Daniel Krause

Gibt es unheimliche Musik?
Ein Antwortversuch.

Es gibt das Unheimliche in der Musik – überall dort, wo die Brüchigkeit der musikalischen Weltordnung aufscheint, zumal in solchen Klängen und Modulationen, die de iure unzulässig sind, aber wie nebenbei zu Gehör gebracht werden, als Teil des musikalischen Alltags. Dergleichen ist weit unheimlicher als effektsichere Soundtracks zu Mystery-Filmen und allerlei Kakophonien. Mephisto ist kein Schreihals.


1. Zu Beginn

Ein vielzitiertes Aperçu Franz Schuberts besagt, er kenne keine fröhliche Musik. Einiges spricht dafür, dass er Recht hat. Zwar gibt es Humor in der Musik, besonders bei Haydn: Das reicht vom derben 'Furzen’ des Fagotts zu süffisanten harmonischen Wendungen und – nicht zuletzt – zur Parodie kompositorischer Einfalt. (1) Auch gibt es heitere Stimmungen, speziell in jenen Sätzen, die mit 'Allegro’ oder 'Andante’ überschrieben sind. 'Allegria’ meint ja nichts anderes als Heiterkeit. Doch Fröhlichkeit? Man müsste bis Rosamunde hinabsteigen (nicht Schubert ist gemeint!). Ob solche schenkelklopfende Lustigkeit nicht zugleich die Traurigkeit der Depravation verströmt, das mag hier offen bleiben. Für die 'Ernste Musik’ jedenfalls wird man Schubert zustimmen müssen. Wir stellen nun eine andere (gleichwohl ähnlich gelagerte) Frage: Gibt es unheimliche Musik? Allzu leicht verführt sie zur haltlosen Spekulation. Wir wollen nüchtern bleiben, auch um den Preis philisterhaften Biedersinns.


2. Das Unheimliche in der Musik

Es gibt einen 'direkten Draht’ vom Klang durchs Ohr zum Herzen, denn manche Klänge scheinen bei allen Hörern Unbehagen oder – wenigstens – Staunen zu erregen. Hier sind die Tremoli am Beginn einiger Brucknersinfonien zu nennen. Sie bezeichnen (in Bruckners Ton-Symbolik) das Chaos am Anfang der Welt – 'der Geist schwebt über den Wassern’) –, einen Zustand vor der Verfestigung ontischer Strukturen. Das muss uns be-fremden. Es kommt wenigstens in die Nähe des Unheimlichen.
Nun gibt es einen gewichtigen Einwand: Ist diese Erscheinung universell? Empfänden die Eskimo oder die Griechen genauso? Zweifel sind angebracht. Wir tun gut daran, das Unheimliche als 'anthropologische Konstante’ fahren zu lassen. (2)

Betrachten wir also den Aufbau 'unserer’ musikalischen Welt: der neuzeitlichen Kunstmusik des Westens. (Die meisten 'Volksmusiken’ und die Pop-Musik ahmen sie nach.) (3)

i) Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass zwischen Tönen (regelmäßige Schwingung) und Geräuschen (unregelmäßige Schwingung) unterschieden wird. Nicht wenige außereuropäische Kulturen verzichten auf diese Trennung. Für unsere Tradition ist sie wesentlich.

ii) Wie das Frequenzspektrum eingeteilt wird, das hängt von kontingenten Setzungen ab – und variiert nach Zeit und Ort. (4) Im Allgemeinen wird im 18. und 19. Jahrhundert tiefer „eingestimmt“ als heute. Der „Kammerton“ (a’) liegt heute meist bei circa 440 Hz, früher waren es nicht selten 415 Hz. (5)

iii) Welche Intervalle bevorzugt werden – auch das ist kontingent. In unserer Musikkultur sind es Quint und Quart.

iv) Wie Intervalle zu Tongeschlechtern und Tonarten zusammengefasst werden – kontingent. Heute werden zwei Tongeschlechter 'postuliert’: Dur und Moll (und entsprechende Tonarten: C-Dur, D-Dur etc.). Am Rande haben sich die mittelalterlichen „modalen“ Tongeschlechter erhalten.

v) Welche Übergänge zwischen Tonarten zugelassen werden – auch dies ist kontingent. Modulationen über die Quint (d.h. die Dominante), die Quart (Subdominante) und die Terz (Mediante) sind am wahrscheinlichsten.

Die drei letzten Festlegungen lassen sich am berühmt-berüchtigten Quintenzirkel ablesen. Außerhalb des 'Zirkels’ sind die Dur-Tonarten angeordnet, innerhalb des 'Zirkels’ die Moll-Tonarten. Jede Dur-Tonart ist von der ihr zugeordneten Moll-Tonart eine Terz entfernt, von der nächsten Dur-Tonart eine Quint (nach rechts) bzw. eine Quart (nach links). Damit ist vorgegeben, wie die Übergänge zwischen Tonarten („Modulationen“) zu gestalten sind. Kurzum: Der Quintenzirkel beschreibt die harmonische Ordnung 'unserer’ Musik. Er grenzt den Tonartenraum ein und legt dessen innere Zusammenhänge fest.

 


Quelle: http://quintenzirkel.know-library.net


Was hat es nun mit dem Unheimlichen in der Musik auf sich?
Die harmonische Ordnung kann aufgelöst, de-komponiert werden – Ravels La Valse beschreibt diesen Vorgang. Sie kann in statu nascendi vorgeführt werden, ungefestigt, tastend – am Anfang mancher Brucknersinfonie. Sie kann außer Kraft gesetzt, suspendiert werden – das geschieht in der freien Atonalität Schönbergs (um 1910). Zuweilen wird sie ersetzt – durch eine andere Ordnung, z.B. Schönbergs Zwölftontechnik (um 1920), Hábas Vierteltontechnik, Boulez’ Serialismus. Allein das ist nicht das Unheimliche in der Musik. Solche Kompositionen mögen uns aufrütteln oder in Rage versetzen. Unheimlich sind sie uns nicht. Das zeigen die Reaktionen des Publikums. Meist lehnt es dergleichen vehement ab, mit selbstgewisser Borniertheit und kernigem Ressentiment. Es glaubt noch immer zu wissen, was sich gehört: Die 'Ordnung der Töne’ wird nicht erschüttert. Die Regeln sind weiter in Kraft. (6) Unheimlich wird es erst dann, wenn wir nicht mehr gewiss sind, was 'geht’ und was nicht. Wenn die Brüchigkeit und Kontingenz der 'Welt-Ordnung’ zu Gehör kommt – und sei es für den Augenblick. Wenn hörbar wird, dass alles auch anders sein könnte – dann wird uns 'ganz anders’. Effekt, Lautstärke, Kraftmeierei sind nicht erforderlich für solche Irritationen. Das Unheimliche lärmt nicht. Im Gegenteil: Es sind die Unter- und Zwischentöne, die uns verunsichern. Jene Harmonien und Modulationen, die in der 'Ordnung der Töne’ nicht vorgesehen sind, aber wie nebenbei, wie Trivialitäten daherkommen. Mezzoforte oder Piano (nicht Forte oder Pianissimo) lauten die typischen Vortragsbezeichnungen. Die größten Katastrophen geschehen im Vorübergehen. (Der Teufel steckt im Detail.) Dann spüren wir: Kein Halt, nirgends.

Wo finden sich solche Verstörungen? Dort, wo so mancher reinen Wohlklang vermutet: Bei Mozart, z.B. im Dissonanzenquartett KV 465. Zunächst scheint der Meister von Harmonik nichts wissen zu wollen: Die Welt ist aus den Fugen. Das ist nicht eigentlich unheimlich, wir wiesen darauf hin. Unheimlich wird es danach: Die Dissonanzen haben unvermittelt ein Ende. Es beginnt diatonischer Alltag – als sei nichts geschehen: Ein dem Anschein nach harmloses Thema, C-Dur. Die Selbstverständlichkeit des Übergangs schockiert.
Ein anderes Beispiel: Das Sanctus von Schuberts Messe Es-Dur durchmisst vier (teils abseitige) Tonarten – in sieben Takten. Zugegeben: Sakralmusik ist prädestiniert, 'jenseitige’ Klänge hören zu lassen. Doch der harmonische Kontext der Messe ist relativ konventionell. (Das gilt auch für Mozarts und Beethovens Beiträge zum Genre.) Kein Zufall also, dass die wilden Modulationen des Sanctus uns frösteln lassen.
Wohlgemerkt: Dies sind Werke des Kanons, gängiges Konzertrepertoire. Die 'Klassische Musik’ trägt das Prinzip ihrer (harmonischen) 'Dekonstruktion’ in sich. Eben darum ist sie Kunst, nicht Kitsch.


3. Zum Schluss

Wie lässt sich die Richtigkeit unseres Antwortversuchs prüfen? Wir machen dreierlei geltend: Unser Argument ist verständlich. (Das könnte auch anders sein.) Es ist kohärent. (Daran halten wir fest, bis zum Nachweis des Gegenteils.) Unser Argument ist im Ergebnis plausibel: Es weist diejenigen 'Stellen’ als unheimlich aus, die unserer Alltagserfahrung unheimlich scheinen.


Hinweis

Die Musiker des Alban-Berg-Quartetts und das Franz-Schubert-Quartetts haben gute Einspielungen des Dissonanzenquartetts vorgelegt.
Wolfgang Sawallisch und der Sächsischen Staatskapelle verdanken wir eine strenge, unsentimenale Lesart der Messe Es-Dur. Sie bringt das Verstörende dieser Musik umso eindrucksvoller heraus.

Fußnoten

  1. Das bekannteste Beispiel ist Mozarts Ein musikalischer Spaß, KV 522. Hier werden dümmliche Komponisten aufs Korn genommen. (zurück)
  2. Das schließt wohlgemerkt nicht aus, dass unterschiedliche musikalische Erscheinungen bei Angehörigen verschiedener Kulturen ähnliche oder gleiche körperliche und geistige Empfindungen auslösen. (zurück)
  3. Kein Zweifel: Längst gibt es Musik, die sich außerhalb dieser Tradition einordnet, man denke nur an Minimal Music oder die Kompositionen Feldmans. Für diese Art Musik sind wir nicht zuständig. Wir können lediglich vermuten, dass sie ihr eigenes Unheimliches hervorgebringt: indem sie Ordnungsmuster etabliert – und unterläuft. (zurück)
  4. Eine entscheidende Zäsur ist die Einführung der „gleichschwebenden Temperatur“ Mitte des 18. Jahrhunderts. Hier beginnt die musikalische Neuzeit: Von jetzt an werden Instrumente so gestimmt [=temperiert], dass sie in alle Tonarten modulieren können. Erst jetzt wird es möglich, den Tonartenraum auszuschöpfen. Aus diesem Anlass hat Bach sein Wohltemperiertes Klavier geschrieben. (zurück)
  5. Dass niedriger eingestimmt wurde, hat praktische Gründe: Die Darmsaiten der alten Streichinstrumente konnten höhere Spannungen (mithin höhere Töne) weniger leicht verkraften als moderne Stahl- oder Nylonsaiten.
    Die hohe Stimmung unserer Tage hat einen bemerkenswerten Effekt: Die Musik des Barock (sowie der Klassik und der Romantik) wird um einen Halbton zu hoch aufgeführt, gleichsam transponiert. Auch daher erklärt sich der Erfolg der 'Originalklangbewegung’. (zurück)
  6. Der Tritonus (die übermäßige Quart) kann also nicht als unheimlich gelten – obwohl er niemand geringeren als den Leibhaftigen symbolisiert („diabolus in musica“): Er lässt die symbolische Ordnung der Töne intakt, ja er bestätigt sie. (zurück)

Kontakt: Daniel.Krause1@gmx.de Veröffentlicht am 06.10.2006

   
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