Alexander Schlicker

 

Ein Videospiel durchspielen: „ »See? I’m real...« Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von »Silent Hill«“

 

Abstract: Der folgende Beitrag stellt eine der bemerkenswertesten Publikationen im Bereich game studies vor.

Kontemporäre Computer- und Videospiele sind schon seit geraumer Zeit nicht mehr nur profaner Zeitvertreib, sondern stehen auch zunehmend, wenn auch bisher eher schleppend, im Fokus medienwissenschaftlicher Analytik. Zwar ist die Auswahl ergiebiger und avancierter Publikationen bis heute speziell im deutschsprachigen Raum noch sehr überschaubar und auf überwiegend psychologisch-pädagogische Themenbereiche reduziert, doch konnte sich in den letzten Jahren u.a. gerade die Medienwissenschaftlerin Britta Neitzel durchaus einen Namen im Bereich der game studies – so der mittlerweile weitgehend etablierte Name des Forschungsfeldes über Computer- und Videospiele – machen. Ihre bereits im Jahr 2000 vorgelegte Studie (1) bezüglich einer narrativen Strukturanalyse von Videospielen inklusive der funktionalen Berücksichtigung des Spielers und dessen Beeinflussungspotenzial für den Fortgang einer Handlung kann auch heute noch als eine wegweisende Pionierarbeit deutschsprachiger „Spielanalytik“ gelten.

Ende 2005 erschien in Kooperation mit Matthias Bopp und Rolf F. Nohr der Band »See? I’m real...« Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von 'Silent Hill', der nicht nur eine Auswahl möglicher Analysezugänge im Bereich des Computerspiels (2) aufzeigt, sondern diese ebenso an dem konkreten Beispiel des zweiten Teils der populären Videospielreihe „Silent Hill“ paradigmatisch vorführt und luzid vertieft. Dabei ist besonders die Betonung multidisziplinär mehr als erwähnenswert, denn die Herausgeber verengten die fachliche Bandbreite nicht ausschließlich auf die Literatur- und Filmwissenschaft. Neben diesen Gebieten finden sich auch Beiträge mit den Schwerpunkten Didaktik bzw. Erziehungswissenschaft (wobei es hier nicht um die bisher meist stereotype Debatte über vermeintliche Zusammenhänge zwischen Gewalt und Spiel geht) oder aus der Perspektive der Wirtschaftswissenschaft. So wird die gerade im unübersichtlichen Moloch Medienwissenschaft viel beschworene interdisziplinäre Kooperation in diesem Band nicht nur vollzogen, sondern durch die ungewöhnlichen und auch unkonventionellen Herangehensweisen zu einem Paradebeispiel für die ergiebige Zusammenführung differenter Theorieansätze ausgearbeitet. Nur durch die Zusammenführung der mittlerweile sehr stark ausdifferenzierten Einzeldisziplinen – speziell im Bereich der Geisteswissenschaften – ist eine (gerade längerfristig) relevante und „überlebensfähige“ Analytik überhaupt annähernd zu gewährleisten.

Allerdings sollte auch die strukturell bedingte Notwendigkeit dieses Ansatzes aufgrund der immer noch eher mangelhaften Akzeptanz der game studies innerhalb des akademischen Gesamtdiskurses nicht verschwiegen werden. Die Herausgeber verstehen »See? I’m real...« somit auch als notwendiges Plädoyer für eine Existenzberechtigung und damit eine Anerkennung der game studies als Fachdisziplin, wenn auch nur denominativ.

Was (re)präsentieren nun die einzelnen Analyseangebote? Zunächst ist hierfür eine kurze Einführung in die düster-opake (Spiele)Welt von „Silent Hill“ (wie sie innerhalb des Bandes Andreas Lange kompetent, wenn auch fast zu sehr reduziert vornimmt) vonnöten: Die bisher vier Episoden dieser Serie aus dem Genre Survival-Horror, d.h. Spiele, in denen meist ein Protagonist durch eine von surreal-unheimlichen Elementen infiltrierte Welt gesteuert und das (mehr oder weniger permanent) unmittelbar bedrohte Überleben dieser Figur als wichtigste Voraussetzung für den Fortgang der Handlung motiviert werden muss, verbindet jeweils nur ein konnexiv-metaphorischer Rahmen. Jeder Teil bedient sich also der grotesken und äußerst mystischen Grundelemente der Serie, erzählt jedoch bis auf Teil 3 (der auf Teil 1 rekurriert) eine völlig eigenständige Geschichte. Die Kleinstadt Silent Hill dient dabei nicht nur in den ersten drei Teilen als Schauplatz der narrativen Handlung, sondern entwickelt sich ebenso zu einer Art Synonym für changierende Erlebniswelten der entsprechenden Protagonisten, die zwischen Realität und fiktionaler Horrorwelt nicht mehr unterscheiden können.


Maria im unterirdischen Gefängnis
 
James und Mary bei einer der möglichen Endsequenzen

Teil 2 der Serie erzählt die Geschichte von James Sunderland, der einen Brief von seiner längst totgeglaubten Frau Mary erhält. Wie kann James einen Brief von Mary erhalten, wenn diese vor drei Jahren an einer schweren Krankheit starb? Dieser Brief verweist sehr vage auf die Kleinstadt Silent Hill, in der das Ehepaar Sunderland einst Urlaub machte und wo Mary – so der Brief – auf James nun warten würde. Es gilt somit detektivisch nach der Wahrheit hinter diesem mysteriösen Brief zu suchen, wobei James im Verlauf der Handlung nicht nur auf groteske Monster stößt, die durch die verwaisten Straßen von Silent Hill schleichen. Er begegnet auch anderen Charakteren wie etwa dem frechen Mädchen Laura (die Mary zu kennen scheint) und der geheimnisvollen Maria, die seiner Frau Mary, wenn auch in frivolerer (optischer) Ausprägung, äußerst ähnelt. Gegen Spielende stellt sich überraschenderweise heraus, dass James Mary selbst getötet hat, obgleich seine Motivation hierzu ebenso (ambivalent) im Dunkeln bleibt wie Marys/Marias Existenz und ihre/deren Präsenz als monströse Figuration von James changierender Emotionalität im unabdingbaren Endkampf des Spiels.

Welche theoretischen Überlegungen können aufgrund dieser narrativ durchaus produktiven Ausgangsposition nun fruchtbar gemacht werden?

Der erste Beitrag beschäftigt sich mit eben dieser narrativen Struktur von „Silent Hill 2“. In diesem Kontext überträgt Karla Schmidt die spezifischen Punkte einer allgemeinen Archeplottheorie auf die „Heldenreise“ der Figur James Sunderland, wobei grundlegende narratologische Aspekte wie etwa die Funktion eines Protagonisten für die Entwicklung einer Geschichte oder eine klassische Aktunterteilung aus der Dramatik (generell unabhängig vom spezifischen Erzählmedium) auf „Silent Hill 2“ adaptiert werden. Besonders aufschlussreich interpretiert Schmidt dabei die vier variierenden Endsequenzen. Das Spiel offenbart hier jeweils völlig voneinander abweichende Interpretationsansätze, die sich direkt aus den Aktionen des Spielers ableiten lassen, denn durch dessen Entscheidungen werden die Endsequenzen sortiert.

Richard Wages, Benno Grützmacher und Stefan M. Grünvogel widmen sich der sequentiellen Struktur von Videospielen. Sie stellen grundlegende theoretische Designmuster für mögliche Handlungsentwicklungen vor, die auch zu einer analytischen Reflexion der Benutzerführung des Spielers angewendet werden können. Es stellen sich dem Spieler hierbei unterschiedliche Fragen, die zwar durch entsprechende Designmuster determiniert sind, aber nicht unbedingt linear vorgegeben sein müssen. Anhand solcher Überlegungen könnten besonders die von den Spielentwicklern implementierten Intentionen gedeutet werden. Ein Beispiel: Welche Handlungsoptionen hat der Spieler und warum sind diese Optionen genau so (an einer bestimmten Stelle des Spiels) festgelegt?

Frank Degler untersucht wiederum narratologische Theorieansätze bezogen auf Videospiele, indem er deren Erzählstrukturen als „labyrinthisches Erzählen“ vorstellt. Ausgehend von Theoretikern wie Umberto Eco („Semiotik und Philosophie der Sprache“) unterteilt Degler das Labyrinth-Motiv (hier als Narratem, also Handlungskern, verstanden) in Mäander, Irrgarten und Rhizom und seziert anhand dieser Differenzierung „Silent Hill 2“ als Mischtyp dieser Begriffstrias.

Der vierte Beitrag von Matthias Bopp verhandelt die spieldidaktischen Methoden innerhalb des Abenteuers um James Sunderland und versucht das Spiel primär unter dem Aspekt seiner Typologie von Spielsituationen zu analysieren, die einen Spieler mit den für die Bewältigung des Spiels nötigen Schlüsselqualifikationen ausstatten. Welche Funktionen in diesem Kontext NPCs (non playable characters) oder die quantitative Aufteilung von schriftlichen und bildlichen Hinweisen im Tutorial des Spiels haben, ist nur eine der hier diskutierten Fragen. Als Fazit verbleibt Bopp mit einem Ausblick auf (hoffentlich) kommende Theorieansätze, die sich mit einer medialen Lehr-Lern-Forschung auseinanderzusetzen haben und eine medienpädagogische Debatte nicht nur auf das bisher habituell grobmaschige Diktum „learning by doing“ verengen dürften.

Im darauffolgenden Beitrag geht Rolf F. Nohr auf Überlegungen hin zu einer Transparenztheorie von Videospielen ein und richtet damit seinen analytischen Fokus auf spezifisch mediale Fragen des Mediums Videospiel: Wie wirkt es? Wie konzeptualisiert es sich im Vergleich zu anderen Medien? Am interessantesten ist dabei sicherlich Nohrs Ausführung hinsichtlich einer „Naturalisierung“ des Technischen bzw. der technischen Aspekte eines Videospiels (Hardware, Software etc.) im Symbolischen, da er hier dem schwierigen und semiotisch komplexen Verhältnis zwischen Technik bzw. dem technisch simulierten Bild eines Videospiels und seinem ihm anscheinend inhärenten Versprechen einer „irgendwie gearteten Echtheit“ nachzugehen versucht. Neben der Apparatustheorie (u.a. nach Jean-Louis Baudry) und dem – speziell für „Silent Hill 2“ unumgänglichen – kategorialen Vergleich zwischen Fantastik und Realistik und den daraus folgenden Konsequenzen wird die visionäre Fantastik des Autors H. P. Lovecraft (1890 – 1937) als Interpretationshilfe hinzugezogen. Insgesamt kann Nohr seine These ausreichend untermauern, derzufolge die technische Synthetik des Mediums Videospiel auf einer Art immersiver Effektivität beruht, die eine „Wahrnehmungsmanipulation“ des Spielers evoziert, obwohl Nohr keine profunde Erklärung für den anscheinend besonders emotional aufgeladenen Rezeptionswunsch des Spielers nach einer völligen Aufhebung des Mediums bezüglich seines Ursprungs als technische Hardware plus Software aufbieten kann.

Markus Rautzenberg geht dem Horror des Videospiels auf den Grund und beschäftigt sich dazu mit der besonders einprägsamen Ästhetik von „Silent Hill“. Der Nebel, das rauschende Radio und die visuell gravierenden noise-Effekte (das Spiel besticht durch seine gewollt „verwaschene“ und äußerst „dreckige“ Grafik) dienen ihm dabei als Belege für das, was in diesem Beitrag ‚Ekstatik der Abwesenheit’ genannt wird: Der Horror in den Straßen und Gebäuden von Silent Hill basiert auf der permanent bedrohlichen, aber nicht genau lokalisierbaren oder gar darstellbaren Präsenz des Unbekannten, wobei Rautzenberg explizit den point of view des Spielers (speziell in den mehrfach inszenierten Spiegelsituationen des Spiels) in seine Überlegungen inkludiert: Der Betrachter, also der Spieler, müsste (eigentlich) zu sehen sein und ist es logischerweise doch nicht. Genau dies gilt auch für viele Ereignisse in „Silent Hill“. Inszeniertes Sehen ist als ebenso inszeniertes Nicht-Sehen. Damit nicht genug: Die fragile Konsistenz von medialen Oberflächen (wie etwa eines Spiegels) verbindet Rautzenberg mit der komparierbaren Ästhetik neuerer japanischer Horrorfilme wie „Ringu“. Das Unheimliche dringt durch das Medium (so hört James beispielsweise Marys Stimme oder auch die Monster durch ein Radio) in die Realität ein: die Transgression des Horrors als Zerstörung der vermeintlichen Materialität des „soliden“ Mediums.

Was Rhetorik mit dem Design von Spielen zu tun haben könnte, analysiert Steffen P. Walz in seinen Ausführungen zu einer Methodik des Grauens. Mit Hilfe symbolisch höchst aufgeladener Zeichen und intendierter Konstellationen bzw. Motive verdichten sich mystisch angehauchte Spiele wie „Silent Hill 2“ zu einer motivischen Systematik, die an die antike Rhetorik anschließen könnte. Zwar wirkt diese Verbindung auf Anhieb etwas weit hergeholt, es gelingt Walz jedoch über den Schlüsselbegriff Identifikation einen tragfähigen Ansatz zu liefern: So findet eine strukturelle, systematische und symbolische Koppelung zwischen Spiel und Spieler statt, die „zwischen den Wünschen und Kenntnissen des/der SpielerIn und dem intendierten Design des Spiels balanciert“(2005, S.150).

 
James im Kampf mit dem unbesiegbaren Pyramidenkopf
 

Ein Beispiel: Die aus der klassischen Rhetorik überlieferte Gedankenfigur fictio personae, die durch ihre „Augenscheinlichkeit“ einen höchst emphatischen Eindruck erzeugen kann, wird in „Silent Hill 2“ einerseits durch die „metarealen“ Monster, anderseits durch die NPCs wie speziell Maria umgesetzt. Ein weiteres Beispiel wäre unter anderem die Inversio im Sinne der hier auftretenden dispositiven Verschiebung einer (imaginierten) acherontischen Welt des Grauens. Es fehlt zwar eine strukturierte Typologie dieser Spielrhetorik, aber auch Walz sieht seine Ausführungen, analog zur Komposition des gesamten Bandes, eher als Anleitung und Inspiration für weitere Studien im Bereich Videospiel und nicht als ein (ab)geschlossenes Theoriegebäude.

Andreas Wolfsteiner etikettiert „Silent Hill 2“ in seiner teilweise sehr philosophischen Abhandlung als digitalen Problemraum zwischen Suche und Angst. Zunächst bedient sich Wolfsteiner hierzu einiger Überlegungen Sören Kierkegaards (3), die den Menschen in seinem dialektischen Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Angst situieren. Dabei ist besonders Kierkegaards Theorie bedeutsam, wonach Wiederholung und Erinnern prinzipiell als „Bewegungen“ nur jeweils entgegengesetzte Richtungen einschlagen. Die durch Angst angetriebene Suche eines Menschen ist in diesem Zusammenhang jenes Instrument, welches zwischen Aktivität (Wiederholung) und Passivität (Erinnern) zu vermitteln imstande ist und erst zu Handlungen führen kann, die wiederum eine Möglichkeit zur Freiheit darstellt. So oszilliert der Mensch in seiner Angst stets zwischen Handeln und dem potenziellen Verlust von Obhut. Für „Silent Hill 2“ konstatiert Wolfsteiner mit Hilfe dieser existenzphilosophischen Ausgangslage:

„Das Suchen und die Angst bedingen sich als Spielaufgabe und Affekt; ohne die Verschaltung rationaler Suche und Irrationaler Angst wäre 'Silent Hill 2' nicht das, was es ist“ (ebd. S.159).

Des weiteren beschäftigt sich Wolfsteiner anhand dieses Befundes nicht nur mit den – bereits aus anderen Beiträgen bekannten – multiplen Endsequenzen des Spiels, sondern betont die in „Silent Hill 2“ spezifisch ausgeprägte Ästhetik des Schreckens als immersiven Effekt, der ein „angenehmes Grauen“ (Carsten Zelle) evoziert und damit einerseits das Spiel in der Rezeption des Spielers „sozialisiert“, andererseits in den privaten Raum des Spielers (geschützt vor der normativen Abwertung durch die Gesellschaft) importiert. Das Spiel ist gemäß der Vorstellungen mehrerer Theorien von Räumlichkeit (vgl. Jeffrey Shaw) durch seine Architektur, sein Design und einige weitere Effekte als dichter atmosphärischer Raum konkretisiert, der im Falle von „Silent Hill 2“ eine „aisthetische Bindung des Spielers an die Atmosphäre“ (ebd. S.173) gewährleistet. Diese Immersion (inklusive der multiplen Endsequenzen des Spiels) führt nach Wolfsteiner dazu, dass sich das Spiel erst im Spieler ‚abspielt’ und nur dadurch seine höhere Qualität gegenüber anderen Spielen aus diesem Genre offenbart.

 
James im Gefängnis von Silent Hill
 

Da es sich bei „Silent Hill 2“ dezidiert um ein Videospiel und nicht einen Film handelt, widmen sich die nächsten beiden Artikel medienspezifischen Eigenschaften und besonderen (medientheoretischen) Attraktoren des Videospiels.

Serjoscha Wiemer versucht sich dem Horror im Spiel durch dessen somatisches Affizierungspotenzial anzunähern. Dabei differenziert Wiemer zwischen den rezeptiven Möglichkeiten des Spiels gegenüber denen des Films, da das Videospiel durch den (notwendigen) aktiven Input des Spielers für den Fortgang der Handlung (also „Silent Hill 2“ als narrativ geprägtes Genrespiel) eine effektivere strukturelle Kopplung bewirken könne als der Film. Der Spieler stellt sich nicht nur vor, seinen Körper zu benutzen (wie etwa bei extrem physisch inszenierten Actionfilmen), sondern er benutzt ihn tatsächlich aktiv (!), auch wenn dies „nur“ durch die Vermittlungsinstanz Joypad etc. übertragen wird. Durch eine für diesen Zusammenhang interessante Einführung in den von Thomas Morsch geprägten Begriff der Mimikry, der auf den „fließenden“ Übergang von Körpergrenzen verweist, schlägt Wiemer den Bogen zu einer für „Silent Hill 2“ eminent aussagekräftigen Unterscheidung, die für die somatische Affizierung des Spielers relevant ist: Ekel im Kontrast zu Angst. Zwar lassen sich beide Kategorien nicht immer eindeutig separieren, doch liegt es hier in der ästhetischen Wahrnehmung des Rezipienten, an bestimmten „neuralgischen Punkten“ zu unterscheiden. In den Kämpfen mit den Monstern lassen sich nämlich grundsätzlich zwei Ebenen des Kampfes beschreiben: Die Phase der Bedrohung bzw. der damit unmittelbar gekoppelten Angst um die Spielfigur und die „darauffolgende“ (eine erfolgreiche Verteidigung des Spielers vorausgesetzt) Phase des Ekels. Die Monster müssen, obwohl momentan keine unmittelbare Gefahr von ihnen ausgeht, „endgültig“ vernichtet werden; was in „Silent Hill 2“ audiovisuell besonders eindringlich eklig inszeniert wird. Der Spieler wird dadurch körperlich durch diesen Schauer wie analog die Spielfigur innerhalb der Spielhandlung affiziert. Ein weiterer immersiver Effekt, der eine Art Intimität zwischen Spieler und Spiel generiert, denn jeder Spieler wird die unterschiedlichen Affizierungsarten – wie bei anderen Medien – anders erleben.

 
Kampf mit den dämonischen Krankenschwestern
 

Britta Neitzels Beitrag beschäftigt sich mit dem Verhältnis Spielfigur/Spieler und gibt damit einen grundsätzlichen Einblick in die theoretischen Überlegungen der sogenannten „Avatar-Theorie“. Der Avatar, also die Spielfigur oder: der Repräsentant des Spielers in der fiktionalen Welt des Spiels, wird von Neitzel durch die Theorie der Kybernetik als Figuration von Gesten, also symbolisch intendierten Handlungen, ausgewiesen, ohne ihn als unterkomplexes Werkzeug in seiner Bedeutung für den Spielverlauf radikal zu minimieren. Aus diesem Theorieangebot ergeben sich unter anderem folgende, für das Medium Videospiel konstitutive Fragen: Bezeichnet der Avatar den Spieler (was Neitzel verneint)? Wie sehr kann sich ein Spieler überhaupt mit „seinem“ Avatar identifizieren, wenn dieser doch –vereinfacht gesagt – eigentlich nur einige situative Handlungsoptionen konnotiert? Auf der Seite der narrativen Fiktion kann man nun auch abstrahierend nach der Identität des Avatars fragen, wie es Neitzel am Beispiel von James Sunderland exerziert. Es ergibt sich letztlich ein durchaus komplexes Wechsel- und Beobachtungsverhältnis zwischen Avatar und Spieler, das Neitzel speziell durch die Termini point of view (Perspektive) und point of action (bezogen auf die Handlungsoptionen im Spiel bzw. Spielraum, auf welche der Avatar auch lokal verweist) zu bestimmen sucht.

 


James zu Beginn der Handlung

 

Der Historiker Gunnar Sandkühler wirft in seiner Arbeit einen kritischen Blick auf das historische Quellenmaterial von „Silent Hill 2“, obgleich er bereits zu Beginn auf die einer solchen textkritischen Aufgabenstellung inhärente Problematik hinweist:

„Die traditionelle Historiographie ist es gewohnt, fixierte Quellen zu bearbeiten. Eine solche Fixierung ist beim Computerspiel im Gegensatz zur klassischen Text- oder Sachquelle nur schwer möglich(...) Es existiert keine historisch-kritische Ausgabe einer Spielsitzung am Computer“ (ebd. S. 214).

Genau daran krankt in der Folge der ganze Beitrag. Die konstatierten Befunde bezüglich einer historischen Deskription von Gesellschaft, wie sie in „Silent Hill 2“ und den anderen Episoden vorgeführt wird, sind hier nur trivial (z.B. dass alle Spiele um das basale Motiv Angst zirkulieren) und letztlich vernachlässigbar. Eine sinnvolle Erkenntnis ist deshalb nur die hier paradigmatisch festgestellte Sinnlosigkeit einer Quellenkunde, die aus einem fiktiven Survival-Horror-Spiel komplexe Rückschlüsse auf eine Gesellschaftsstruktur extrapolieren möchte.

Abgerundet wird der Band durch eine Betrachtung von Horrorspielen aus ökonomischer Perspektive. Unter anderem anhand von Veröffentlichungsstatistiken, Hochrechnungen und einigen Anmerkungen zum Verhältnis Markt und Konsument bestätigt Jörg Müller-Lietzkow die (ohnehin) standardisierte Parole „blood sells“. Eine Erklärung hierfür kann und will Müller-Lietzkow an dieser Stelle (glücklicherweise) nicht geben, prognostiziert jedoch eine langfristige Absatzsicherheit von gewalttätigen Genrespielen. Dass allerdings schon allein ein Verweis auf die Vielzahl von Fortsetzungen (nicht nur von „Silent Hill“; man denke nur exemplarisch an „Resident Evil“) im Bereich Survival-Horror fast den gesamten Beitrag marginalisiert, sollte nicht verschwiegen werden.

Den Herausgebern ist insgesamt das im Bereich der Medienwissenschaft nicht selbstverständliche Kunststück gelungen, einen einführenden, gleichzeitig auch (partiell) theoretisch avancierten Überblick über den status quo der game studies im deutschsprachigen Raum zu geben. Zwar trüben die teilweise quantitativen und qualitativen Diskrepanzen innerhalb dieses medienwissenschaftlichen Sammelsuriums den guten Gesamteindruck, wobei die strukturellen Defizite einer (vermutlich noch lange) nicht vollständig ausdifferenzierten akademischen Landschaft für den Bereich Videospiele sicherlich einige Kritikpunkte relativieren. Die interdisziplinäre Maxime dieses Projekts galt es schließlich trotz dieses Hindernisses einzuhalten, und es kann auch für den Leser dieses Bandes lehrreich und informativ sein, fachliche Grenzen ausgelotet zu sehen.

Einige Beiträge behandeln ähnliche Aspekte, setzten jedoch unterschiedliche Schwerpunkte und Fokussierungen an, z.B. bei genrespezifischen Aspekten einer Immersion des Videospiels: Neben der sinnvollen Konzentration auf ein Analyseobjekt und den damit verbundenen Konsequenzen erscheint die Auswahl des Spiels „Silent Hill 2“ bemerkenswert: Ein populäres und ästhetisch vielschichtiges Videospiel, an dem sowohl auf narrativer wie auch medialer Analyseebene ein insgesamt komplementäres Theorieangebot nicht nur vorgeführt wurde, sondern in der weiteren Diskussion kontinuierlich extrapoliert werden kann. Medienwissenschaftliche Analysen müssen sich keinesfalls aller hier verhandelten Ansätze bedienen, aber übergehen können sie diese innerhalb eines multidisziplinären Diskurses freilich nicht.

„Wie auch immer sich die game studies entwickeln werden, wir hoffen mit dem vorliegenden Band die Entwicklung in eine positive Richtung voranzutreiben“(ebd. S.13). – Es wäre nicht nur den Autoren zu wünschen.

Neitzel, Britta/Bopp, Matthias/Nohr, Rolf F. (Hg. ): »See? I’m real...« Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von »Silent Hill«. Münster: Lit – Verlag 2005, 256 S.

 

Fußnoten

Neitzel, Britta: Gespielte Geschichten. Struktur- und prozessanalytische Untersuchungen der Narrativität von Videospielen. Weimar 2000. Eine aktualisierte Fassung dieser Arbeit wird voraussichtlich im Verlauf von 2006 erscheinen. (zurück)

Im Folgenden soll der Begriff Videospiel verwendet werden, da es sich bei „Silent Hill“ (genauso bei den anderen Episoden der Serie) eben exakt um ein solches handelt; dies entspricht einer grundsätzlichen Überzeugung, wonach Computer- und Videospiele eben nicht völlig gleichzusetzen sind. (zurück)

Speziell: Kierkegaard, Sören (1984): Die Wiederholung. Ein Versuch der experimentierenden Psychologie von Constantin Constantius. Kopenhagen 1843. Frankfurt a. M.: Syndikat Autoren – und Verlagsgesellschaft. (zurück)



Verfasser: Alexander Schlicker, veröffentlicht am 09.11.2006

   
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