Hypertext / Netart / Multimedia / Literatur


Dirk von Gehlen

Ein weites Feld im Cyber-Space:
Literatur im Internet bringt Schrift und Bild in Bewegung

 

Abstract: Sie ist nicht tot. Das Internet, der Videorecorder, die Computerspiele - sie alle konnten ihre Regentschaft nicht beenden. Die düsteren Visionen vom Sturz der Königin der Worte haben sich nicht bewahrheitet. Die Literatur lebt. Nicht immer ganz so festlich, wie es einige gerne hätten. Nicht immer ganz so gut, wie man es den Lesern wünscht. Aber die Literatur ist in Bewegung. Und wie eine gute Regentin hat sie sich neue Berater gesucht: dank Internet bindet sie wie selbstverständlich Filmelemente in ihre Arbeit ein. Auch der Umgang mit Tönen ist der altehrwürdigen Literatur nicht mehr fremd. Dank Hypertext erfindet sie sich neu. Die Literatur ist in Bewegung.

"Diese Geschichte habe ich in der Nacht vom 22. auf den 23. von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh geschrieben." Ein Tagebucheintrag zur Entstehung eines Textes. Eine Notiz von einem Computer-Verrückten vielleicht, der seine Nächte vor dem Bildschirm durchwacht? Nein, diese Notiz stammt aus dem Tagebuch von Franz Kafka, im Jahre 1912 hat er sie geschrieben. Sie bezieht sich auf die Erzählung "Das Urteil", im September 1912 "in einem Zug geschrieben", ohne Unterbrechung, ohne Pause, ohne Ablenkung. Klick.

Heute. Auch fast 90 Jahre später, am Ende des Jahrhunderts, stemmen sich Nacht für Nacht unzählige Literaten gegen den Schlaf. Sie trommeln auf die kleinen Buchstaben-Quadrate ihrer Tastatur, verschieben den Zeiger ihrer Maus und lassen sich betören vom Summen ihrer Computers. Holen sich Ablenkung, Unterbrechung aus dem Internet. Literatur verändert sich. Doppel-Klick.


Kafka vor dem Computer

"Es ist natürlich ein Schock, elffach seiner eigenen Hauptperson gegenüberzustehen, bevor man einen Satz geschrieben hat", gesteht Matthias Politycki. Elf Schauspielschülerinnen stehen vor ihm, elfmal "Marietta" (so der Titel seines Romans). Sie sind das Angebot an die Internet-Nutzer, die Politycki online dabei beobachten wollen, wie er seinen Roman verfaßt. Sie dürfen auswählen, wie Marietta aussehen soll, sie dürfen Vorschläge zum Verlauf der Geschichte machen. Mittlerweile gibt es vier konkurrierende Haupthandlungen von "Marietta" - wie sie aussieht, ist hingegen schon entschieden. Literatur ändert sich.

Politycki ist einer der bekanntesten deutschen Internet-Literaten. Mit Hilfe des ZDF macht der Autor seine "Novel in Progress" und damit sich selber bekannt. Doch das Internet ist unzähligen anderen Literaten Plattform und Bühne - mit unterschiedlichem Anspruch: Nachwuchsschreiber, Computer-Fanatiker und Mitteilungswillige, die es nicht an die Oberfläche der Zeitungs- und Fernsehöffentlichkeit geschafft haben. In den weltweiten Welten hinter dem Bildschirm veröffentlichen sie ihre Texte. Allein 270 dieser Projekte hat der Web-Wettbewerb Pegasus auf seiner Seite versammelt. Alle, "die die ästhetischen und technischen Mittel des Internet einsetzen, um Sprache zu gestalten und neue Ausdrucksformen zu entwickeln", lud die Wochenzeitung DIE ZEIT gemeinsam mit IBM Deutschland zu eben diesem Wettbewerb ein.


Gefilmte Buchseiten als Abendprogramm

Man tut sich schwer, Orientierung zu finden in der Fülle der unterschiedlichen Literatur-Angebote. Welche sind lesenswert? Welche sind schlecht? Was davon ist überhaupt Literatur?

Um ihnen gerecht zu werden, sollte man zunächst diejenigen, die sich auf das neue Medium einlassen und dessen spezifische Möglichkeiten nutzen, von denen unterscheiden, die das technische Angebot lediglich gebrauchen, um Erfahrungen des gedruckten Wortes eins zu eins auf den Bildschirm zu übertragen. Letztere benutzen den Bildschirm wie eine gedruckte Papierseite. Beispiele für diese Art des Umgangs mit dem neuen Medium finden sich zugenüge. Zum Beispiel unter CyberZaubr. Auf der Seite namens "Sterntaler" werden "Gedichte der eher zarten, liebevollen Art" veröffentlicht: weiße Schrift auf schwarzem Grund. Diese Seiten brauchen das Internet nicht. Keine Animation, keine Bewegung, keine Töne - Sterntaler und andere vergleichbare Seiten sind Versuche, ein neues Medium zu erkunden, aber mit alten Mitteln. Ihre Darstellung kommt dem Versuch nahe, gedruckte Buchseiten fürs Fernsehen abzufilmen und das komplette Buch als Abendfilm zu senden.

Literaturprojekte, die sich auf das Medium Internet einlassen, seine Möglichkeiten nutzen und der Königin Literatur zu einer weiteren Regierungszeit verhelfen wollen, unterscheiden sich davon grundlegend - auf verschiedenen Ebenen.


Fliegende Buchstaben im Irgendwo-Land

Am offensichtlichsten ist der Unterschied bei Projekten, die Ton, Bewegung und Bildaspekte nutzen. Ein gelungenes Beispiel ist das Projekt "Alle werden glücklich" vom Pegasus-Wettbewerb. Wer über die notwendige Software verfügt (kann über einen Link heruntergeladen werden), kann Buchstaben geräuschvoll auf sich zufliegen sehen. In zahlreichen Schritten wird, akustisch und visuell untermalt, die Geschichte eines "jungen Mädchens, 15 vielleicht" erzählt. Der surfende Leser gleitet mit ihr durch eine Konsum- und Medienwelt im "Irgendwo-Land", das zwischen Traum und Realität liegt. Man hört ihre Schritte klappern, wenn der Text verrät, daß sie wegläuft. Aus einem Fernseher, der auf der Seite erscheint, klingen Nachrichten-Schnipsel. Am Ende stellt sich heraus: es war alles nur ein Traum des jungen Mädchens, das in der U-Bahn eingeschlafen ist. War es wirklich nur ein Traum?

Andere Projekte thematisieren das Medium Internet selbst, wie das Projekt "Herr K sucht den Sinn". Hier werden die Internet-Adressen (sogenannte URL's = Universal Resource Locator) von verschiedenen Homepages aufgelistet. Sie führen zu Seiten, die alle Antworten auf die Frage suchen: Was ist Sinn? Wer den Adressen folgt, bekommt zahlreiche Antworten: Einmal taucht ein Comic auf, ein andermal versucht sich eine Religionsgemeinschaft aus der Schweiz an der Beantwortung der Frage. Eine andere Adresse führt auf die Homepage eines Musikers. Die Literatur als Zitat gewinnt nur im Zusammenspel an Bedeutung. Jede Adresse erhält eine Prozent-Wertung. Diese Zahlen werden am Ende addiert und ergeben "1153 % Sinn".


Lösungsmittel Internet

Nicht jeder kann diese Rechnung nachvollziehen. Man muß die Einheiten des Internets kennen, um zu verstehen, wie hier gerechnet wird. Man muß die Kategorien des Word-Wide-Web anlegen, um zu erkennen, wie Literatur im Internet funktioniert. Und so ist der Vorwurf des Ausverkaufs literarischer Standards zugunsten billiger technischer Tricks nichts weiter als der Ausdruck puren Unverstands: Unkenntnis über die neuen Kategorien, die im Internet entstehen, Verblendung gegenüber allem Neuen. Wer Literatur im Internet entdecken will, muß ihre Struktur verstehen.

"Die Lektüre: Eine verkannte Tätigkeit" heißt der Text, in dem der Franzose Michel de Certeau feststellt, "daß sich eine Literatur von einer anderen weniger durch den Text als durch die Art und Weise, wie sie gelesen wird, unterscheidet." De Certeau erwähnt das Internet in seinem Aufsatz nicht explizit, aber zwischen den Zeilen scheint es durch: Im Internet wird anders gelesen. Es gibt keinen Anfang und es gibt kein Ende. Hier wird nicht geblättert, hier wird geklickt. Und angestrichen wird schon lange nicht mehr, es wird gebookmarkt: "Klickeratur" nennt sich diese Stilrichtung manchmal, um sich kategoriengläubiger Kritik ("das ist ja gar keine Literatur") zu entziehen. Ihre Kategorie heißt Hypertext. Dahinter verbergen sich hyperfiktionale Erzählungen, die am Computer gelesen werden müssen. Der Mausklick ersetzt das Umblättern, per Klick wählt man Erzählvarianten aus, per Tastendruck wühlt man sich durch die unterschiedlichen, verzweigten Erzählpfade, ohne Ende, ohne Antwort. Hypertext bietet endlos viele Kombinationen wie ein Stapel Spielkarten.

Das Internet ist selber ein riesiger Hypertext. Die Buchstaben "http", die jede Adresse im Netz einleiten, belegen es. http heißt: Hypertext Transfer Protocol. Im Internet werden Texte mit Texten vernetzt, die mit Texten vernetzt sind. Jeder, der in diesem Netz schreibt, schreibt deshalb mit an diesem riesigen Hypertext. Und jeder, der durchs Internet surft, erschafft sich seinen eigenen Roman. Der Leser als Autor.


Klickeratur und der Stapel Spielkarten

Als Erfinder des Hypertextes für die Literatur gilt Michael Joyce, der "Granddaddy of Hyperfiction", wie er in amerikanischen Zeitungen genannt wird. Für ihn ist Literatur im Internet weit mehr als interaktive Zerstreuung, er sieht Hypertext als Schreibpädagogik. "Hypertext ist die Rache des Textes am Fernsehen", schreibt Michael Joyce. Der Professor für kreatives Schreiben weiß, daß das neue Medium Internet die Autoren zu präziser Planung und ihr Publikum zum exakten Lesen zwingt.

Den Mechanismus, der hinter Hypertext steht, erfand Joyce per Zufall. 1982 kaufte er sich einen Computer, um eine längere Geschichte, an der er arbeitete, besser schreiben zu können. Er war so begeistert von der Möglichkeit, Textblöcke frei verschieben zu können, daß er diese Fähigkeit auch seinen Studenten ermöglichen wollte. Gemeinsam mit Forschern der University Yale erfand er eine "Schreib-Lehrmaschine", die er "Storyspace" taufte. Heute ist "Storyspace" die Sofware für Hyperfiktionen, sie dient als Hilfe in akademischen Schreibseminaren. "Storyspace" kann mehr als das Internet - es öffnet gewisse Seiten erst, wenn andere bereits gelesen wurden. Im Gegensatz zur bunten Spielwiese Internet ist Storyspace ein sauber gepflegter Garten.


Der Leser als Autor

Seit der "Erfindung" von Hypertext sind über zehn Jahre vergangen. Zehn Jahre, in denen Hypertext einen rasanten Aufstieg nahm, unter Kennern gilt Hypertext-Literatur mittlerweile als eigene Gattung. Zehn Jahre, in denen aber auch die Euphorie des Anfangs verflogen ist. Die Hypertexianer haben nämlich festgestellt, daß der Autor sich doch nicht aufgelöst hat. Sie haben entdeckt, daß nicht alles, was im Internet hypergetextet wird, literarisch gut ist. Sie sind abgeklärter geworden. Michael Joyce gesteht: "Es besteht die Gefahr, zu viel zu verlangen von einer unausgereiften Technologie - wie bei der künstlichen Intelligenz geschehen." Doch er zieht einen positiven Schluß: "Aber genauso groß ist die Gefahr, eine Technologie reifen zu lassen, ohne sich einzumischen."

Auch in Deutschland gibt es zahlreiche, sehr ambitionierte Projekte, die sich einmischen. Der Pegasus-Wettbewerb wurde bereits erwähnt. Frühere Mitorganisatoren haben ein weiteres Projekt ins Leben gerufen. Unter www.softmoderne.de versuchen sich sechs Autoren und Autorinnen, die sich im Print-Bereich einen Namen gemacht haben, an dem Projekt "HypertextBerlin". Virtuell oder nicht: Auch in der Hypercity Berlin wird von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh an einem Text gearbeitet. Wahrscheinlich verbindet den Hypertext von heute darüberhinaus nicht viel mit Kafkas "Das Urteil", bis auf das: Beides ist Literatur.



Ausführlichere Angaben zum Thema über e-mail beim Verfasser des Artikels: medienobservationen@lrz.uni-muenchen.de

 

    Sämtliche Beiträge dürfen ohne Einwilligung der Autoren ausschließlich zu privaten Zwecken genutzt werden. Alle Rechte vorbehalten.
© Medienobservationen 1999.