Barbara Bruckmoser
Hyperfiction - Belletristik am
Bildschirm?
Abstract: Der Artikel stellt die veränderten
medialen Bedingungen dar, unter denen literarisch-bellestrische Texte
als hypertexte, z.B. im Internet, erzeugt und gestaltet und am Bildschirm
rezipiert werden können. Im Blickpunkt stehen dabei Fiktionalität
und die Möglichkeiten, interaktiv mit Hyperfictions umzugehen und
durch die Auswahl eigener Verknüpfungen individuell spezifische
Rezeptionswege zu gehen.
I.
Experimentelle Literatur führt zumeist ein armseliges
Mauerblümchendasein im belletristischen Markt. Auch die Verwendung
innovativer Schreib- und Lesetechnologien und die Veröffentlichung
auf boomenden Medienplattformen kann daran nichts ändern. Wo alles
piept und blinkt, scheint ernste Literatur fehl am Platz. Dabei ist
die Verbindung von neuesten Medien und Belletristik etwa keineswegs
eine vollkommen abwegige Vorstellung. Ihr Nachteil ist aber, daß
eine solche Kunstform im elektronischen Medium kaum für ernst genommen
wird, da sie nicht als konkurrenzfähig gilt. Die click-and-rush
Ästhetik von CD-ROM Anwendungen und World Wide Web drängen
dem Computer das Label eines Mediums der kurzen Konzentrationsspanne
auf. Der Schmökermentalität eines Lesers kommt das nicht unbedingt
entgegen. Und dennoch gibt es Autoren, die die Kunst des Bücherschreibens
in eine neue Dimension übersetzen, ohne sich dabei durch Multimedialität
um jeden Preis anbiedern zu wollen. Im Mittelpunkt von am Computer produzierter
und rezipierter Kunst kann auch reiner Text stehen. Allerdings macht
dieser Wechsel des Mediums von Buch zu Bildschirm nur dann Sinn, wenn
Leser und Autor sich den Gegebenheiten anpassen. Andere Medien, andere
Sitten.
II.
Das grundliegende Prinzip ist denkbar einfach, seine
praktische Anwendung für den Leser ohne großes Training leicht
zu erlernen. Ist der Schritt einmal gewagt, sich durch Tastatur und
Maus mit einem Personal Computer in Verbindung zu setzten, wird schnell
ganz selbstverständlich geklickt statt geblättert. Die Technologie
der benutzerfreundlichen Schreibtischoberfläche ermöglicht
eine kinderleichte Kommunikation zwischen Mensch und Maschine. Die Maus
in der Hand bewegt einen Stellvetreter des Benutzers auf dem Bildschirm.
Der erscheinende Miniatur-Zeigefinger wird zur Außenstelle des
eigenen Körpers. Ab und an begegnet dem Zeigefinger ein Hinweis
auf an andere Stelle gespeicherte Informationen. Klickt er auf diesen
Hinweis, führt eine Verbindung zu den aufgerufenen Informationen,
die nun ihrerseits auf dem Bildschirm dargestellt werden. Diese drei
konstituierenden Elemente - Information, Hinweis auf weitere Information,
Verbindung zu jener weiteren Information - sind die einfachen Bausteine
von Hypertexten. Diese sind also Textsysteme, in denen sich einzelne
Texte in einem Netzwerk verteilen und durch Verbindungen aufeinander
bezogen sind. Text ist hier übrigens ein extrem dehnbarer Begriff,
wie allein ein Blick in das größte real exisitierende Hypertext-System
zeigt. Im World Wide Web enthalten die Knotenpunkte des Netzes alle
möglichen Arten von Daten, vom Text bis zu laufenden Bildern. Einzelteile
werden nacheinander aufgerufen, die Reihenfolge wird jedesmal je nach
Auswahl der angebotenen Verbindungen, der Links, neu aufgebaut.
III.
Hyperfiction sind Geschichten, die in eine hypertextuelle
Matrix eingeschrieben sind. Ein Autor schreibt Buchstaben, Worte, Sätze
in kleinen Einheiten auf elektronische Zettel und strickt diese in ein
Netzwerk von binären Fäden. Sie präsentieren sich nicht
aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur, wie sie es in Büchern tun,
sondern als ein vieldimensionales Geflecht, schwebend im CyberSpace.
Natürlich kann ein Autor eine Geschichte in Teilchen zerschnippeln
und Links so legen, daß sein Leser lediglich die Reihenfolge variieren
kann. Es ist aber auch genauso möglich, Text und Links so im Raum
zu verteilen, daß nur noch Wahrscheinlichkeitsberechnungen die
Anzahl der möglichen Variationen an Geschichten angeben könnten.
Egal wie versponnen aber nun auch die Struktur einer Hyperfiction sein
mag, der Leser vermag sich sowieso nur darin zurechtzufinden, wenn er
sich eine Strategie, wie dieser Textraum zu erschließen ist, zurechtlegt.
Für den Anfang mag eine Tunnelblick-Strategie schnellen Erfolg
versprechen. Dabei wird kurzzeitig und überaus provisorisch eine
nichtvorhandene Linearität imaginiert. Textstück an Textstück
wird aneinandergereiht, als sei der willkürlich unter mehreren
ausgewählte Link der einzig heilversprechende. Ein eher aufwendiger
Ansatz ist dagegen eher archäologischer Natur. Textteile und Links
werden systematisch aufgespürt, katalogisiert und in einen Lageplan
übertragen. Doch so sehr man auch bemüht ist, Fäden zu
nummerieren und aufzurollen - mitunter verstrickt man sich hoffnungslos.
Somit bietet der einfachere Ansatz den Vorteil, zumindest ohne größeren
Aufwand einen Weg durch den Hypertextdschungel zu finden, macht aber
auch nur Sinn, wenn auf den ersten Lesedurchgang ein weiterer folgt,
in dem anderen Links gefolgt werden und eine komplett andere Geschichte
zusammengestellt wird. Hyperfictions sind recyclebar.
IV.
Die Verwandtschaft zum Computerspiel kann und will
auch die seriöseste Hyperfiction nicht verleugnen. Sie gehören
einer Familie an, nicht nur weil sie sich im gleichen Medium tummeln
und beide per Mausklick rezipiert werden. Ziel eines Adventure Games
z.B. ist nichts anderes als eine bestimmte Geschichte zu rekonstruieren.
Die Aufgabe des Spielers ist also eigentlich nur, die richtigen Links
zu aktivieren, sei es nun durch Mausklick oder durch Eintippen des richtigen
Befehls.
Hyperfiction geht da nicht nur in der literarischen Qualität der
Texte einige Schritte weiter. Zunächst verabschiedet sie sich von
der Vorstellung, ein lösbares Puzzle zu sein. Es gibt nicht die
eine Lösung, es gibt grundsätzlich deren viele. Der Leser/Spieler
verdient dadurch Punkte weiterlesen zu wollen, denn er hält die
Geschichte allein durch seine weiterklickende Teilnahme am Laufen. Ist
sein Spieltrieb nicht mehr angeregt und kein Link mehr attraktiv genug,
herrscht Stillstand. Ein nichtgewählter Link ist so tot wie ein
vergessenes Fenster eines Adventskalenders. Ein ausgetüftelter
Satz, ein genialer Schachzug in der Charakterführung kann unter
den Tisch fallen. Leser und Autor müssen sich von vornherein auf
eine unvollständige Rezeption einstellen. Da es meistens unmöglich
ist, zu kontrollieren, wieviele oder welche Textpassagen man als Leser
nicht abgerufen hat, hat man schon von vorneherein keine Überblicksmöglichkeit.
Die sich im individuellen Lese- und Klickvorgang ergebende Textversion
wird mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit dem Gesamtsystem
nicht gerecht - kann ihm per se nicht gerecht werden.
Interpretation und Kritik sehen sich durch diese Prämisse mit einem
grundsätzlichen Dilemma konfrontiert. Nimmt man eine einzelne Textversion
als Grundlage, verleugnet man die hypertextuelle Struktur und müßte
außerdem eine Leseanleitung gleich mitliefern. Bemüht man
sich dagegen ausführlich auf die Struktur einzugehen, wird der
inhaltliche Aspekt so komplex, daß er sich bald jeglicher Verständlichkeit
entzieht. Die Lösung dieses Problems kann nur sein, Rezeptionsgemeinschaften
zu bilden, in denen sich Leser austauschen und in der Diskussion der
Multidimensionalität gerecht werden können.
V.
Hyperfictions sind lediglich eine Randerscheinung.
Interaktivität, eine mittlerweile schon abgelutschter Begriff in
aller Munde, vermag im Bereich von Belletristik auch kaum mehr darzustellen
als Spielerei. Auf den ersten Blick macht Verlinkung in elektronischen
Lexika nun einmal mehr Sinn. Interaktivität, verstanden als Kooperation
von Leser und Autor, ist und bleibt Illusion, solange die Partizipation
des Lesers in der bloßen Auswahl vorgegebener Möglichkeiten
besteht. Die Macht geht noch genauso vom Autor aus, gibt er nun eine
oder fünf mögliche Anschlüsse an eine Textpassage ein.
In Hypertexten delegiert er lediglich einige Privilegien, wie die Erstellung
von Textfassungen. Bei sehr umfangreichen und komplexen Hyperfictions
mag ein Autor vielleicht sogar keinen totalen Überblick über
die Kombinationsmöglichkeiten und somit alle Textversionen haben.
Totzdem ist es fragwürdig, den Akt des Mausklickens schon zur Mitautorschaft
hochzustilisieren. Das Potential einer tatsächlichen Interaktivität
ist aber noch lang nicht ausgeschöpft. Literatur als Hypertext
konzipiert und im Netzwerk von mehreren Autoren mit gleichen Schreib-
und Verlinkungsrechten produziert, macht Co-Autorschaft möglich.
Aber auch das nur im Experiment, denn es bleibt zu fragen, inwieweit
dem Leser eigentlich nach interaktivem Mitbestimmungsrecht verlangt. |