Theorie-Text-Relationen als Interpenetrationszonen, Nathanaels Beziehung zu Olimpia als Interpenetrationszone, Texte als Black BoxesOlimpia als Black Box, Olimpias Augen als Black Box


Nina Ort

Interpenetrationszonen zwischen Theorie und Literatur

Abstract: Bisher haben wir Theoriedesigns entworfen, um mit ihnen Wirklichkeit zu modellieren. Auf einmal zeigen Theorien und Wirklichkeit ein seltsames Eigenverhalten, so daß nicht mehr entscheidbar ist, wer wen interpretiert oder kontrolliert ...

 

Neue Theoriearchitekturen haben die schöne Eigenschaft, Interpenetrationszonen (1) zu eröffnen. Mit Interpenetration sei hier die gegenseitige Durchdringung verschiedener Systeme gemeint. "Wo Interpenetration vorliegt, nehmen dieselben konkreten Phänomene an mehreren analytischen Systemen teil." (2) Georg Jäger beschreibt in einem luziden Beispiel Buchverlage als eine solche Interpenetrationszone, die Wirtschaft und Kultur, als zwei Subsysteme des sozialen Systems miteinander verbindet.
Am Beispiel des Black Box-Modells von Ranulph Glanville (3) möchte ich versuchen, vorzuführen, wie sich Literatur und Literaturtheorie erfolgreich interpenetrieren.
Dies geht, seit Theorie eine autoreflexive Dimension gewonnen hat und sich zum Beispiel in der Systemtheorie als einer Differenztheorie, radikal aber im "kybernetischen Konstruktivismus" (4) selbst beobachtet, bzw. als integralen Bestandteil aller Beobachtung mitbeobachtet.

Ein literarischer Text erscheint zunächst als Black Box. Der Beobachter weiß nichts über ihn. Er kann ihn lesen. Aber auch dann weiß er nichts darüber, was der Text ist, denn er hat nur als autopoietisches, strukturell geschlossenes System eine Sinnkonstruktion hervorgebracht. In den Worten Bernd Scheffers (5): "Die Parallelität von Wahrnehmung, Erkenntnis, Wissen und Interpretation hat vor allem dies zur Folge: Die genauere Untersuchung der «Gegenstände» von Welt und Literatur wird primär die Eigenschaften von Beobachtern, nicht die der «Gegenstände» zum Vorschein bringen."
Der (kybernetische) Konstruktivismus beobachtet nicht mehr Eigenschaften, die einem Objekt (also beispielsweise einem Text) unterstellt werden, sondern vielmehr solche, die im Beobachter vermutet werden. (6) Ich möchte diesen Sachverhalt noch ein wenig steigern: Eigenschaften können nicht einmal im Beobachter oder in einem beobachtenden System (Theorie) liegen, weil dies unlogisch wäre. Um dieses Problem zu lösen, verwende ich das Modell der Black Boxes. Das Black Box-Modell ermöglicht es, Beschreibungen zu beobachten, anstatt Eigenschaften.
In diesem Sinne, so kann man sagen, beschreibt Theorie sich selbst, wenn sie einen Text beschreibt. Anders ausgedrückt: Mit Hilfe eines (literarischen) Textes kann Theorie eine erfolgreiche Selbstbeschreibung leisten und sich darüber auch verifizieren bzw. falsifizieren. Mit nochmals anderen Worten: Es gibt eine prinzipielle Unentscheidbarkeit darüber, ob Theorie einen Text oder ob ein Text Theorie interpretiert.
Man kann natürlich auch mit einem literarischen Text eine Theorie beschreiben, und somit eine Selbstbeschreibung des literarischen Textes anfertigen. Diese beidseitige explikative Funktion hat Nikolai Vogel (in seiner Magisterarbeit) beispielhaft herausgearbeitet. Ich nehme (ähnlich wie Glanville) an, daß die definitive Zuschreibung, wer was womit beschreibt, im Grunde unmöglich ist.
Theorie und literarischer Text können aufeinander bezogen werden wie eine Black Box und ein Beobachter (der für die Black Box ebenfalls eine Black Box ist). Beide bleiben trotz aller Interaktion füreinander schwarz. Die historisch stabilen Input- und Outputgrößen jedoch, die sie durch Interaktion erzeugen können, möchte ich im folgenden als Interpenetrationszone beschreiben. Denn wenn, wie der Konstruktivismus gezeigt hat, Eigenschaften nicht mehr im Text liegen, dann müssen sie in der Relation zwischen Text und (beobachtender) Theorie liegen. Ähnlich wie Wirtschaft und Kultur im Verlag (Interpenetrationszone) eine Art Symbiose eingehen, könnte man auch die Relation zwischen (literarischen) Texten und Theorie aus einer kybernetisch-konstruktivistischen Perspektive symbiotisch nennen. Die Interpenetrationszone bildet hier keine "Institution" (wie z.B. ein Verlag), sondern ist Effekt der Interaktion - sie kann hier nur im Vollzug und als Vollzug der Interaktion beschrieben werden. Dieser Ansatz ist nicht nur viabel, sondern wird auch, wie ich zeigen werde, "leidenschaftlich gelebt" und von literarischen Texten bestätigt.

E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann (7) eignet sich hervorragend dafür, unter diesen theoriebautechnischen Prämissen als Beispiel herangezogen zu werden. Die (kybernetisch) konstruktivistische Konstruktion dieses Textes vollzieht, was sie beschreibt. Ich konstruiere: Wie jeder gute Text thematisiert auch der Sandmann das Schreiben bzw. das Beschreiben. Die Erzählung beginnt mit dem "Zitat" zweier Briefe, erst danach spricht der Erzähler den Leser an - dies jedoch mit Worten, die die bereits begonnene Erzählung in Frage stellen: "Mich hat, wie ich es Dir, geneigter Leser! gestehen muß, eigentlich niemand nach der Geschichte des jungen Nathanael gefragt [...]" (8) Damit wird der schlichte Vollzug von Kommunikation bzw. Interaktion zum Thema. Der Erzähler wird seine Geschichte im folgenden dennoch los, und sie erweist sich überall als eine Beschreibung des Schreibens und der Kommunikation. Nathanael verliebt sich in eine Puppe, eine Automate, Olimpia, die er zunächst nur aus der Ferne, im Haus gegenüber gewahrt und durchaus für lebendig hält. Er bemerkt nicht, daß er sie selbst als Lebendige konstruiert, als er sie heimlich mit einem Fernglas beobachtet: "Doch wie er nun immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien ihm, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke." (9) Nathanael als ebenso eifriger Schreiber wie Hoffmann und der Erzähler der Geschichte (10) dichtet in seiner steigenden Verliebtheit, aber auch, um Kindheitstraumata zu kompensieren und stößt damit bei seiner Freundin Clara (deren Bild aber inzwischen fast "[...] ganz aus seinem Innern gewichen [...]" (11) war) auf taube Ohren. Wie dem Erzähler geht es auch ihm dabei darum, das Geschriebene "recht lebendig zu kolorieren" (12).
Nathanael konstruiert seine Olimpia als lebendig und er konstruiert Texte so, daß sie lebendig werden - auch dies gelingt ihm in erster Linie für sich selbst: "Den riß seine Dichtung unaufhaltsam fort, hochrot färbte seine Wangen die innere Glut [...]" (13)
Die eigentümliche Blindheit, mit der Nathanael geschlagen ist, und die ihn weder die Gespenster seiner Kindheit, noch Olimpia als Automate erkennen läßt, macht ihn zum Konstrukteur von Black Boxes.

 

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Erst sein Input, sein verliebtes Beobachten von Olimpia erzeugt den Output ihrer sanft leuchtenden Augen. Seine Anrede, er "sprach hoch entflammt und begeistert von seiner Liebe in Worten, die keiner verstand, weder er, noch Olimpia" (14), erzeugt Olimpias sprachlichen Output: "Ach - Ach - Ach!" (15) Es geht hier also nicht um kommunizierte Bedeutungen (im Sinne von: Eigenschaften), wenn keiner der Beteiligten die gesprochenen Worte versteht, oder wenn diese von vornherein desemantisiert sind ("Ach!"); es geht vielmehr um den Stabilität erzeugenden Vollzug der Interaktion, der Bedeutung (welche auch immer) erzeugt.
Denn mehr kommt von Olimpias Seite nicht, aber gerade dieses wenige veranlaßt Nathanael, sich immer mehr von der gegenseitigen Liebe zu überzeugen, ein Mechanismus, der durchaus durch die konstruktivistische Theorie bestätigt würde: "Je verlässlicher die Wiederholung so eines Erlebnisses sich heraufbeschwören läßt, um so solider wird der Eindruck seiner Wirklichkeit." (16)
Und Nathanael beschwört inbrünstig, d.h. er konstruiert Wirklichkeit : "[...] er lebte nur für Olimpia, bei der er täglich stundenlang saß und von seiner Liebe, von zum Leben erglühter Sympathie, von psychischer Wahlverwandtschaft (17) fantasierte, welches alles Olimpia mit großer Andacht anhörte. Aus dem tiefsten Grunde des Schreibpults holte Nathanael alles hervor, was er jemals geschrieben. Gedichte, Fantasien, Visionen, Romane, Erzählungen, das wurde täglich vermehrt mit allerlei ins Blaue fliegenden Sonetten, Stanzen, Kanzonen, und das alles las er Olimpia stundenlang hintereinander vor, ohne zu ermüden. Aber auch noch nie hatte er eine solche herrliche Zuhörerin gehabt." (18)
Diese gemeinsam verbrachten Stunden zeigen Nathanael und Olimpia in ihrer Interaktion als eine White Box.

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Genauer gesagt: Die White Box (die "Weiße" daran) ist genau das, was ich als Interpenetrationszone bezeichne. Für Nathanael ist alles klar (eben weiß): "Sie spricht wenig Worte, das ist wahr; aber diese wenigen Worte erscheinen als echte Hieroglyphe der innern Welt voll Liebe und hoher Erkenntnis des geistigen Lebens in der Anschauung des ewigen Jenseits:" (19) Ihre Beziehung ist stabil solange Olimpias Output "Ach!" als Nathanaels Input dafür ausreicht, den eigenen Output des stundenlangen Fantasierens anzuregen. Und für Nathanael ist alles andere unwichtig: "Vom Gesichtspunkt des Handelnden ist es irrelevant, ob seine Vorstellungen von der Umwelt ein »wahres« Bild der ontologischen Wirklichkeit darstellen - was er braucht, ist eine Vorstellung, die es ihm erlaubt, Zusammenstöße mit den Schranken der Wirklichkeit zu vermeiden und an sein Ziel zu kommen." (20)

Dieser Zusammenstoß bleibt in der Erzählung natürlich nicht aus. Für Nathanael bedeutet er sogar den Tod. (Ganz Im konstruktivistischen Sinne erweist sich seine Konstruktion schließlich eben doch nicht als viabel. "»Angepaßt sein« heißt also eigentlich nicht mehr, als überlebt zu haben [...]" (21). Und dies gelingt ihm eben nicht - aber das ist ein anderes Kapitel und hängt mit dem erwähnten Kindheitstrauma zusammen.) Über eine gewisse Spanne der Stabilität des Black Box-Konstrukts jedoch erweist sich Nathanael als unangreifbar. Obwohl er Stabilität und damit Weiße hergestellt hat, bleibt die Black Box (Nathanael, Olimpia und die von ihnen erzeugte Interpenetrationszone) für Außenstehende schwarz (vgl. obige Abbildung: white in - black out). Von außen wird der Wert der Beziehung und Olimpia selbst angefochten:
"»Tu mir den Gefallen Bruder«, sprach eines Tages Siegmund, »tu mir den Gefallen und sage, wie es dir gescheuten Kerl möglich war, dich in das Wachsgesicht, in die Holzpuppe da drüben zu vergaffen?«" (22)
Aber Nathanael läßt sich hiervon nicht beeindrucken. Ihm ist klar: "Nur mir ging ihr Liebesblick auf und durchstrahlte Sinn und Gedanken, nur in Olimpias Liebe finde ich mein Selbst wieder." (23) Natürlich kann man das psychologisch deuten. Nicht minder plausibel läßt sich Nathanaels Liebe jedoch konstruktivistisch reformulieren. Olimpia sagt nur "Ach!", aber das spielt keine Rolle, da es nach dem Konstruktivismus ohnehin "[...] keine Informationsübertragung durch Sprache gibt. Es ist dem Orientierten überlassen, wohin er durch selbständige interne Einwirkung auf seinen eigenen Zustand seinen kognitiven Bereich orientiert. Seine Wahl wird zwar durch die >Botschaft< verursacht, die so erzeugte Orientierung ist jedoch unabhängig von dem, was diese >Botschaft< für den Orientierenden repräsentiert." (24) Nur für Nathanael ist die Box weiß, denn er hat sie konstruiert.

Ich konstruiere Hoffmanns Poetologie: Hoffmann konstruiert den Sandmann aus verschiedenen Erzählperspektiven die zugleich verschiedene Interpretationshaltungen der Erzählung bzw. einzelnen Elementen der Erzählung gegenüber repräsentieren. Dadurch kommt es zu Unentscheidbarkeiten bei der Interpretation. Augen sind beispielsweise ein Topos, der sich in den verschiedensten Varianten durch die gesamte Erzählung zieht. Claras klare Augen, Olimpias mondsanfte bzw. tote Augen, die herausgerissenen Augen aus Nathanaels Kindheitstrauma sowie die optischen Linsen, durch die Nathanael Olimpia zuerst erblickt. An keiner Textstelle jedoch wird klar, ob beispielsweise Olimpias Augen echt sind oder aus Glas. Über die Augen kann nichts Definitives gesagt werden - sie sind Black Boxes. Gerade für solche Fälle hat man ja Black Boxes erfunden: "[...] um die Anfertigung funktionierender Beschreibungen zu ermöglichen, die das beobachtete Verhalten eines Phänomens selbst dann erklären, wenn dieses Phänomen nicht klar sichtbar ist [...] Eine Black Box liefert uns demnach ein Konzept, das uns mit etwas umzugehen erlaubt, was in Wirklichkeit eine unbekannte Welt ist." (25) Olimpias Augen sind hierfür nur ein Beispiel. Olimpia selbst ist ebenfalls schwarz. Ihr minimaler Output "Ach!" entfaltet sich erst in der Interpenetration mit Nathanael zu einem Liebesdiskurs und einer stabilen Rückkopplungsschleife.
Insbesondere ist es jedoch schon der gesamte Text, der wie eine Black Box funktioniert: auch er muß interpretiert, das heißt vom Leser konstruiert werden, und nur in dieser Interpenetrationszone entfaltet er Bedeutung. Aber welche Bedeutung gewinnt der Leser? Im vorliegenden Fall, daß es hier von Black Boxes wimmelt und insbesondere wie Black Boxes funktionieren. Worüber weiß man jetzt mehr? Über Nathanael und Olimpia, über Hoffmann, über den Konstruktivismus, die Black Boxes oder über mich?
Zum Schluß - und damit zitiere ich Nikolai Vogel ebenso wie Hoffmann - muß man sich dem Professor, der in einem Teezirkel die eigenartige Geschichte des Nathanael bespricht, anschließen, wenn er sagt: "»Hochzuverehrende Herren und Damen! merken Sie denn nicht, wo der Hase im Pfeffer liegt? Das Ganze ist eine Allegorie [...]« (26) Denn eine Allegorie funktioniert ganz so wie Theorien und (literarische)Texte mit all ihren Interpenetrationszonen: "[...] denn von dem, was wirklich geschehen ist, heißt es, daß es die Gestalt eines anderen Geheimnisses sinnbildlich vorwegnahm..." (27)



Ausführlichere Angaben zum Thema über e-mail bei der Verfasserin: nina.ort@germanistik.uni-muenchen.de

 

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