Nina Hautzinger
Vom Buch zum Internet? Über
die Auswirkungen von Hypertext auf Text und Literatur
Abstract: Das Internet verändert
die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche. Der vorliegende
Artikel betrachtet die Auswirkungen, die sich durch Internet und Hypertext
für Text und Literatur ergeben. Die neue Form der Netzliteratur
mit ihren Eigenschaften Nichtlinearität, Links und Hypermedia werden
erörtert und die daraus resultierenden jeweils neuen Rollen von
Autor und Leser thematisiert.
Gesellschaftlicher Wandel und Veränderungen
lösen oft Unsicherheit und ein gewisses Unbehagen aus. Dies gilt
auch für das Aufkommen eines neuen Mediums. Gleichgültig ob
Print, Radio oder Fernsehen, stets war damit eine diffuse Mischung aus
Hoffnungen, Utopien und Befürchtungen verbunden. Auch das rasante
Wachstum des Internets ruft unterschiedlichste Reaktionen von Euphorie
bis Skepsis oder gar radikaler Ablehnung hervor. Das Neue fasziniert
und verunsichert zugleich, und medientechnologischer Umbruch birgt stets
Chancen und Gefahren in sich. Zum einen die Chance, verkrustete Strukturen
zu durchbrechen und innovative Wege zu gehen, zum anderen aber auch
die Gefahr, daß im Zuge des Erneuerungsprozesses bewährte
und wichtige Einrichtungen ebenfalls entsorgt werden. Alle Bereiche
des menschlichen Lebens sind von solch umfassendem Wandel ergriffen
und die Auswirkungen, die das Internet auf Arbeitswelt, Freizeitgestaltung
und Sozialbeziehungen haben wird, sind heute wohl nur schwer vorhersehbar.
Neue Kunstformen im Netz
Der Bereich, der stets sensibel gesellschaftliche
Veränderungen registriert und verarbeitet, ist die Kunst. Hier
werden Neuerungen nicht nur erkannt, sondern auch vorangetrieben. In
Bezug auf die vonstatten gehende Medienrevolution bedeutet dies: die
älteren Medien reagieren nicht nur auf das Internet und begleiten
die Entwicklung kommentierend, sondern das neue Medium Internet selbst
bringt Kunstformen hervor, welche die technischen Möglichkeiten
kreativ nutzen und künstlerisch umsetzen. Doch bei aller Innovation
- auch die Kunst im Internet kann ihre traditionellen Vorgänger
nicht verleugnen. Ein Blick zurück in die Mediengeschichte zeigt,
daß kein neues Medium ein älteres ersetzt hat. Stattdessen
finden funktionelle Verschiebungen innerhalb der Medienlandschaft statt
und das ältere Medium wird zur Aufsichtsinstanz über das neue
erhöht. Auch bei Kunstwerken im Internet sind Literatur, bildende
Kunst und Musik der Ausgangspunkt, und werden miteinander verknüpft
und technisch aufbereitet im Netz präsentiert.
Hypertext - Durchbrechung der
Linearität
Trotz aller graphischen Gestaltungsmöglichkeiten
und Soundeffekte - das Internet ist noch immer ein schriftlastiges Medium
und so manche Internetseite wäre auf Papier angenehmer zu lesen.
Dieser Tatbestand spiegelt sich auch in der Kunstform wider, die hier
besprochen werden soll: Netzliteratur. Unter Netzliteratur soll Literatur,
die speziell für Computernetze geschrieben wurde, und in gedruckter
Form nicht möglich wäre, verstanden werden. Sie nutzt die
Eigenschaften von Hypertext - auf welchem das Internet basiert - und
sprengt somit die Linearität des gedruckten Wortes. Denn im Hypertext
existiert ein Text nicht mehr durchgehend, sondern in Form vieler einzelner
Textsegmente, die durch sogenannte “Links” miteinander verknüpft
sind, und nur durch die Leistung des Lesers zum zusammenhängenden
Text werden. Der Leser nämlich aktiviert die Links mit der Maus
seines Computers und bestimmt somit, welche Textsegmente überhaupt
gelesen werden und in welcher Reihenfolge sie erscheinen. Im Hypertext
wird mit der klaren linearen Struktur gedruckter Texte gebrochen. Es
gibt keinen festen Anfang und kein festes Ende, weder Kapiteleinteilung
noch sinnhafte Abschnitte helfen dem Leser bei der Orientierung im Textgefüge.
Der Autor bietet lediglich ein Textpotential an und es liegt in der
Hand des Rezipienten, dieses zu vollenden.
Die Entdeckung des Lesers
Das Publikum als Vollender des Kunstwerks, ja als
wichtigste Größe im Rezeptionsakt überhaupt - diese
Idee ist nicht neu, wird jetzt im Hypertext aber systematisch umgesetzt.
Schon Roland Barthes forderte in den 60er Jahren die Demontage der dominanten
Position des Autors und die Anerkennung der wichtigen Rolle des Lesers.
In Deutschland wollte die sogenannte “Konstanzer Schule” um Robert Jauß
die Literaturwissenschaft durch die Entdeckung des Rezipienten revolutionieren.
Text, das war für diese Theoretiker ein Sinnpotential, das der
Autor zur Verfügung stelle, und das sich erst durch die Leistung
des Rezipienten entfalte. Nicht mehr der Autor, sondern der Leser wurde
zur bedeutenden Größe im Rezeptionsakt. Er sollte der passiven
Rolle des Empfängers, die ihm in der traditionellen Literaturwissenschaft
zugewiesen wurde, enthoben werden. Diese klassische Hierarchisierung
von Autor und Leser scheint im Hypertext zunächst überwunden.
Jeder Empfänger kann auch gleichzeitig aktiv zum Sender werden.
Stellt Internet nun die langersehnte Befreiung des Lesers dar, die Emanzipierung
von traditionellen Textstrukturen? Streckenweise liest sich Roland Barthes’
Beschreibung des “idealen Textes” tatsächlich wie eine Charakterisierung
der heutigen hypertextuellen Strukturen. Und doch regen sich leise Zweifel
- Zweifel daran, ob diese Theoretiker mit ihrer Verteufelung des Buches
denn so richtig lagen und ebenso Zweifel, ob wir Rezipienten im Textgefüge
des World Wide Web wirklich so autonom und unbeschränkt agieren,
wie es zunächst scheint.
Links als neue Form der Leserführung
Als Leser fällt uns im Internet eine neue Rolle
zu. Wir werden aktiv in den Leseprozeß eingebunden und klicken
uns selbst unseren Text zusammen. Wir werden zu “Co-Autoren” befördert
und wählen frei aus den vorhandenen Links aus, was eine assoziativere
Art und Weise des Lesens fördert. Euphorische Hypertext-Anhänger,
wie z.B. Jay David Bolter, sehen darin eine Rückkehr zu den “natürlichen”
Denkstrukturen des Menschen. Aber auch diese assoziative Auswahl kann
immer nur im begrenzten Rahmen der gestellten Links stattfinden. Und
mehr noch - indem der Autor Links bewußt an bestimmten Stellen
einfügt, lenkt er unsere Aufmerksamkeit auf diese Schlüsselwörter
und mißt ihnen eine gewichtigere Bedeutung bei. Assoziationen,
die bei einem linearen gedruckten Text frei fließen können,
werden gerade durch die Links gestört. Auch im Hypertext sitzt
der Autor am längeren Hebel. Zwar ist der Leser nicht mehr an einen
hierarchisch geordneten Text gebunden, aber dennoch kann er nur innerhalb
der vom Autor bestimmten Möglichkeiten handeln.
Hypermedia - die Verbindung
von Text, Bild und Ton
Diese wichtige Veränderung in der Autorenrolle
- der Dominanzverlust und das Angewiesensein auf den Leser - wird durch
eine weitere Neuerung ergänzt. Hypertext bietet die technischen
Möglichkeiten, Bild, Text und Ton miteinander zu verknüpfen
und somit neue Ausdrucksformen zu schaffen. Dem Autor wird im Hypertext
also eine Doppelqualifikation abverlangt: nicht nur muß er schriftstellerische
Fähigkeiten mitbringen; er muß gleichzeitig auch in der Lage
sein, die Hypermedia-Technik soweit zu beherrschen, daß er die
angebotenen Mittel in sinnstiftender Art und Weise einsetzt. Das Schreiben
im Hypertext verlangt, sich von alten Vorstellungen zu lösen und
bereit zu sein, neue Wege zu gehen. Autoren von Netzliteratur müssen
sich mit den technischen Aspekten des Computers auseinandersetzen, um
auch den Entwicklern der Programme ihre Bedürfnisse mitteilen und
ihnen mit Hinweisen zur Verfügung stehen zu können. Nur auf
dieser technischen Basis aufbauend kann sich ihre Kreativität entfalten.
Netzliteratur - die Literaturform
der Zukunft?
Betrachtet man das bis dato vorhandene Material an
Netzliteratur, dann zeigen zwar viele Werke vielversprechende Ansätze,
wie die Möglichkeiten, die Hypertext bietet, literarisch umgesetzt
werden können. Bisher läßt sich jedoch nur erahnen,
welche Wirkung ein Werk erzielen könnte, dem es gelingt, alle hypermedialen
und strukturellen Elemente im Hypertext zu einer sinnstiftenden Einheit
zu verbinden. Das überzeugende Gesamtkunstwerk scheint also noch
auf sich warten zu lassen. Autoren experimentieren mit den vorhandenen
Möglichkeiten und Kritiker diskutieren, wie gelungene Netzliteratur
aussehen könnte oder sollte.
Diese Situation läßt sich mit der Anfangszeit des Hörfunks
in Deutschland zwichen 1923 und 1930 vergleichen, in der auch Schriftsteller
und Kritiker die Frage diskutierten, welche Kunstform eigentlich dem
neuen Medium Radio angemessen sein könnte. Auch Netzliteratur scheint
noch auf der Suche nach seiner Bestimmung. Viele Fragen, z.B. nach den
Urheberrechten, sind zum jetzigen Zeitpunkt ungeklärt und erschweren
die Verbreitung hypertextueller Werke.
Es bleibt abzuwarten, welche Richtung Netzliteratur einschlägt
und welche künstlerische und soziale Relevanz ihr zukommt. Mit
ihr könnte eine neue Kunstform entstehen, die Ausdruck der modernen
Informationsgesellschaft ist. Ob dieses Potential jedoch realisiert
wird, kann letztlich nur die Zukunft zeigen. |