Kultur / Narrative / Medien


Oliver Jahraus

Die Kultur und ihre Narrative
Eine Rezension


Das vorliegende Buch von Wolfgang Müller-Funk ist das Ergebnis eines Forschungsauftrages, dessen Ziel "eine methodisch orientierte Einführung in die Kulturwissenschaften" (S.VII) war. Die daraus entstandene Studie erfüllt diesen Auftrag, indem sie die Kulturwissenschaft auf eine narrative Theorie der Kultur stützt. Das beinhaltet, dass Kultur insgesamt "als ein mehr oder weniger geordnetes, aber nicht zwangsläufig hierarchisches System von Erzählungen" begriffen wird (S.172).

Die Arbeit selbst weist eine präzise Zweiteilung auf. Ein erster Teil eröffnet die theoretischen Grundlagen und geht - nach einer grundsätzlichen kulturwissenschaftlichen Orientierung - auf die Narrative in den Wissenschaften (insbesondere in der Literaturwissenschaft), in der Philosophie, im Mythos und Gedächtnis und schließlich auf die versteckten Narrative, z.B. in der Medienberichterstattung, ein. Der zweite Teil ist den Anwendungen der Grundlagen gewidmet. Er geht auf das Verhältnis von Medien und Narrativen, darauf aufbauend auf das Geld als Medium und Narrativ, auf die psychoanalytischen Fallgeschichten, auf den Diskurs des Nationalismus und auf die Narrative der Apokalypse ein. Alle diese Anwendungen werden in ihrer narrativen Struktur rekonstruiert. Gezeigt wird, wie sie Geschichten erzählen und diese erzählten Geschichten zugleich in die Geschichte der Kultur einfließen und somit Kultur selbst narrativ entfalten.

Betrachtet man die derzeitige Diskussion um eine Kulturwissenschaft und die damit einhergehende Proliferation von Kulturbegriffen, so ist dieser Vorschlag doch sehr vielversprechend. Die Verwandtschaft zu einem semiotischen Kulturbegriff, wie ihn am prominentesten wohl Umberto Eco mit seiner Gleichsetzung von Kultur mit der Gesamtheit aller Zeichenprozesse vertreten hat, ist deutlich. Doch der narratologische Kulturbegriff geht über den semiotischen noch insofern hinaus, als er gerade die narrativen Zusammenhänge und insbesondere die narrativ konstituierten Sinnstiftungen zugleich als kulturkonstitutiv auffasst. Es sind eben nicht nur Zeichen, sondern erzählte Geschichten, die die (bzw. eine) Kultur ausmachen. Gegenüber dem Zeichen stellt die Narration eine Restriktion sowie eine Erweiterung gleichermaßen dar.

Denn Narrationen sind schlechterdings restringierte Zeichenfolgen, weil sie in die Ordnung der Zeichen eine zweite Ordnung, nämlich ihre eigene, die der Narration einfügt. So müssen Narrationen Anfang und Ende und eine rudimentär teleologische Struktur haben. Auch die Selbstreflexion im Zeichenprozess (wo Zeichen sich selbst als Zeichen bezeichnen) ist in der Narration narrativ umgelegt und kann narratologisch reflektiert werden. Weiter gespannt ist der narratologische Kulturbegriff aber insbesondere dort, wo mit der Narratologie kulturelle Phänomene in den Blick geraten, die ein rein semiotisches Modell nicht erfassen will, so z.B. die Typologie von Erzähler und Helden als konkrete Motoren der Zeichensetzung und -produktion.

Gänzlich neu ist diese Idee nicht. Schon 1971 hat z.B. Siegfried J. Schmidt von "'Text' und 'Geschichte' als Fundierungskategorien" (in: W. D. Stempel (Hg.): Beiträge zur Textlinguistik. München. 1971, S.31-52) gesprochen und auf die sinnkonstitutive Funktion von Geschichten hingewiesen. Neu jedoch ist die methodische Orientierung - ein Hauptanliegen des Forschungsauftrags - an der Narratologie. Gegenüber den Geschichten legt der Verfasser sein Hauptaugenmerk auf den Akt und den Kontext des Erzählens selbst. Es ist das Erzählen, weniger die erzählte Geschichte selbst, die Sinn stiftet. Diesen Gesamtzusammenhang von Erzählen und erzählter Geschichte in einem durch das Erzählen selbst eröffneten kulturellen Kontext nennt er 'Narrativ'. Insofern gilt: "Narrative stiften Sinn, nicht aufgrund ihrer jeweiligen Inhalte, sondern auf Grund der ihnen eigenen strukturellen Konstellationen: weil sie eine lineare Ordnung des Zeitlichen etablieren." (S.29)

Damit ordnet sich das narratologische Unternehmen der Kulturwissenschaft auf spezifische Weise in den 'cultural turn' ein, den der Verfasser durch eine "Fronstellung gegenüber einem organischen Determinismus" und durch eine "Zurückweisung der idealistischen Vorstellung von der Autonomie des Geistes" (S.9) gekennzeichnet sieht. So sind Narrative sehr wohl in ein "symbolisches Beziehungsgeflecht eingewoben" (ebd.), aber sie schaffen erst qua Narration solche Phänomene, die im Sinne des Idealismus als transzendental gelten können.

Hier scheint mir der Verfasser nicht völlig konsequent zu sein. Denn damit wird aber das Narrative, werden aber die Narrative selbst zu einer eigenen Art von Transzendentalität, zu einer Ultratranszendentalität, wie man mit Norbert Bolz formulieren könnte: die Narration selbst als Bedingung der Möglichkeit von Kultur. Somit wären die Gegenstände der Kultur zugleich die Gegenstände der Erzählung der Kultur (sowohl im genitivus subjectivus als auch im genitivus objectivus verstanden). Vor einem solchen Letzthorizont schreckt der Verfasser zurück. Ja, ganz im Gegenteil, eher vorsichtig versucht er das Verhältnis von Kultur und Narrativ zu bestimmen. Kultur ist demnach keine Makroerzählung, sondern Erzählen selbst ist eine 'ubiquitäre Kulturpraxis' (S.14). Doch damit ist die Frage nach dem Verhältnis überhaupt erst einmal aufgeworfen, noch keineswegs beantwortet.

Hier wird ein Problem sichtbar, das zugleich das Zentralproblem einer narrativen Theorie der Kultur ist. So leicht, wie sich das Eco mit der Identifikation von Zeichenprozess und Kultur gemacht hat, kann man es sich aufgrund der genannten Restriktionen und Erweiterungen mit dem Narrativen nicht machen. Ist also Kultur selbst Erzählung, oder gibt es 'nur' Erzählungen in der Kultur? Ist Erzählen eine Kulturpraxis, oder ist es die kulturelle und somit kulturstiftende Praxis schlechthin? Sind Narrative inklusiv oder exklusiv?

Aus seiner Vorsicht heraus tendiert der Verfasser eher zur ersten Variante. Um aber sein Unternehmen dennoch zu legitimieren, muss er natürlich das Narrative gegenüber anderen Varianten auszeichnen, denn anderenfalls wäre das gesamte Unternehmen in Frage gestellt. Und so lautet sein zentrales Argument: "Nur wenn sich zeigen lässt, dass Narrative einen ganz strategischen Ort in der Kultur einnehmen, ließe sich die Exklusivität von Narrativen für die Konstituierung von Kulturen rechtfertigen. Diese Exklusivität besteht im zentralen Beitrag, den das Narrative zur Identitätsbildung kultureller Formationen jedweder Art leistet." (S.147) Das bedeutet: "Zwar ist nicht alles, was in einer Kultur an symbolischem Material gegeben ist, narrativ, aber keine Kultur kann der narrativen Grundierung entbehren." (ebd.) Was bedeutet aber Grundierung? Diese Frage lässt sich methodisch präziser fassen: Ist das Narrative, sind die Narrative Teil der Kultur, oder sind sie die Kultur? Und noch weiter, auf die methodische Reflexionsebene zugespitzt: Wird die Kultur nur als Narrative beschrieben, oder ist sie die Gesamtheit der Narrative?

Auch hier tendiert der Verfasser zur konservativen, vorsichtigeren Variante. In seinem Nachwort schreibt er: "So wie sich die Struktur der Welt auch nicht […] aus der Gestalt einer Saubohne ablesen lässt, so kann auch nicht die Kultur aus der bzw. den Narrativen 'hergeleitet' werden." (S.271). Sein Fazit lautet daher: "In diesem Sinne und gegen das Bild der Saubohne gesprochen ist die vorgelegte Theorie eine 'schwache' Theorie." (S.272). 'Schwache' Theorien - vielleicht ein allzu defätistischer Begriff - sind solche, die entgegen einem hermeneutischen Imperialismus ihren Beschreibungsgegenstand nicht völlig in der Beschreibung aufgehen lassen. Vielleicht ist diese Bescheidenheit gar nicht notwendig. Zwar wird die Frage, ob die Kultur nur als Narrativ(e) beschrieben wird oder ob sie es tatsächlich ist, nicht beantwortet, doch scheint das Narrative selbst schon eine Antwort auf diese Frage zwischen narrativer Ontologie und narratologischem Konstruktivismus zu implizieren. Denn wenn etwas erzählt wird, verwandelt die Erzählung ihren Gegenstand zwangsläufig in einen Erzählgegenstand, der gar nicht anders als unter den narrativen Bedingungen sich als solcher konstituieren kann.

Und insofern ist die Theorie so schwach nicht! Die Kulturtheorie der Narrative ist zwar eine Theorie von Narrativen in der Kultur, aber eben aufgrund des Narrativen selbst auch eine Theorie der Kultur als Narrative. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die narrative Funktion des Mythos. Es ist kein Wunder, ja, es ist geradezu bezeichnend, dass der Mythos in beiden Teilen der Arbeit breiten Raum einnimmt, denn er ist sowohl theoretische Grundlage im Narrativen als auch selbst eine - und zudem nicht zu unterschätzende - Form des Narrativen. Er tritt also auf beiden Ebenen, der Objekt- und der Metaebene auf und demonstriert damit die Selbstreflexion des Narrativen bzw. der Narrative.

Und die Theorie der Narrative selbst ist eine Theorie in der Kultur für die Kultur, aber sie ist auch Kulturtheorie schlechthin. Obschon der Verfasser diesen letzten Schritt, seine Theorie selbst als Narrativ auszugeben und zu inszenieren, tunlichst vermeidet, so kann man doch - ohne irgendeinen Schaden für die Theorie selbst - das Unternehmen als Erzählung eigener Art auffassen. Gerade in dem Sinne, in dem in der Arbeit zahlreiche kulturelle Phänomene als Narrative aufgefasst werden, ist sie doch selbst auch ein narrativ eigener, reflektierter Akt, eine Makroerzählung, und eine spannende allzumal!

Einen gewichtigen Grund für diese Vorsicht ist forschungsstrategisch begründet. Der Verfasser kommt von der Literaturwissenschaft und will damit auch gar nicht hinter dem Berg halten, liefert ihm doch die Literatur einen nahezu unerschöpflichen Fundus von Narrativen, deren kulturelle Bedeutung und Erklärungskraft nicht zu überschätzen ist. Das wird schon an den vielen literarischen Beispielen deutlich, die der Verfasser immer wieder nicht nur zur Illustration heranziehen kann. Insofern geht er zurecht davon aus, dass "das literarische Erzählen eine Ausdifferenzierung, den Sonderfall einer generellen Praxis" (S.14) darstellt, die für die Kultur insgesamt charakteristisch ist. Damit geht ein zweiter Vorteil unmittelbar einher: Die literaturwissenschaftliche Narratologie mit ihren elaborierten Erzähltheorien steht als kulturelles Deskriptionsverfahren zur Verfügung. Um diese "nutzbar" zu machen, plädiert er für eine Abkehr von der einzelwissenschaftlichen Beschränkung der literaturwissenschaftlichen Narratologie von literarischen Gegenständen im engeren Sinn (S.41).

Insofern kann es nicht darum gehen, den literaturwissenschaftlichen Gegenstandsbereich zu entgrenzen, ihr "weitere Gegenstände und Methoden aufzupropfen" (S.199), sondern es muss ihr vielmehr darum zu tun sein, die narratologischen Modelle kritisch auf ihre kulturelle Stiftungs-, Inszenierungs- oder auch Erklärungsleistung zu befragen. Insofern plädiert der Verfasser für ternäre Modelle, die nicht allein binär von einem narratologischen Gegensatz von Handlung und Geschichte ausgehen, sondern das Verhältnis der beiden "ähnlich wie die Peircesche Semiotik [...] als eigene Ebene zu bestimmen suchen" (S.55). Nur so kann Erzählen als kulturelle Praxis erfasst werden (S.55), nur so kann Literaturwissenschaft einen Beitrag zur Kulturwissenschaft leisten, ohne unreflektiert zur Kulturwissenschaft einfach umgewidmet zu werden (S.199).

Nicht zuletzt ist diese Arbeit auch ein eindrucksvoller Beleg dafür, wie viel Material sich sowohl auf der Objektebene des Narrativen als auch auf der Metaebene der Theorien, Wissenschaften und Philosophien unter der Perspektive des Narrativen erschließt. Hinter der klaren und fast starren Gliederung in zwei Teile mit jeweils fünf Kapiteln (nur schade, dass man die informativen Untergliederungen nicht ins Inhaltsverzeichnis übernommen hat) verbirgt sich eine beeindruckende Belesenheit, eine tour de force, die ein immenses kulturelles Spektrum von Goethe (Werther) oder Musil oder Broch über Aristoteles oder Freud oder Ricœur bis hin zu der Riege poststrukturalistischer und postmodener Denker wie Foucault oder Derrida oder Lyotard oder auch Hayden White umfasst. Dieses Spektrum wird zudem von einem ausgezeichneten Sachregister erschlossen (leider fehlt - völlig unverständlich - ein Personenverzeichnis). In diesem Durchgang durch die Narrative bildet dieses Spektrum selbst ein Lesevergnügen eigener Art!



Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien/New York 2002. IX, 291 S. 34,80 €.


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