Daniel Krause

„Renaissance des Erzählens”? –
Eine Fußnote zur Gegenwartsliteratur mit Blick auf John Barth

Zu den einflussreichsten Wortmeldungen zeitgenössischer Literaturtheorie zählen zwei ‚klassisch’ zu nennende Essais aus der Feder John Barths: The Literature of Exhaustion (1967) und The Literature of Replenishment (1979). Wenn die neue ‚Lust’ an (konventionellen) erzählenden Formen dingfest gemacht werden soll, werden sie häufig zitiert. Darüber hinaus reklamiert man sie für den ‚Postmoderne’-Diskurs. Beide Lesarten gehen in die Irre: Die erste, weil Barth keineswegs für eine Kunst des Romans nach Art des 19. Jahrhunderts eintritt, die zweite, weil seine Essais wenig geeignet erscheinen, der sog. ‚Postmoderne’ Kontur zu verleihen.



1. Zu Beginn

Man spricht von einer ‚Renaissance des Erzählens’ in der Gegenwartsliteratur. In diesem Zusammenhang wird häufig John Barth bemüht, einer der meistzitierten Autoren des ‚Postmoderne’-Diskurses: (1) Seine Arbeiten lassen, so heißt es, die neue Wertschätzung für epische Gattungen im Allgemeinen und ‚konventionelle’ Erzählweisen im Besonderen erst verständlich werden. Mit den Konzepten ‚literature of replenishment’ und ‚Postmoderne’ habe er jene Entwicklung antizipierend zu fassen versucht – durchaus erfolgreich. Wir wollen zeigen, dass hier ein doppeltes Missverständnis vorliegt. Weder lässt Barth sich für die Romane der Franzen, Safran Foer, Mankell oder Kehlmann reklamieren. (Eher schon für die Avantgardeliteratur; er spricht sie, recht missverständlich, als ‚literature of exhaustion’ an.) Noch trifft es zu, dass er taugliche Vorschläge zu einer Stil- oder Geistesepoche namens ‚Postmoderne’ vorlegt: Seine Einlassungen bleiben hier einigermaßen verworren. Auch haben sie wenig Gewicht innerhalb seines Gesamtwerks. Wenige Autoren sind derart gründlich missverstanden worden, auch von vermeintlichen ‚Mitstreitern’.

2. John Barth: The Literature of Exhaustion and The Literature of Replenishment

„Literature of exhaustion“ bezeichnet für Barth die Avantgarde und Klassische Moderne, nicht zuletzt Beckett und Borges. „Literature of replenishment“ meint paradigmatisch Pynchons Romane, aber auch Barths belletristisches Schaffen, z.B. Lost in the Funhouse. Fast immer wird unterstellt, Barth polemisiere gegen „the literature of exhaustion“, ihm sei es darum zu tun, die Avantgarde zu desavouieren (vgl. z.B. McHale 1992, 26ff). Der Ausdruck „Literatur der Erschöpfung“ scheint diese Lesart zu stützen. In Wahrheit lässt The Literature of Exhaustion starke Sympathien für die Avantgarde erkennen. Eine simple Entgegensetzung von ‚schlechter’ (oder verjährter) Moderne und ‚guter’ ‚Postmoderne’ ist jedenfalls nicht festzustellen.

Barth hat 1982 eine Sammelausgabe der beiden Essais herausgebracht. Er schickt ihr Bemerkungen über die Zeitgebundenheit beider Interventionen voraus, v.a. des älteren (The Literature of Exhaustion): Einige ihrer Merkmale (stilistische wie inhaltliche) seien der Jugend des Autors und dem ‚Zeitgeist’ der Studentenrevolte geschuldet. Aber im Kern hält Barth an The Literature of Exhaustion fest:

“But I stand with the main line of its argument: that virtuosity is virtuous, and that what artists feel about the state of the world and the state of the art is less important than what they do with that feeling.” (Ebd., ohne Seitenangabe)

Literarische Virtuosität ist „tugendhaft“. Barth tritt für eine‚Formästhetik’ ein (entgegen einer ‚Inhaltsästhetik’). Emphatisch fordert er formal komplexe Literatur. Dabei hat er v.a. avantgardistische Literatur im Sinn. Wer meint, Barth wolle die Avantgarde disqualifizieren, sitzt einem Missverständnis auf:

“By “exhaustion” I don’t mean anythi ng so tired as the subject of physical, moral, or intellectual decadence, only the used-upness of certain forms or exhaustion of certain possibilities – by no means necessarily a cause for despair.” (Ebd., 1)

Barth bekundet mehrfach tiefen Respekt und Verehrung für die Heroen der Klassischen Moderne. Er stellt sie weit über das Gros der zeitgenössischen Autoren. Für Zwecke einer Polemik gegen die Avantgarde, die Moderne etc. ist Barth schlichterdings nicht geeignet, ebenso wenig für eine Apologie des Romans. Auch The Literature of Replenishment hilft da nicht weiter: Hier hat sich Barths ‚Erkenntnisinteresse’ längst verschoben. Nun geht es um den Begriff ‚Postmoderne’:

“[…] what is postmodernism? When one leaves off the mere recitation of proper names, and makes due allowance for the differe nces among any given author’s works, do the writers most often called postmodernist share any aesthetic principles or practices as significant as the differences between them? The term itself, like “postimpressionism”, is awkward and faintly epigonic, suggestive less of a vigorous or even interesting new direction in the old art of storytelling than of something anticlimactic, feebly following a very hard act to follow.” (2) (Barth 1982, 24)

Zweierlei scheint uns bemerkenswert: Barth bekennt sich zu einer realistischen, nicht-konstruktivistischen Deutung („what is postmodernism?“) und er bevorzugt ein induktives Verfahren. Von der Extension des Begriffs (sie wird durch Beobachtung des Sprachgebrauchs eruiert) soll die Intension abgeleitet werden. (3) Ein rein extensionales Definitionsverfahren bliebe demgegenüber unbefriedigend:

“In any case, we can’t readily discuss what artists aspire to do and what they end up doing except in terms of aesthetic categories, and so we should look further at this approximately shared impulse called postmodernism.” (Ebd., 31)

Ist Barths Unterstellung, allen als ‚postmodern’ apostrophierten Autoren sei ein gemeinsamer kreativer „Impuls“ eigen, gerechtfertigt? Wie wäre er vorzustellen?

‚Postmoderne’ wird gleichsam ‚ex negativo’ definiert:

“If the modernists, carrying the torch of romanticism, taught us that linearity, rationa lity, consciousness, cause and effect, naive illusionism, transparent language, innocent anecdote, and middle-class moral conventions are not the whole story, then from the perspective of these closing decades of our century we may appreciate that the contraries of these things are not the whole story either. Disjunction, simultaneity, irrationalism, anti-illusionism, self-reflexiveness, medium-as-message, political olympianism, and a moral pluralism, approaching moral entropy – these are not the whole story either.” (Ebd., 34)

Die ‚positive’ Definition folgt auf dem Fuße:

“A worthy program for postmodernist fiction, I believe, is the synthesis, or transcension of these antitheses, which may be summed up as premodernist and modernist modes of writing.” (Ebd., 34)

Jene Synthese wird ‚negativ’ erläutert:

“My ideal postmodernist author neither merely repudiates nor merely imitates neither his twentieth-century modernist parents nor his nineteenth-century premodernist grandparents.” (Ebd., 34)

Barth geht offenbar nicht induktiv vor. Er ‚setzt’ das „Programm“ einer „idealen“ ‚Postmoderne’. Allerdings bleibt es vage: Ist es Barth um eine ‚Schnittmenge’ der beiden ‚Merkmalsreihen’ zu tun (welche Schnittmenge wäre es?), oder um eine ‚Vereinigungsmenge’: Sind die beiden Mengen zu ‚addieren’? Wie wäre eine ‚Addition’ zu bewerkstelligen? Einige Merkmale sind unvereinbar: Wie könnte eine literarische Äußerung vernünftigerweise als „rational“ und „irrationalistisch“ gelten? Oder sollen wir Barth als Dialektiker, ja ‚Kryptohegelianer’ begreifen? Das macht den Fall kaum einfacher…

Barth insinuiert, „irgendwie“ ließen die Gegensätze sich überbrücken:

“The ideal postmodernist novel will somehow rise above the quarrel between realism and irrealism, formalism and “contentism”, pure and committed literature, coterie fiction and junk fiction.” (Ebd., 34f)

Das erinnert an Jencks’ und Ecos Rede von der populär-elitären „doppelten Codierung“ des ‚postmodernen’ Kunstwerks. Vertraut ist auch die Figur der zeitlichen Überdehnung: Neben Zeitgenossen wie Calvino (Cosmicomics) und García Márquez (Centos anos de soledad) werden Cervantes und Dickens für ‚Postmoderne’ reklamiert (ebd., 36). Ob ‚Postmoderne’ eine Epoche oder eine zeitenthobene ‚Mentalität’ (im Sinne des Manierismus?) bezeichnet, wird nicht entschieden. Die Meinung, ‚Postmoderne’ sei ein Epochenbegriff, wird aber an einer Stelle gründlich diskreditiert: Hier geraten alle Epochenbegriffe ins Wanken. Barth zitiert eines der ältesten literarischen Zeugnisse, eine wahre Trouvaille. Der ägyptische Schreiber Khakheperresenb (um 2000 vor Christi Geburt) äußert sich folgendermaßen:

„Would I had phrases that are not known, utterances that are strange, in new language that has not been used, free from repetition, not an utterance that has grown stale, which men of old have spoken.“ (Ebd., 39)

‚Literatur der Erschöpfung’ – 4000 Jahre bevor die Rede von ‚Moderne’ und ‚Postmoderne’ aufkommt. Sollte die Idee der Avantgarde, selbst deren Niedergang, von jener Zivilisation antizipiert worden sein, die (nicht zu Unrecht) als Inbegriff zeitentrückter Fortschrittsferne gilt? Nichts Neues unter der Sonne? Der Literaturgeschichtsschreibung – ob sie von ‚Klassik’, ‚Realismus’, ‚Moderne’ oder ‚Postmoderne’ handelt – ließe sich keine gute Prognose ausstellen…

Barths Einlassungen sind stilistisch brillant, und angenehm unprätentios. Manches Problem bleibt aber unaufgeklärt. Gern erführe man mehr über Barths Begriff der „Synthese“, über die Vereinbarkeit der Merkmale moderner und ‚postmoderner’ Literatur. Was unter ‚Postmoderne’ zu verstehen ist – wir erfahren es nicht. Immerhin: Barth verzichtet auf Scheinlösungen. Probleme werden schlichtweg umgangen. Das ist der Preis für ein geistreiches, wohlartikuliertes Stück Prosa.

Zum Schluss

Nehmen wir an, The Literature of Exhaustion und The Literature of Replenishment wären ein Vierteljahrhundert später erschienen. Was hielte Barth von der Literatur unserer Zeit? Eines ist sicher: Er träte nicht für Romanciers vom Zuschnitt Franzens, Safran Foers, Mankells oder Kehlmanns ein. Er ließe sich nicht vor den Karren einer ‚Inhaltsästhetik’ spannen, zumal, wenn sie die Suchbewegungen der Avantgarde für überlebt erklärt. Barth polemisiert von Anfang an gegen die ‚Renaissance des Erzählens’: (4)

„A good many current novelists write turn-of-the-century-type novels, only in more or less mid-twentieth-century language and about contemporary people and topics; this makes them considerably less interesting (to me) than excellent writers, who are also technically contemporary: Joyce and Kafka, for instance, in their time, and in ours, Samuel Beckett and Jorge Luis Borges.” (Ebd., 3)

So gesehen ist die Klassische Moderne ‚Literatur der Fülle’. Barth wechselt (so scheint es) die Seiten.… Ihn für die neue ‚Lust’ des Erzählens in Anspruch zu nehmen, ist jedenfalls gänzlich verfehlt. Auch zum Anwalt ‚postmoderner’ Literatur mag er nicht taugen, wir sahen es. Man muss sich anderer Kronzeugen bedienen (aber welcher?) – oder ‚Postmoderne’ fahren lassen.


Fußnoten

  1. Es verhält sich wie bei so vielen ‚Klassikern’: Sie werden zitiert, doch nicht gelesen. The Literature of Exhaustion und The Literature of Replenishment sind bezeichnenderweise an den großen Münchner Bibliotheken nicht greifbar. (zurück)
  2. Weshalb wird der „Postimpressionismus“ bemüht, eine Stilepoche, die um fast 100 Jahre zurückliegt? Barth spielt wohl auf John Watkins Chapman an, jenen britischen Maler, der den Ausdruck ‚Postmoderne’ in den 1870er Jahren erfindet und auf die postimpressionistische Malerei anwendet (vgl. Welsch 1988, 7). (zurück)
  3. Hier deutet sich ein performativer Selbstwiderspruch an, denn Barth geht es um mehr als die Rekonstruktion eines Sprachgebrauchs: Er wird eine Empfehlung aussprechen, wie ‚Postmoderne’ zu verstehen sei. Von deskriptiven geht er unvermittelt zu normativen Sätzen über. (zurück)
  4. Um es ganz deutlich zu sagen: Wir üben ‚Urteilsenthaltung’. Ob Franzen und seinesgleichen tatsächlich gute oder schlechte Literaten sind, ist nicht unser Thema. Uns ist es darum zu tun, ob Barth zu Recht als Anwalt der neu-alten Kunst des Romans rezipiert wird. (zurück)


Literatur

Barth, John: The Literature of Exhaustion and The Literature of Replenishment , Northridge 1982.

Eco, Umberto: Postille a “Il nome della rosa”, Milano 1983, (dt.): Nachschrift zum “Namen der Rose”, München 1984.

McHale, Brian: Constructing Postmodernism, New York 1992.

Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988.

Kontakt: Daniel.Krause1@gmx.de Veröffentlicht am 04.10.2006

   
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