Comics / Ästhetik / Sammelband


Stephan Packard

 

Das unbequeme Zeichenverhältnis eines hybriden Mediums

Beiträge zur Ästhetik des Comic

Einmal zugestanden, daß kein Leser von einem zweihundertseitigen Sammelband eine umfassende Ästhetik des Comic erwartet: Hier ist sehr kurz sehr viel beschrieben und erklärt worden. Einige Beiträge stammen von einer gleichnamigen Tagung aus dem Jahr 1994, was ihnen durchaus anzumerken ist: So führen etliche Scott McClouds zentralen Band Understanding Comics (1993), kein einziger dagegen den Nachfolger Reinventing Comics (2000) im (ohnehin oft sehr knappen) Literaturverzeichnis auf.

Die versammelten Texte haben eine gemeinsame Stärke: Sie vermeiden apologetische Rhetorik; daß "es eine weit zurückreichende Tradition des Erzählens in bzw. mit Bildern gibt, der die Comics als eine vergleichsweise junge, eigenständige Erscheinungsform zugerechnet werden können" (11), führen die Herausgeber zwar in der Einleitung gegen die Aussparung ihres Forschungsgebiets aus dem wissenschaftlichen und kritischen Diskurs ins Feld. Dieser oft verzerrende Blick, der auf eine Rehabilitation des Mediums als alte oder ernsthafte oder sonstwie 'echte' Literatur schielt, fehlt dann aber in Karl Clausbergs eröffnender und fesselnder Betrachtung zur Verwandtschaft und Differenz zwischen moderner Sprechblase und dem früheren Buchrollen- und Spruchband-Motiv. So kann erst sichtbar werden, daß schon diese anderen und ähnlichen Bild-Text-Kombinationen von der Kunsthistorik nur selten als eigenständiges Phänomen erkannt und fast nie eingehend untersucht worden sind. "Die Ursachen dieser Verschwiegenheit liegen vermutlich in der Disziplinabgrenzung, war doch das Problemfeld fächerübergreifend." stellt der Autor fest (24) und kann die systematischen Schwierigkeiten derart heterogener Analysen ausführen, statt eine desinteressierte Hochkulturwissenschaft zu beklagen. Da er dann weder eine historische noch einen formale Grenze zwischen verschiedenen Vorläufern und gegenwärtigen Sprechblasen eindeutig markiert, bleibt es im wesentlichen bei der Beschreibung eines Mangels; der Verweis auf sein sicher ausführlicheres Buchmanuskript Buchrollen werden Sprechblasen, das demnächst erscheinen soll, hat also Methode.

Derselbe interesselose Blick auf die Vorläufer nützt der Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon, die in diesem Band immer wieder begegnet. Lessing muß nicht in die Bringschuld gepreßt werden, Comics zu rechtfertigen, er ist als Provokation, ja zunächst als Absage an die Möglichkeit von Comics überhaupt lesbar: "Gegenstände, die neben einander […] existieren, heißen Körper […], die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die auf einander […] folgen, heißen überhaupt Handlungen […,] der eigentliche Gegenstand der Poesie." [1] Das 'bequeme Verhältnis' zu bestimmten Referenten trennt Bild und Sprache, das Bild scheint zur Narration als Nachahmung von Handlung außerstande. Fritz Breithaupt bemüht sich, in Lessings und Goethes semiotischen Überlegungen über die Laokoon-Gruppe einen immer schon dagewesenen Platz für erzählende Bildsequenzen zu finden. Er muß dazu Lessings Forderung an bildende Kunst: "Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können." (Lessing a.a.O. 32) als Deskription lesen: "Je mehr wir sehen ... desto mehr denken wir hinzu, je mehr wir hinzudenken ... desto mehr sehen wir." (Breithaupt 44), und darf dann nicht zulassen, daß bildnerische Zeichen, die über den eingefangenen Augenblick hinausweisen, selbständig eine "Illusion der Lebendigkeit" erzeugen, sondern redet von einer "Spur-Werdung aller Teile des Bildes", die "Goethe mit Lessing" verbinde (48) und deren Ambiguität - denn wie jede Spur ist diese "höchst ungewi[ß]" (47) - nach Auflösung durch Wiederaufnahme in angrenzenden Panels verlangt.

Einen anderen Weg sieht Giulio Cuccolini in Lessings Hinweis, der Dichter sei imstande "zu einem Gemälde, aus welchem der Maler fünf, sechs besondere Gemälde machen müßte" (Lessing 118): Diese Passage läßt für ihn "keinen Zweifel daran, daß Lessing die Möglichkeit des Erzählens mit aneinandergereihten Bildern vollkommen begriffen hat. Was ihm jedoch fehlte, war irgendeine Vorstellung davon, wie so eine Erzählung auszusehen hätte." (Cuccolini 62) Indem er den Comic also nicht als eigentliche Erfüllung der lessingschen Theorie, sondern als narrativ-bildliche Option in ihrem Rahmen nimmt, gelingt ihm eine stringente Darstellung, die die Hybridität des Mediums nicht anzweifelt, sondern ernst nimmt und mit Lessings Hilfe erläutert.

Durch welche Zeichen einzelne Comicbilder überhaupt in die Lage kommen, Zeit zu symbolisieren, will Hans Holländer klären; er konzentriert sich auf die Möglichkeiten des einzelnen Panels, bevor dieser noch in eine Sequenz eintritt, solange "das wichtigste Mittel der Zeitdarstellung [...] der unabgeschlossene Zustand" ist (117). Umgekehrt fragt Jens Balzer, inwiefern eine spezifische Behandlung der Zeit in Bildfolgen den Comic schlechthin erst möglich macht, und geht gerade darauf ein, wie die Sequenzierung das Medium von "Überkodierungen" (143), die im einzelnen Bild Zeitlichkeit herstellen sollen, unabhängig macht. Dazu legt er Herrimans Krazy Kat neben "die Ursuppe moderner Zeitrepräsentation, nämlich die Chronophotographie um etwa 1880" (144) und zeigt daran den doppelten Bezug des Signifikanten im Comicpanel: auf einen Signifikaten und auf den wiederaufgenommenen Signifikanten in der weiteren Sequenz. Michael Hein betont dagegen die Rolle des framing und der seriellen Erscheinungsform für die Konstitution der Erzählung in den Comic Strips der Tageszeitungen.

Günter Dammanns sehr klare und überzeugende (leider nur zehnseitige) Auseinandersetzung mit der Erzählzeit und der erzählten Zeit führt operationalisierbare Analysewerkzeuge vor: Die Bestimmung der Geschwindigkeit im Comic (in Anlehnung an Genette und Absetzung von dessen Klassifizierungen) orientiert er an Daniele Barbieris I Linguaggi del fumetto (1991) und beweist, wie feingliedrige Analysen eine strukturalistisch klare Differenzierung einzelner Domänen der Comicgrammatik erlaubt. Barbieris eigener Beitrag bietet eine ebenso überzeugende Analyse der innovativen Verzeitlichungs- und Sequenzierungsmittel in Frank Millers und Klaus Jansons Klassiker The Dark Knight Returns.

Die Referenz auf historische Zeit interessiert dagegen Georg Seeßlen. Daß "Geschichte schon in sich etwas Widersprüchliches ist" (71), ist der Einstieg in eine Auseinandersetzung, die ein lineares Zeitmodell dem historischen Materialismus und eine zyklische Zeitauffassung einer "mythische[n] Erzählweise" (73) zuschreibt, für die die Sympathie offensichtlich überwiegt; das Literaturverzeichnis enthält aber statt Bakhtin Barthes und Eco, und so wird als dritte, postmoderne Variante die Historie im Comic präsentiert als ein "Supermarkt der Zeichen, in dem es keine eigentliche Heimat mehr gibt" (89). Noch inhaltlicher ist Kathrin Hoffmann-Curtius' Interesse an Goffins, Schuitens und Peeters Comic Plagiat! (1989), der vielfältige Seinsweisen der Kopie in Werken und Biographien vorführt.

Otto Karl Werckmeister diskutiert die ästhetischen Besonderheiten eines realistischen Zeichenstils im Comic an den Werken von Juam Gimenez und Paolo Serpieri. Die besondere Kraft eines solchen Realismus kann er deutlich zeigen; wie sie sich zu McClouds einflußreicher Rückführung der Funktionsweise des Comics auf eine reduzierende, unrealistische Figurenwiedergabe verhält, wäre in einem nächsten Schritt dringend zu fragen. Für die "Wiederentdeckung der Sinnlichkeit in der Comictheorie" plädiert Pascal Lefèvre gegenüber den formalisierenden und inhaltlichen Analysen des übrigen Bandes; dabei stellt er sich z. B. der Frage, ob "Farben eine objektive Kapazität" haben, "Reaktionen hervorzurufen: Grün, zum Beispiel, besänftigt mehr als Rot" (178), die Lefèvre trotz einer knappen kulturrelativistischen Einschränkung bejaht.

Ole Frahm thematisiert die im ganzen Band implizierte Abkehr von der Rechtfertigungsnot des Comics aus der Tradition und erklärt den Comic zur grundsätzlich parodistischen Form. Seine Beispielen weisen das zielgenau nach; zu fragen bliebe, ob eine zentrale (obwohl gebrochene) Rückbeziehung auf Tradition nicht wieder hinter die Analysen des Comics als selbständiges, aber hybrides Medium zurückfällt. Die dominante Tendenz zur Parodie anderer und des eigenen Mediums im Comic müßte eine vorsichtigere Definition nicht ignorieren.

Daß die von den Herausgebern angestrebte Gliederung in vier Teile (Elemente des Comics "als Ausdrucksform" (12), Narrativik, Semiotik, bildliche Dimension) wie gewohnt an Miszellanien scheitert, tut der vielseitigen Vernetzung und gegenseitigen Beleuchtung und Vertiefung der Texte keinen Abbruch. Plausibel wird in den Beiträgen jedenfalls das Projekt einer stückweise zu vervollständigenden Comicästhetik, die sowohl die semiotischen Grundlagen des Mediums klären als auch einzelne besondere ästhetische Erfahrungen zu analysieren vermag, die sich in der Comicrezeption ereignen. Die größten Fortschritte versprechen dabei wohl diejenigen Bemühungen, die den Comic weder als eine bloß parasitäre, von vornherein zweitrangige Kunstform nur als Deviation anderer Medien begreifen, noch diejenige Sekundarität auszuräumen versuchen, die dem Comic als Kombination semiotisch sehr verschiedener und ihm vorgängiger Codes sehr wohl zukommt: Eine - mindestens - doppelte Hybridität sollte durch keinen rechtfertigenden Rückgriff auf Text-Bild-Traditionen noch durch eine dekonstruierende Lesart klassischer Zeichentheorien verdeckt werden: Schrift wird nicht nur durch die Juxtaposition zu Bildern mit ihnen zu einem neuen Code verbunden, sondern es entsteht auch in sprach- und schriftlosen, gleichsam pantomimischen Comics durch die Sequenzierung der Panels zu einer nur in Serie entschlüsselbaren Linearität eine Pseudoschrift, die aus nichtschriftlichen Elementen aufgebaut ist und von der andauernden Überwindung dieses gegenschriftlichen Widerstands lebt.

Drei Worte zur Form. Trotz des überzeugten und überzeugenden Versuchs, Comics als ernsthafte Literatur zu betrachten, werden diese Objekte der Anschauung im Band Ästhetik des Comic nicht mit derjenigen Sorgfalt zitiert, die jene sonst verdient: Comics, die diskutiert oder aus denen ganze Abbildungen übernommen werden, finden sich oft nicht im Literaturverzeichnis, sondern sind ins Abbildungsverzeichnis ans Ende des Buches verbannt. Die Quellenverweise bei Abbildungen und Paraphrasen fehlen manchmal ganz, wo sie vorhanden sind, verzichten sie meist auf die Angabe von Seiten- und Panelzahlen und zielen stattdessen nach ganzen Alben. Insgesamt sind die Illustrationen wohltuend häufig und die (natürlich schwarzweiße) Reproduktion im Druck recht klar; die Einsicht, daß die sequenzielle Kunstform auch im Zitat der Wiedergabe wenigstens kurzer Sequenzen, nicht nur verwaister Einzelpanels bedarf, hat sich an vielen, nicht allen Stellen durchgesetzt.

Michael Hein, Michael Hüners, Torsten Michaelsen (Hg.): Ästhetik des Comic, unter Mitarbeit von Ole Frahm, Jens Nielsen und Michael Will, Berlin 2002; € 29,80, 223 Seiten.



[1] Lessing, "Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie", in: Ders., Werke und Briefe, in zwölf Bänden, hrsg. v. W. Barner et al., Band 5/2, S. 11-322, hier S. 116. (cap. XVI). [zurück]


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