Wissenschaft / Essay / Medieninterpretation / Interpretation / Systemtheorie


Oliver Jahraus

Die Differenz von Wissenschaft und Essayistik


Abstract: Die folgenden Überlegungen beschäftigen sich mit dem Unterschied zwischen Wissenschaft und Essay, wie er insbesondere bei der Medieninterpretation relevant wird. Sie spielen die Möglichkeit durch, diesen Unterschied selbst wiederum wissenschaftlich bzw. essayistisch zu begreifen. Die theoretische Grundlage für diese Überlegungen liefert die Systemtheorie. Sie erfordert eine komplexe Diskussion, was sich auch stilistisch niederschlägt.

Will man über das Verhältnis von Wissenschaft und Essay schreiben, kann man das auf verschiedene Art und Weise tun. Je nachdem, wie man Wissenschaft und Essayistik charakterisiert, besteht auch die Möglichkeit, in eine autoreflexive Drift zu kommen - nämlich dann, wenn man das Verhältnis als ein komplementäres Wechselverhältnis begreift. Man kann also Wissenschaft und Essayistik unter der Vorgabe ansprechen, daß sie eine Unterscheidung darstellen, die zwei Seiten besitzt, welche sich wechselseitig konstitutiv voraussetzen. So wäre jede Seite für die jeweils andere zumindest als Negativfolie mitbestimmend. Wenn man aber so vorgeht und diese Unterscheidung trifft, merkt man, daß diese Unterscheidung erst auf der Grundlage eben dieser Unterscheidung getroffen werden kann. Wer also die Differenz von Wissenschaft und Essayistik so handhabt, der kann gar nicht anders, als darüber entweder wissenschaftlich oder essayistisch zu schreiben.

Wie kommt man nun zu dieser Ausschließlichkeit? Man könnte doch auch literarisch über diese Differenz schreiben? Sicherlich! Doch dann verschwindet der Differenzcharakter zwischen Wissenschaft und Essayistik. Handhabt man aber Wissenschaft und Essayistik als eine Differenz, dann und nur dann tritt diese Differenz jeweils in ihren Unterscheidungsbereichen wieder auf. Genauer gesagt: Über die Differenz zwischen Wissenschaft und Essayistik kann und muß man dann entweder essayistisch oder wissenschaftlich schreiben. Die Differenz zwischen Wissenschaft und Essayistik tritt sowohl in der Wissenschaft als auch in der Essayistik in einer Form auf, die festlegt, wie sie überhaupt auftreten kann - d.i. die Maßgabe, nämlich entweder so oder so, wissenschaftlich oder essayistisch.

Dieses Wiederauftreten der Unterscheidung in dem durch sie Unterschiedenen, das Wiederauftreten der Differenz zwischen Wissenschaft und Essayistik in der Wissenschaft (und auch in der Essayistik), dieses re-entry, das eben auf dieser Differenzierung beruht, ist aber nur deswegen möglich, weil auf beiden Seiten wiederum eine Differenz gehandhabt wird, die man als Differenz zwischen Objekt- und Metaebene charakterisieren kann. So kommt es, daß im Objektbereich sowohl der Wissenschaft auf der einen als auch der Essayistik auf der anderen Seite nicht nur Wissenschaft und Essayistik, sondern eben auch die Differenz zwischen beiden wieder auftreten kann. Tritt sie allerdings auf, so kommt man auch auf der Metaebene nicht mehr umhin, sie zu handhaben, das heißt somit: sich zu entscheiden: wissenschaftlich oder essayistisch zu schreiben.

Wenn man Wissenschaft und Essayistik in ein solches Differenzverhältnis bringt, dann ist dieser Zugriff auf der Metaebene schon auf die eine (und nicht auf die andere) Seite gefallen. Es ist gerade die Differenzierung, also die Tatsache, daß man so und nicht anders differenziert, die den Zugriff auf die Seite einer systemtheoretischen Konzeptionalisierung und damit, nach systemtheoretischem Selbstverständnis, auch auf die Seite der Wissenschaft fallen läßt. Die Differenz reproduziert sich über die Ebenen hinweg. Und was ich auf der Objektebene als Objektdifferenz charakterisiert habe, äußert sich auf der Metaebene als Stildifferenz. Und geht man noch eine Ebene höher, dann ist man mitten im Kernbereich der Systemtheorie angelangt, nämlich bei der Differenz zwischen Differenzen oder - um mit Gregory Bateson zu sprechen - bei Unterschieden, die einen Unterschied machen. Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Essayistik ist ein solcher Unterschied! Es stellt sich die Frage, ob dieser Unterschied zwischen Wissenschaft und Essay nur wissenschaftlich einen Unterschied macht, und ich tendiere dazu, diese Frage mit Ja zu beantworten.

Aus der Differenz von Objekt- und Metaebene emergiert die Differenz zwischen Wissenschaft und Essayistik. Dabei wird eine weitere Differenz erzeugt, die zwischen Thema und Stil. Wie bei all diesen Differenzierungen, handelt es sich - gegenüber einer herkömmlichen Sprachverwendung - nicht um beliebige Kombinationskomponenten, sondern gleichermaßen um zwei Seiten einer Unterscheidung, wo die eine Seite die jeweils andere konstitutiv voraussetzt. Und genau an diesem Punkt entspringt die Problematik, warum man überhaupt dazu kommen muß, sich zwischen Wissenschaft und Essayistik zu entscheiden. Denn wenn man diese Entscheidung als eine Stilfrage, als eine stilistische Entscheidung ausweist, so stellt sich die Frage, welche spezifischen Themen der jeweiligen Entscheidung korrespondieren.

Den Gesamtzusammenhang dieser Differenzierungen bezeichne ich mit dem Begriff der Objektkonstitution. Er bezeichnet jeweils die Einheit der genannten Differenzen. Indem ein Objekt konstituiert wird, konstituiert sich damit gleichursprünglich, nur eben auf der anderen Seite eben dieser Unterscheidung, auch die Metaebene, auf der das Objekt thematisiert wird. Mit dem Thema konstituiert sich gleichursprünglich der entsprechende Stil. Und indem sich die wechselseitigen Konstituierungen vollziehen, ist die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Essayistik schon getroffen.

Wenn man nun also der Frage nachgeht, warum man wiederum dieser Frage nach der Differenz zwischen Wissenschaft und Essayistik nachzugehen hat, so beantwortet sie sich genau in jenen wechselseitigen und immer gleichursprünglichen Konstitutionsprozessen. Wenn man das im Auge behält, kann man durchaus wechselweise auf die eine oder - daran anschließend - auf die andere Seite der Unterscheidung blicken. Man kann dann von einem Objektbereich reden, wobei man die Implikation, der Objektbereich gehe seiner Thematisierung entweder empirisch oder kausal oder logisch voraus, wie auch immer, stillschweigend negieren muß.

Was sind nun die Objekte, die so aus einer Objektkonstitution hervorgehen, daß sie, wo sie auf einer Metaebene beobachtet werden, die Beobachtung vor die Differenz zwischen Wissenschaft und Essayistik stellen? Es war Bernd Scheffer, der - in einem konstruktivistischen Theorierahmen - diese Frage mit dem bislang größten Nachdruck aufgeworfen und das bislang umfassendste und radikalste Plädoyer für eine Entscheidung zugunsten der Essayistik gehalten hat. Die Entscheidung zugunsten der Essayistik begründet sich aus der Unmöglichkeit, Interpretationen so zu verobjektivieren, d.h. das Interpretationsobjekt (Text oder generell Medienangebot) so zu erfassen, daß es seine Interpretation (nahezu) vollständig (also wissenschaftlich) determinieren könnte. Aus konstruktivistischer Perspektive ist Interpretation nicht rekonstruktiv, sondern eben konstruktiv; Objekte, die interpretiert werden, werden im Akt der Interpretation konstituiert. Bei diesem Konstitutions- und Konstruktionsprozeß gibt es jedenfalls keine - oder wie Scheffer abschwächend differenziert - kaum Determinanten, die am oder im Objekt selbst zu situieren wären. Die Determinanten des Prozesses (Stoppregeln) entstammen vielmehr dem sozialen, kommunikativen Kontext, in den diese Prozesse immer schon eingebettet sind und der zur unabdingbaren Voraussetzung dafür gehört, daß sie überhaupt ablaufen.

Wenn man nun den sozialen Kontext, in dem eine Handlung abläuft oder eine Praxis sich institutionalisiert, die man als Interpretation charakterisieren kann, selbst als kommunikativ verfaßt und gleichermaßen auch den Interpretationsakt kommunikativ fundiert sieht, dann gelangt man zu einer Zirkelstruktur, in der man Varianten des hermeneutischen Zirkels wiederfinden kann. (Kommunikative) Sinnkonstitution setzt (kommunikativ) Sinn immer schon voraus. Interpretationen sind daher nicht objektivistisch auf den Text bezogen, den zu interpretieren sie vorgeben, sondern sie sind in erster Linie auf den Bedingungsrahmen bezogen, in dem so etwas wie Interpretation überhaupt erst ablaufen kann. Die Faktoren, die hier zu nennen wären, sind aus konstruktivistischer Sicht schon vielfach thematisiert worden, so zum Beispiel die Bedingungen des Zusammenspiels kognitiver und kommunikativer Prozesse unter den jeweiligen Prozeßbedingungen, wie sie schlagwortartig mit kognitiver Autonomie oder operativer Geschlossenheit und sozialer Orientierung bzw. kommunikativer Autopoiesis benannt worden sind (Luhmann/S.J. Schmidt). Für die Interpretation eines Textes oder Medienangebots gibt es also keinen in ihm selbst liegenden, voraussetzungslosen Ausgangspunkt. Genau dieses Phänomen nenne ich die Unhintergehbarkeit der Interpretation.

Die Unhintergehbarkeit der Interpretation behaftet jede Wissenschaftsformation, die Interpretation als ihr Operationsmodell zugrunde legt, notorisch mit Krisen der Objektkonstitution, der wissenschaftlichen Selbstdarstellung, Selbstbegründung und Selbstexplikation, die sich bis in Legitimationskrisen hinein fortsetzen können. Für diese Wissenschaften ist traditionsgemäß der Begriff der Geisteswissenschaften reserviert. Diese Reservierung beruht auf falschen Voraussetzungen, denn sie tut so, als ob der Gegenpart, bekanntermaßen die sog. Naturwissenschaften von diesen Krisen nicht betroffen wären. Spätestens seit der Heisenbergschen Unschärferelation läßt sich eine solche Anschauung noch nicht einmal in populärwissenschaftlicher Hinsicht halten. Dennoch kann man sehen, wie die Differenzierung von Geistes- und Naturwissenschaften in den Geisteswissenschaften (auch hier ein re-entry), namentlich von Wilhelm Dilthey, diese Krise nicht nur wissenschaftsklassifikatorisch institutionalisiert hat, sondern zugleich eine Lösungsstrategie formulierte, die darin bestand, gleichermaßen die Operationsmodelle zu differenzieren: Verstehen (das ich etwas vorschnell, aber dennoch mit Interpretation gleichsetze) hier, Erklären dort. Genauso vorschnell wäre es, diese klassifikatorische Differenzierung als obsolet zu erklären. Natürlich kann man das mit guten Gründen tun; aber hier soll im Auge behalten werden, daß sie eine Lösungsstrategie darstellt für eine notorische Krise und als solche (aber nur als solche) ihren Zweck haben kann.

Mehrfach zeigt sich nun die Rückbindungsmöglichkeit an hermeneutische Theoriebestände: der hermeneutische Zirkel bei der Objekt- und Sinnkonstitution, die Wissenschaftsklassifikation der Geisteswissenschaft, der Interpretationsbegriff überhaupt. Uns geht es hier aber nicht um Hermeneutik, sondern um einen wesentlich weiteren Rahmen. Dennoch kann man gerade für diesen Zweck hermeneutische Problembestände heuristisch als Antizipationen einer grundlegenden Problemkonstellation mit interpretationsbasierten Objektkonstitutionen verwerten.

Solche operational interpretationsbasierten Wissenschaften, die Geisteswissenschaften und hierbei wiederum allen voran die klassischen Literaturwissenschaften, brauchen, um ihren Wissenschaftsstatus aufrechtzuerhalten, das Objekt. Wenn sie ein solches Objekt konzipieren, müssen sie es als sich, d.h. letztlich: der Interpretation vorausgehend konzipieren. Die Selbstreflexion auf diese Konzeptualisierungsleistung ist allerdings nur bei avancierten Theorieangeboten zu haben. In den meisten Fällen läuft diese Objektkonstitution für sich selbst blind ab: Man geht von einem Objekt aus, das einfach da ist, unabhängig davon, ob sich eine Wissenschaft darum kümmert oder nicht. Tendenzen der Selbstbeobachtung von Wissenschaften bei ihrer Objektkonstitution sind vielfach konstruktivistisch ausgeflaggt und führen, entsprechend der Zirkelstruktur ihrer Vorgehensweise, zu paradoxalen Überlegungen: Man muß ein Objekt so konstruieren, daß es eben nicht sichtbar wird, daß es konstruiert wird.

Damit wird das Problem ausgeblendet, aber nicht gelöst. Die Ausblendung erlaubt zwar die Fortsetzung wissenschaftlicher Operationen, das Problem bleibt als Krise zumindest latent präsent, wenn es nicht ohnehin in z.B. literaturtheoretischen Diskursen beständig mitgeführt wird. Wenn man nun die Unhintergehbarkeit der Interpretation, also die prinzipielle Unmöglichkeit, Interpretationsobjekte in der Interpretation als interpretationsunabhängig zu verobjektivieren, als prinzipielle Krise der interpretationsbasierten Wissenschaften begreift, so kann man abkürzend resümieren, daß die Interpretation die Krise jeder interpretationsbasierten Wissenschaft ist. Entscheidend dabei ist, daß diese Krise aus dem Zusammentreffen völlig und prinzipiell inkompatibler Dispositionen resultiert, die einerseits von der Interpretation, andererseits von der Wissenschaft herrühren.

Auf dieser Stufe unserer Überlegungen ist es möglich, das Scheffersche Plädoyer abermals als eine Lösungsstrategie - durchaus in seinem Sinne, wie mir scheint - für diese notorische Krise zu finden. Sie reiht sich damit in die Diltheysche Tradition ein, setzt aber wesentlich radikaler an und stellt eben genau jene hermeneutischen Voraussetzungen in Frage, die für Dilthey noch unbestritten Geltung besessen haben. Vor diesem Hintergrund, bezogen auf die Differenzierungsthematik, erscheint die Differenzierung von Wissenschaft und Essayistik als ein (nicht als das ausschließliche, aber durchaus als ein herausragendes) Symptom für die Krise der interpretationsbasierten Wissenschaften.

Wenn nun diese Differenz als Krisensymptom auftritt, so wäre die Entscheidung in der Unterscheidung ja als eine Lösung anzusehen. Man muß sich also für die Seite entscheiden, die die Lösung verspricht. Entscheiden muß man sich in jedem Fall. So wäre also zu diskutieren, welche Entscheidung größere Lösungskapazitäten mit sich bringt. Das Plädoyer für die Essayistik kann gute Gründe ins Feld führen, löst sie doch mit einem Schlag jene Probleme, die sich aus der Objektkonstitution der Wissenschaft mit all den genannten Folgedifferenzierungen ergeben. Essayistik setzt keine Verobjektivierung mehr in dem Sinne voraus, daß sie auf der Metaebene immer eine Objektebene so installieren müßte, als sei diese Objektebene von ihrer Metaebene und den Operationen, die sich darauf abspielen, unabhängig. Essayistische Interpretationen haben somit diskursiven Vorschlagscharakter, wobei die Annahme des Vorschlags nicht mehr von der Objektkonstitution abhängig gemacht werden muß. Das Verhältnis zwischen Ausgangstext oder -Medienereignis und Essay ist nicht in erster Linie als Objekt- und Metaebene zu beschreiben, sondern eher als Anlaß oder Impuls und das Aufgreifen des Impulses (Scheffer). Daher können essayistische Interpretationen direkter an dem, was sie interpretieren, anschließen, um somit ihrerseits wiederum direktere kommunikative Anschlüsse zu ermöglichen, wenn nicht gar zu provozieren.

Andererseits muß man dabei den Preis bedenken, den man mit dieser Entscheidung zu zahlen hat. Zunächst einmal: man kann die Wissenschaft als soziales (Sub-)System konzeptualisieren, die Essayistik aber nicht (oder bestenfalls lediglich als Gattung mit ungewisser Systemzugehörigkeit). Eine solche Konzeptualisierung hat ihren Wert in der Institutionalisierung von Kommunikation. Und daß sich die Wissenschaft (in dieser Konzeptualisierung) als ein eigenständiges Sozial- und d.h. Kommunikationssystem ausdifferenzieren konnte (Luhmann), verweist nicht nur auf die Möglichkeiten, die es bietet, sondern auch auf den Bedarf, besser gesagt: auf die Funktion einer solchen Institutionalisierung. Und die Funktion ist nun genau in jenen Dimensionen zu suchen, die die Essayistik ablöst. Es gibt Kommunikationen, die mit einem Code operieren, der so exklusiv gehandhabt wird, daß die einzelnen Kommunikationsbeiträge oder -ereignisse ihn entweder vollständig oder gar nicht umsetzen, um somit Anschlußereignisse zu zwingen, ebenso zu verfahren. Man hat diesen Code des Wissenschaftssystems als wahr/falsch bezeichnet (Luhmann). Löst man die metaphysischen Implikationen vom Begriff des 'Wahren' ab, so kann dies sehr gut den Exklusivitätscharakter zum Ausdruck bringen. Für die Wissenschaft spricht nun der Umstand, daß es Kommunikationen gibt, die diesen Code unabdingbar voraussetzen. Es gibt also Kommunikationsanlässe, die überhaupt nicht zu Kommunikationen führen würden, würde nicht mit einem derart exklusiven Code kommuniziert werden.

Welche Kommunikationsanlässe bietet nun der Objektbereich der Interpretation? Kurz gesagt: Wie kann, wie muß interpretatorisch kommuniziert werden? Dabei gilt es, zunächst einmal zu klären, in welchem Verhältnis die Verhältnisse von Objekt- und Metaebene einerseits und von Wissenschaft und Essayistik andererseits stehen. Bleibt man im Falle der Interpretation auf die Interpretation literarischer Texte oder gar schöngeistiger Literatur eingeschränkt, wird die Differenzierungsproblematik von sich aus kaum virulent. Zudem hat die Literaturwissenschaft eine gewisse Praxis ausgebildet, die es erlaubt, relativ unabhängig von den Problematisierungen der Literaturtheorie zu operieren und sich institutionell zu erhalten. Zugegebenermaßen ist das Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft am Paradigma der Interpretation ein exemplarischer oder gar paradigmatischer Bereich, an dem diese Probleme aufgezeigt oder überhaupt erst entzündet werden können. Scheffer zeigt das nachdrücklich. Auch bei ihm sind schon die Hinweise erhalten, wo die Virulenz dieses Problems unübersehbar wird: Wenn man den Interpretationsbegriff konstruktivistisch radikalisiert und erweitert, bis man ihn wiederum an den Wahrnehmungsbegriff und an den Medienbegriff koppeln kann - wenn Wahrnehmung grundsätzlich medial vermittelt ist, Wahrnehmung aber immer zugleich nicht als Repräsentation, sondern als Interpretation konzeptualisiert werden muß, so zeigt es sich, daß die Interpretation nicht nur alle technischen Verbreitungsmedien umfaßt, sondern ein basales Moment von Weltwahrnehmung generell darstellt. Besonders virulent wird nun dieses Problem dort, wo tatsächlich 'neue Medien' technisch so weit realisiert wurden, daß sie auf je spezifische und auf immer umfassendere Weise in die basal mediale Weltwahrnehmung eingreifen.

Wenn man also die Medieninterpretation mit einem entsprechenden Medienbegriff ins Blickfeld rückt, radikalisiert sich die Differenzierungsproblematik immens. Unbestritten ist, daß sich die Welt, nicht im Sinne einer ontologischen Vorgabe, wohl aber als Horizont für alle möglichen Objektkonstitutionen, radikal verändert. Und diese Veränderungen betreffen unsere Wirklichkeit, d.h. also die Art, wie wir Wirklichkeit(en) konzeptualisieren und konstruieren und wie man sie nur mittels einer veränderten Interpretationspraxis erfaßt. Was unsere Interpretationspraxis auf grundlegende Weise radikalisiert und erweitert, das ist die Transformation unserer Wirklichkeit zu einer Medienwirklichkeit auf der Basis von medial vermittelten Wirklichkeitsmodellen. Dabei scheint sich eine Entwicklung abzuzeichnen, als ob mit der Expansion sozial relevanter Phänomene im Zusammenhang mit diesen Medienwirklichkeiten, die nur interpretationsbasiert zu erfassen sind, der Bereich des wissenschaftlichen Zugriffs immer weiter eingeengt wird. Weil immer mehr interpretationsbasierte Phänomene potentielle Objekte der Wissenschaft werden, scheitert der wissenschaftliche Zugriff auf immer breiterer Front. Hat also die Wissenschaft angesichts der Medienwirklichkeit(en) abgedankt - zugunsten der Essayistik?

Mein Verteidigungsplädoyer für die Wissenschaft gegenüber der Essayistik meint: nein. Essayistik wird im Hinblick auf die soziale Ausdifferenzierung (aber nur darauf) kommunikativ immer und prinzipiell funktionslos bleiben müssen - als Voraussetzung dafür, andere, sozusagen 'querlaufende' kommunikative Funktionen übernehmen zu können. In dem Moment, in dem sie so funktionalisiert würde, würde mit der funktionalen Differenzierung und Eigenprofilierung ein Code entstehen, der, wie immer er auch binär ausgebildet sein mag, das Essayistische schlichtweg aufhebt. Für das Essayistische ist es entscheidend, daß es im Belieben steht, ob die weiteren Kommunikationen einen bestimmten Code anwenden oder nicht. Ausschlaggebend ist nur, daß sie überhaupt anschließen. Die Funktion der Wissenschaft kann daher nicht von der Essayistik übernommen werden, weil Essayistik prinzipiell sozial differentiell funktionslos und wohl nicht unidimensional binär codierbar ist. Anders wäre Essayistik nicht Essayistik!

Weitergehend würde ich auch die Behauptung aufstellen, daß sich der Zugriffsbereich der Wissenschaften eben nicht immer weiter einengt aufgrund immer weiter expandierender Medienwirklichkeit(en). Somit läßt sich das pragmatische Argument durch ein systematisches ergänzen, und das stützt sich auf die Beobachtbarkeit der Unhintergehbarkeit der Interpretation. Zunächst einmal spricht die Bedeutung der Interpretation gegen dieses Argument. Wo die Medienwirklichkeit(en) unsere Wirklichkeit immer weiter unterminiert oder gar ablöst, kommt man nicht mehr umhin, Interpretation als die Zugriffsart, ob wissenschaftlich oder nicht, auf diesen Objektbereich anzusetzen. Wo nun der Phänomenbereich der Medienwirklichkeit zum Objektbereich der Wissenschaft wird, geht mit der Konstruktion von Medienwirklichkeit(en) eine Totalisierung (natürlich auch eine immer feinere Spezialisierung) der Interpretationsfundierung einher.

Dabei muß man zugeben, daß noch nicht einmal in dem Bereich einer eingespielten Interpretationspraxis, wie sie im Rahmen schulischer und universitärer Literaturvermittlung (und ihrer Prüfungsordnungen) vorhanden ist, diese Praxis auf ein fundiertes und somit verobjektivierbares Interpretationskonzept zurückgreifen kann. Man muß darüber hinaus zugegeben, daß diese Praxis der Interpretation überhaupt nur aufgrund ihres Eingespieltseins und ihrer Institutionalisierung unter dem Label 'Wissenschaft' z.B. als Literaturwissenschaft in den entsprechenden Bezeichnungen z.B. von Publikationen oder Institutsnamen firmieren kann.

Das entscheidende Argument dieses Plädoyers für die Wissenschaft lautet, daß die Unhintergehbarkeit der Interpretation durchaus auch wissenschaftlich beobachtet werden kann und daß diese Beobachtung substitutiv bei den Beobachtungen auf erster Stufe, die man Interpretation(en) nennt, an die Stelle der Fundierungslücke, die ich als Unhintergehbarkeit der Interpretation bezeichnet habe, treten kann. Dazu ist es notwendig, zu beobachten, wie beobachtet (interpretiert) wird. Auf dieser Ebene erscheint die Unhintergehbarkeit der Interpretation als blinder Fleck der Beobachtung (Interpretation) auf erster Ebene, der allerdings beobachtet werden kann. Es sind die systemtheoretischen Ansätze, die es erlauben, solche Beobachtungspositionen überhaupt erst einmal zu formulieren. Voraussetzung dafür ist, auch wenn es tautologisch klingt, daß sie das Konzept der Beobachtung in dieser Form erst zur Verfügung stellen. Ich kann nun diese Konzeption an dieser Stelle nicht weiter ausführen und auch nicht skizzieren, wie dieses Konzept eine Reformulierung der Interpretation erlaubt, wie die Begriffe Interpretation, Wahrnehmung und Medien in diesem Theorierahmen zusammenhängen und wie die Beobachtung der Beobachtung den blinden Fleck der Beobachtung dennoch operationalisierbar macht. Ich gehe aber davon aus, daß eine Chance besteht, dort, wo die Entscheidung zwischen Wissenschaft und Essayistik ansteht, die Entscheidung zugunsten der Wissenschaft zu treffen - nicht um der Wissenschaft willen, sondern um der Funktion willen, die wir übernehmen, wenn wir uns als Wissenschaft Treibende selbst beschreiben.

Subversion - das meint die gegenläufigen Differenzierungen. Habe ich meine Überlegungen mit einer Differenzierung zwischen Wissenschaft und Essayistik begonnen und habe ich mich daher selbst auf die Seite der Wissenschaft gestellt, so enden diese Überlegungen mit einem Plädoyer für die Wissenschaft. Das heißt: Diese Überlegungen haben die Grenze der Differenz zwischen Wissenschaft und Essayistik gewechselt. Denn schließlich eignet dem Plädoyer immer ein unabdingbar essayistisches Moment an. Die Grenzen bleiben überschreitbar: Man kann die Differenz zwischen Wissenschaft und Essayistik wissenschaftlich oder essayistisch fassen. Es bleibt eine Entscheidung!



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