Virtualität / Neue Medien / Goedart Palm


Julian Kücklich

 

Goedart Palm: CyberMedienWirklichkeit. Virtuelle Welterschließungen

 

Die Welt der neuen Medien scheint theoretisch uneinholbar – insbesondere im Medium des gedruckten Wortes. Die Mechanismen der Buchproduktion entstammen einer gemächlicheren Epoche als der unseren und so haben viele wissenschaftliche und populäre Werke zu diesem Thema bei Erscheinen bereits eine Patina, die sie geradezu antiquiert erscheinen lässt. Besonders augenfällig ist dies, wenn in gedruckter Form erscheint, was sich über die Jahre im World Wide Web angesammelt hat – nun übersichtlich gegliedert und von allen Spuren des Digitalen bereinigt. Diesem Rezept folgte bereits Lev Manovichs The Language of New Media (2001) – ein Buch, dessen Anachronismus durch den Rückgriff auf die Anfänge der Kinematografie geradezu selbstironisch zur Schau gestellt wurde.

Gänzlich unironisch präsentiert sich hingegen Goedart Palms Buch CyberMedienWirklichkeit – eine Sammlung von Essays und Artikeln, die zwischen 2000 und 2003 im Online-Magazin Telepolis (http://www.heise.de/tp) publiziert wurden. Zwar räumt der Autor ein, dass "ein Buch über Virtualität […] ein schwer verzeihlicher Medienbruch sein mag" (9), doch das daraus resultierende Unbehagen bleibt dem Leser vorbehalten. Palm selbst jedenfalls verzichtet darauf, den Medienbruch zu reflektieren, und legt eine Monografie alter Schule vor, die vor gelehrten Zitaten und ausufernden Fußnoten nur so strotzt. Als Zugeständnis an das Ursprungsmedium mag man allenfalls die feuilletonistischen Zwischenüberschriften werten, deren Hang zum Kalauer ("Google-Hupf") allerdings bald an den Nerven des Lesers zehrt.

In seiner Vorbemerkung erklärt der Autor, dass es angesichts der "Beschleunigung technologischer Phänomene" vermessen erscheint, eine komplette Theorie der Virtualität zu entwerfen. Man könne allenfalls zu einem "hybriden Wissen" gelangen, "das permanent revisionsbedürftig ist" (9). Die Wissensbruchstücke, die Palm zusammenträgt, erscheinen jedoch weniger hybrid als vielmehr disparat – denn sie fügen sich nicht zu einem erkennbaren Ganzen. Man mag dem Autor zu Gute halten, dass dies das Wissen über die Virtualität adäquat abbildet. Dies wirft jedoch die Frage auf, worin der Mehrwert des gedruckten Buches besteht.

Palm versucht dieser Frage zu begegnen, indem er die beschriebenen Phänomene medienhistorisch und -theoretisch einbettet. Doch um welche Phänomene geht es eigentlich? Vordergründig beschäftigt sich der Autor mit der Frage, wie die neuen Medien unser Verhältnis zur Welt prägen und verändern. Der Modus der Virtualität dient dabei als Oberbegriff für eine Vielzahl von diffus definierten Phänomenen, die dem Autor zu Folge die Schnittstelle zwischen Realität und Virtualität bilden. Um theoretische Stringenz bemüht, beginnt Palm dabei mit der menschlichen Wahrnehmung und stellt fest: "Virtualität ist die Schnittstelle zwischen Vorstellen und Tun" (18).

Dieses theoretische Postulat erweist sich als methodisch verhängnisvoll. Denn die Herleitung einer Virtualitätstheorie über den Umweg der Erkenntnisphilosophie führt in eine Sackgasse, aus der Palm im ersten Teil des Buches keinen Ausweg findet. Nach einer "tour d'horizon" (30) durch die abendländische Philosophiegeschichte resümiert er: "Ohne Virtualität keine Wirklichkeit und ohne Wirklichkeit keine Virtualität. Danach können wir uns der Welt genauso gut über die Virtualität des Möglichen nähern wie über die Wirklichkeit" (31).

Damit könnte das Buch eigentlich enden, denn die Frage danach, wie der Modus der Virtualität unser Verhältnis zur Wirklichkeit beeinflusst, erscheint dadurch auf durchaus reduktive, aber schlüssige Weise geklärt. Doch Palm gibt sich damit nicht zufrieden. Immerhin, stellt er fest, ergeben sich aus der Prothetisierung der menschlichen Wahrnehmung durch technische Medien nicht nur Entlastungen, sondern auch "Rekomplizierungseffekte" (38). Darüber würde der Leser gerne mehr erfahren. Stattdessen schwingt sich der Autor zu einem Abriss der Technikphilosophie von McLuhan zu Manovich empor, die in der Feststellung gipfelt: "Technikphilosophie könnte mithin zum Zweig einer Psychologie virtueller Persönlichkeiten werden" (47).

Trübe Aussichten also für die Technikphilosophie, aber deren zu subalternen Softwaretherapeuten degradierten Vertreter können sich immerhin damit trösten, dass es der Medientheorie nicht besser ergeht. "Brauchen wir sie wirklich?" höhnt Palm und bescheinigt ihr ein Versagen bereits gegenüber den traditionellen Medien. "Was nützen noch 'Radio- und Fernsehtheorien'", fragt er, "nachdem nun Computer und Internet die relative Kontinuität der telematischen Entwicklung radikal aufgebrochen haben […]?"

Palm hält es lieber mit Bill Gates, dessen pseudo-revolutionärer Ausspruch "It's the very beginning" seine Erörterung der "fünf Welten des Cyberspace" einleitet. Er begreift Cyberspace als einen diffusen Ort, der offen für phantasmatische Projektionen ist. Palm zeichnet die Entwicklung des Cyberspace vom trompe l'œil der Antike bis zum digitalen Kino nach, ohne wesentlich vom Primat des Visuellen abzuweichen. Die virtuellen Welten der Literatur und der Musik kommen allenfalls am Rande vor. Der Cyberspace selbst bleibt dabei so diffus wie er zu Beginn des Kapitels definiert wurde.

Damit endet der theoretische Teil von CyberMedienWirklichkeit. Der zweite Teil, "Virtuelle Passagen", ergänzt die theoretische Reflexion durch konkrete Beispiele der virtuellen Welterschließung mittels der digitalen Medien. Dies ist angesichts der von empirischen Betrachtungen weitgehend freien Argumentation des ersten Teils durchaus begrüßenswert. Allerdings stellt sich bei der Lektüre der 'Fallstudien' bald der Verdacht ein, dass der Anspruch des Autors, ein "hybrides Wissen" zusammenzutragen, letzten Endes nur als Vorwand dient, sich die editorische Nachbearbeitung der einzelnen Essays zu ersparen.

Die Kapitel zu Themen wie Email, Suchmaschinen und Künstliche Intelligenz sind in sich geschlossen und nehmen in keinerlei Weise Bezug aufeinander. Die theoretischen Betrachtungen des ersten Teils bleiben ebenfalls weitgehend unreflektiert. Dies wäre nicht weiter schlimm, wenn die Artikel selbst ihre Neuveröffentlichung in Buchform rechtfertigen würden. Davon kann aber leider keine Rede sein. Laut Klappentext wendet sich das Buch zwar nicht in erster Linie an Medienwissenschaftler, sondern an "technisch und gesellschaftspolitisch Interessierte", aber es steht zu bezweifeln, dass diese Zielgruppe an den Essays Gefallen finden wird.

Dies liegt in erster Linie daran, dass man den meisten Artikeln ihr Alter deutlich anmerkt. Vier Jahre sind eine lange Zeit in der Welt der neuen Medien und Palm hat sich anscheinend nicht die Mühe gemacht, die Essays für die Neupublikation zu überarbeiten. Das zeigt sich sowohl an den überholten Klischees der Cybertheorie ("Email ist ist so revolutionär wie anarchisch" [128]), die der Autor einstreut, als auch an seinem antiquierten Konzept von "PC-Spielen". Zudem lassen Anspielungen auf die Trends von vorgestern ("Das Tamagotchi wird viviseziert") Palm als wenig verlässlichen Führer durch die virtuellen Welten von morgen erscheinen.

Im Epilog kommt Palm zu dem Ergebnis, dass wir in Zeiten einer "doppelten Virtualisierung" leben und dass der Diskurs über die virtuelle Realität somit selbst ein "imaginärer Diskurs" (225) ist. Worin der Beitrag von Palms Buch zu diesem Diskurs besteht, bleibt jedoch bis zum Ende offen. Denn "wohin uns die technologisch aufgerüstete Virtualität führt, vermag niemand zu sagen" (226). Der Leser bleibt mit dem Eindruck zurück, dass es in diesem Fall besser gewesen wäre zu schweigen. Dass es dem Autor nicht gelingt, die Diskrepanz zwischen seinem theoretischen Ansatz und den beschriebenen Phänomenen zu überbrücken, scheint immerhin die These von der theoretischen Uneinholbarkeit der neuen Medien zu bestätigen. Als Fazit ist dies jedoch etwas unbefriedigend.

Goedart Palm: CyberMedienWirklichkeit. Virtuelle Welterschließungen. Hannover: Heise/Telepolis 2004. 240 S. 19,00 EUR. ISBN 3-936931-17-8.



Verfasser: Julian Kücklich, veröffentlicht am 19.08.2004

   
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