, sie vereinbarten Unvereinbares. Indem Werther in die Liebe verliebt ist, zeigt er sich in letzter Konsequenz der Aufklärung verbunden, entfernt davon, gegen die „Tyrannei des Verstandes“ nur durch „Gefühl“, „Gemüt“ oder „Trieb“ zu rebellieren. Lukács sieht im „Werther“ den Kampf gegen die menschenverachtende Konvention angelegt, zu deren letztlich reaktionärer Ideologie die Scheidung von Verstand und Trieb gehöre. Was bei Rousseau interessant sei, dass er „nämlich die ideologischen Seiten der plebejischen Durchführung der bürgerlichen Revolution“ hervorkehre und oft mit „kleinbürgerlich-reaktionären Zügen“ vermische, entspreche der „inneren Dialektik“ jener bürgerlichen Bewegung. Das gäbe zwar den Kritikern Rousseaus wie Voltaire oder d'Alembert recht, soweit sie auf die „Reinheit des sozialen Gehalts“ bestünden, doch sie gingen in ihrer Polemik an dem „wertvollen Neuen“ bei Rousseau, an seinem „Plebejertum“, an dem „beginnenden dialektischen Herausarbeiten der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft“ achtlos vorbei. Man übersähe die höhere, widerspruchsvollere Stufe der Aufklärung.

Werthers Ästhetik ist ähnlich wie die Ästhetik Rousseaus am Widerspruch orientiert. Wenn auch der junge Goethe nach Lukács kein Revolutionär gewesen ist, noch nicht einmal im Sinne des jungen Schiller, so habe er doch im „Werther“ das „große Problem des bürgerlich-revolutionären Humanismus, das Problem der freien und allseitigen Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit“ Mittelpunkt werden lassen. Die Auflehnung gegen die Pragmatik des „halbfeudalen Duodez-Absolutismus“ kennzeichnet Werthers Ästhetik. Seine Gefühlswelt wird Ausdruck des Kampfes gegen die „konkreten Formen der Unterdrückung und Verkümmerung der menschlichen Persönlichkeit“. Werthers Gefühlswelt reicht in der Logik der grundlegenden Widersprüche und mit seiner erstaunlichen Sensibilisierung für elementar wirkende „Kräfte“ weit hinaus über die Gefühlsdimensionen seiner Zeit in einem intellektuell schwerfälligen und „zurückgebliebenen“ Deutschland. Kein Wunder nach Lukács, dass das Werk in ganz Europa begeistert aufgenommen wird und Werther am Ende des 18. Jahrhunderts als eine der wichtigsten Identifikationsfiguren innerhalb der Auseinandersetzung zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft Bedeutung gewinnt.


4. Ein für die moderne Medientheorie propädeutischer Charakter

Als Figur der (Selbst-)Medialisierung ist Werther ein für die moderne Medientheorie durchaus propädeutischer Charakter. Die Medialisierung als gelebte „Passion“ entspricht nach Lukács der Maxime eines regellosen Realismus. Dass dieser regellose Realismus über den geregelten hinaus sich gerade durch die Illusion bereichert, ist unter dem Aspekt der Regellosigkeit vollkommen zu verstehen. Ist das Grundprinzip der Gesellschaft der Widerspruch, so macht es wenig Sinn ein allgemeingültiges Regelsystem aufzufinden, das die Phänomene des Ganzen zu beschreiben und einander zuzuordnen imstande ist. Mit der ganzen Stärke ihrer Verdichtung scheitern die idealistischen Systeme Kants oder Hegels an diesem Anspruch und deutlicher denn woanders wird dieses Scheitern in den jeweiligen ästhetischen Theorien. Wie Goethe in seinem "Werther" verdeutlicht, ist von einem ästhetischen "Analogon der Vernunft" nicht länger auszugehen. Was immer auch die großen idealistischen System gedanklich nahe legen und klären, die Widersprüche zwischen „menschlicher Leidenschaft“ und „gesellschaftlicher Gesetzlichkeit“ können trotz gedanklicher Erfassung in der Wirklichkeit nicht aufgehoben werden. Die Generation des jungen Goethe, so Lukács, habe diesen Widerspruch tief erlebt, wenn auch nicht dialektisch erfasst. Und sie renne mit wütender Leidenschaft gegen das Hindernis der freien Persönlichkeitsentwicklung an. Der Ästhetiker rebelliert gegen die herrschende Ethik. Der Jugendfreund Goethes, Friedrich Heinrich Jacobi, habe diese „Rebellion auf dem Gebiet der Ethik“ in einem offenen Brief an Fichte vielleicht in klarster Weise zu Papier gebracht. Zitiert nach Lukács: „Ja, ich bin der Atheist und Gottlose, der ... lügen will, wie Desdemona sterbend log, lügen und betrügen will wie der für Orest sich darstellende Pylades, morden will wie Timoleon, Gesetz und Eid brechen wie Epaminondas, wie Johann de Witt, Selbstmord beschließen wie Otho, Tempelraub begehen wie David - ja, Ähren ausraufen am Sabbat, auch nur darum, weil mich hungert und das Gesetz um des Menschen willen gemacht ist, nicht der Mensch um des Gesetzes willen.“

Mögen sich laut Lukács die ethischen Probleme des „Werther“ sämtlich im Zeichen dieser Rebellion abspielen, so ruht die Stärke des Werkes vermutlich gerade in dem Fakt der in ihm noch nicht erkannten medienästhetischen Disposition. Werther als Ästhetiker wird zum Repräsentanten einer neuen, zwischen Aristokratie und Philistertum aufkeimenden Ästhetik, vielleicht weniger im Sinne einer „volkstümlich-humanistischen Revolte“ (Lukács) denn mehr im Sinne der Revolte einer die Widersprüche des Ganzen in sich zur Zerreißprobe führenden, unkonventionellen ästhetischen Boheme, die bereits in sich die Züge des Individuums der Mediengesellschaft trägt.

Werther, ein Bohemien der Liebe? Zumindest wird durch Werther ebenso genialische Zerrissenheit wie das mögliche Ideal des freien und allseitig entwickelten Menschen vorgeführt. Charakterisiert wird in jeder Hinsicht das empfindsame Subjekt, der empfindsame Mann. Anschaulich wird der in der Empfindsamkeit angelegte Subjektivismus, aus dem erst ein an den eigenen Idealen scheiternder „revolutionärer Humanismus“ (Lukács) wie ein späterer, die Auseinandersetzung mit diesen Idealen pflegender „Existentialismus“ (Kierkegaard) hervorgeht. Die Medialisierung, welche die Figur aus Gründen der reinen Liebeserfahrung betreibt entspricht der inszenierten Lebensform, die nicht nur das Leben der Boheme im 19. Jahrhundert geprägt hat, sondern im Besonderen auch das Leben der Mediennutzer des sogenannten Medienzeitalters. Bernd Scheffer formuliert: Mediennutzung sei deswegen nicht unähnlich der Liebeserfahrung, weil jeweils Unvereinbares vereinbart werde, nämlich Kommunikation und Bewusstsein, weil eine in der Täuschung effektiv werdende Erfahrung einer an sich unmöglichen Grenzüberschreitung gemacht werde. (s. B.Scheffer) Werther erfährt in dem auf die Ästhetik der Liebe reduzierten Leben die Illusion der Liebe in ihrer „melancholischen“ Totalität.


5. Mediennutzung als Erfahrung intentionaler Brechung

Es ist in dieser „zukunftsträchtigen“ Figur des „Sturm und Drang“ eine eigentümliche Brechung angelegt, die sie tatsächlich in Verbindung bringt mit heutigen Mediennutzern. Einem „merkwürdigen Triebschicksal gehorchend“ kann Werther als jemand beschrieben werden, der geprägt durch eine "intentionale Brechung", eine Abweichung von konventionellen Bedürfnisansprüchen beschreibt, die der generellen heutigen Medienrezeption auffällig eigen ist. Ausgewiesen durch eine „initiale Hemmung“, eine trotz rasender Verliebtheit in die „sexuellen Motion“ eingehende Zurückhaltung verkörpert er gerade jene Haltung, die um den Preis der letztlich im Schein aufgehobenen Lebenssteigerung, alles auf die mögliche Fundamentalisierung der Illusion setzt. Anders als Don Giovanni oder Marquis de Sade, die mit List oder Gewalt an ihrem Befriedigungsanspruch festhalten, zeigt sich die Ästhetik Werthers als ein auf menschliche, d.h. intersubjektive Distanz begründetes quasisexuelles Verhältnis, als eine lustvolle Absage an die Lust, in welcher der bis über die Ohren verliebte Verehrer sich bei allen seelischen Emotionen auf die Seite des letztlich passiven Voyeurs begibt.

Ausweglosigkeit charakterisiert die Bemühungen Werthers wie die Bemühungen eines jeden Mediennutzers hinsichtlich einer Befriedigung seiner grundlegenden Bedürfnisansprüche durch das mediale Geschehen. Aber es scheint tatsächlich jene Ausweglosigkeit das Ziel. Die Distanz, die Werther wahrt, auch als „Abstand von allem Vorhaben einer privatim realisierten Geschlechtsbeziehung“ zu werten, die ihn ganz offensichtlich zu einer Art Voyeurismus zwingt, bietet sich ihm noch eine andere weniger voyeuristische Perspektive: Es gelingt ihm seine als Projekt betrachtete Emotionalität narzisstisch zu genießen, auch wenn er weiß, dass sein gewissermaßen in den Rezipienten verlagerter ästhetischer Anspruch irreal bleibt. Werthers sinnliche Zurücknahme ist verwiesen auf Symbolhandlungen, „verständnisinnige“ Blicke oder verstohlene Berührungen der Hände, in der Konsequenz und Fortexistenz von Lotte zunehmend destabilisiert.

Mediennutzung, sagt Bernd Scheffer, also der Zugriff auf Kommunikationsangebote affiziere oder irritiere das Bewusstsein. (s. B. Scheffer) Sich mehr oder weniger erfolgreich selbst täuschend „überschreite“ das Bewusstsein dabei seine eigenen unüberschreitbaren Grenzen. Diese Überschreitung kann im Sinne Jean-Paul Sartres als ein Akt der Verabsolutierung verstanden werden. Werther ist fraglos auf der Suche nach dem Absoluten. In der Vollkommenheit der Beziehung zwischen Lotte und ihm soll sich die absolute Ästhetik erfüllen. Das Scheitern an der Realität ergibt sich aus der fehlenden Voraussetzung einer tatsächlich als parallel zu verstehenden emotionalen Disposition zwischen beiden. Indem Werther anders als Lotte sich in die Liebe verliebt hat und die Entsprechung dieses Vorgangs in den anderen hineinprojiziert, um in ihm tatsächlich jene Entsprechung aufzufinden, erweist sich seine "intentionale Brechung" als eine Form narzisstischen Selbstbetrugs. Der ontologische Anspruch auf das Absolute, die absolute Liebe, vollzieht sich im Medium der Illusion.

Auf Werthers Suche nach dem Absoluten, der „idealischen Lebensform“ des Guten, Wahren und Schönen, verkörpert Lotte nur das initiierende und letztlich auf die Realverhältnisse zurückweisende, also seine Bemühungen abweisende Moment. Die "Wahlverwandte" ist sie nur in der von ihm an ihr entzündeten Illusion, und sie ist auch in dieser Illusion mehr als eine Wahlverwandte. Dort ist sie die verklärte Inkarnation der Ideale an sich. Man könnte sagen: Werther benutzt Lotte als Projektionfläche für sein Streben. Werther benutzt Lotte in diesem Sinne als eine Art Medium, oder als „Impulsgeberin“ (Scheffer). Ihre Neutralität, ihre Unbeweglichkeit, machen sie bis zu dem Moment, da sie Werther die Distanz abverlangt, zur perfekten Projektionsfläche für seine ästhetischen Produkte, seine Medialisierungen.


6. Medium und Medialität

Das Verhältnis von Medium und Medialität wird durch das Verhältnis von Werther und Lotte anschaulich. Die Medialisierungen, die Werther betreibt, haben mit Lotte nur eingeschränkt zu tun. Das Mediale des Kinofilms ist nicht die Leinwand als Projektionsfläche und auch nicht der Projektor oder die Lautsprecher oder gar der Kinosaal. Das Mediale ist der Film als mit sich identische wiederholbare Funktion. Es ist zugleich das, was das einzelne Bewusstsein auf je seine Weise wahrnimmt. Das einzelne Bewusstsein ist seinerseits geprägt durch das Verhältnis von Medium und Medialität. Das, was es als Bewusstseinsmedium gedanklich hervorruft, wenn es etwa einen Film vergegenwärtigt, den das Subjekt gesehen hat, ist gleichermaßen etwas Mediales, das im Medium des Bewusstseins medial wird.

Ähnlich wie van Gogh hat Werther begonnen, eine impressionistische Sichtweise der Dinge in eine expressionistische zu überführen. Die Dinge und auch Lotte sind ihm Phänomene geworden. Sein Narzissmus ist ein Solipsismus, und Solipsismus erscheint als eine Form moderner Wahrnehmungsverhältnisse, wie sie die Medien bedingen. Das heißt im Sinne von Bernd Scheffer: Wenn man davon ausgeht, dass Medialität in brisanter, lebens-steigernder Weise Bewusstsein und Kommunikation strukturell koppele, dann müsse man auch verstärkt Bewusstsein oder psychische Systeme beschreiben. Diese Beschreibung, so wie sie hier innerhalb der Konfiguration Werther/Lotte paradigmatisch erfolgte, entspricht dem Versuch, „Bewusstseins- und Subjektprozesse“ auf einer Abstraktionsebene vorzunehmen, die sich von der „Identifizierung eines jeweils einzelnen, konkreten Bewusstseins bzw. Individuums“ weitgehend unabhängig mache. Dass allerdings auf dieser Abstraktionsebene eine strikte Trennung zwischen Bewusstsein und Kommunikation erfolgen müsse, scheint aus eben der Sicht der auf diese Ebene erst gebrachten oder induzierten individuellen Selbstvergegenwärtigungen des Bewusstseins ein Problem. Zumindest wäre zu sagen, dass die Trennung von Kommunikation und Bewusstsein rein artifiziell bzw. szientifisch vorgenommen würde, so wie Edmund Husserl etwa seine phänomenologischen Einsichten eher auf der Basis des Kunstgriffes der Reduktionsmethode gewinnt.

Wie anders kann menschliches Bewusstsein begriffen werden als eine Instanz der Verstandes- und Phantasietätigkeit, als eine Instanz der Wahrnehmung sämtlicher sinnlicher Eindrücke, die irgendwie (symbolisch, d.h. medial) gespeichert und verarbeitet, d.h. im Allgemeinen vergegenwärtigt, überprüft, kritisiert und erweitert werden. Das ganze menschliche Bewusstsein ist eine aus kommunikativen Vorgängen bestehende Instanz, nicht nur durch das innere Gespräch (und durch das am wenigsten), sondern speziell durch sämtliche Vorgänge der Perzeption und Apperzeption, der Rezeption und Applikation. Auch Bernd Scheffer gewinnt seine „verallgemeinerbaren Beschreibungen“ des Bewusstseins, seine Bewusstseinstheorie, aus kommunikationstheoretischer resp. systemtheoretischer und konstruktivistischer Perspektive. Denn systemtheoretisch sei der Abbruch der Brücken zwischen Bewusstsein und Kommunikation noch nicht das letzte Wort. Dem widerspricht allerdings die Auffassung, dass Bewusstsein als geschlossenes System zwar „strukturell gekoppelt“ sei an „Kommunikation, aber keinesfalls direkt offen sei für Kommunikation.

Diesen totalisierten Bewusstseinszustand verkörpert womöglich Werther in allerletzter Steigerung durch einen „eigenwilligen“ Entschluss, durch den er sich auch die mögliche wie nunmehr notwendig gewordene Relativierung seiner Emotionalität nimmt, das allmähliche Abrücken von der „Lust am Schönen“. Suizidal, in einem letzten verzweifelten Liebesakt gegenüber einem voll und ganz als sinnlos betrachteten Dasein hofft er das Ziel seiner Sehnsucht nunmehr transzendent zu erschließen. Der „para-soziale“ Charakter der Lebenssteigerung nach Bernd Scheffer wird auch in diesem Vorgang deutlich: Die Welt, die die Medien der Selbstkonstruktion des Bewusstseins darböten, sei entscheidend weniger konsens-pflichtig als die sogenannte Alltagsrealität: Erst Werthers Selbstmedialisierung, sein vollkommenes Hinüberwechseln in die Person des absolut Verliebten ermöglicht ihm diesen letzten Schritt. Er entspricht dem Versuch absoluter „Lebenssteigerung“ in der Form der Aufhebung aller medialen Differenzierungen hinsichtlich der eigenen Perspektiven. An diesem Punkt will Werther „echte“ Transzendenz, keine weitere mediale Steigerung oder Suche, wie sie nach Bernd Scheffer „Passion“ im Sinne von „Leidenschaft“ und „Leiden“ bewirke. Werther befreit sich gewissermaßen von dem „kommunikativen Defizit des (eigenen) Bewusstseins“, wo „die Unmöglichkeit der Transzendenz als fortlaufender und fundamentaler Mangel“ erlebt werde (Scheffer). In diesem Sinne ist er als ein fundamentaler Protagonist der „Ästhetisierung des Alltagslebens“ zu beschreiben, als ein Werbeträger der eigenen Idealität.


7. Schlussbemerkung

Es mag befremdend wirken, wenn in diesem Text ganz offensichtlich das nicht selbstverständlich Kommensurable zusammengeführt und Aspekte einer Theorie der Medialität des Bewusstseins mit Aspekten einer Rezeptionstheorie und einer analytischen Betrachtung des Werther-Stoffes zusammengeführt werden. Die Analog-Setzung selbst ist in dem unveröffentlichten Manuskript von Bernd Scheffer nur in einer einzigen winzigen Bemerkung und darin auch nicht wirklich nahe gelegt. Sie ist zu betrachten als eine Art interpretatorischer Illustration. Die Ausführungen von Bernd Scheffer berühren in ihrem theoretischen Kern das Problem der fundamentalisierten Liebe als ein Problem, das sich in den Wirkungen der Massenmedien, in den Rezeptionen und Applikationen, weitgehend widerspiegelt, wenn nicht gar säkularisiert hat. Die Steigerung der Liebe zur Passion der Liebe, die Überführung in die leidenschaftliche Liebe an sich kann als der vielleicht nie wirklich glücklich machende oder befreiende oder sinnvolle Versuch einer Sinngebung in nachmetaphysischen Verhältnissen betrachtet werden. Die Frage nach dem Sinn der Lebenssteigerung wird durch den Vergleich mit der Werther-Figur einem derartigen Unterfangen zugeordnet. Die regressive Tendenz der fundamentalistischen Sehnsucht wird durch die Figur kombiniert mit dem Geist der Utopie, der Sehnsucht nach Idylle, nach einem Ort, den es nirgendwo wirklich gibt. Es ist ein Ort der Annäherung und Verschmelzung. Die gelebte Ästhetik der Romanfigur ist vergleichbar jener ästhetischen Entrückung, wo die Distanz zur audiovisuellen Botschaft sich aufzuheben scheint und das Bewusstsein die Bilder aufnimmt jenseits von aller Realität, die es in diesen Momenten oder Phasen schon gar nicht überprüft.


Kontakt: redaktion@medienobservationen.de Veröffentlicht am 08.01.2004

   
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