Daniel Krause

 

Eric Rohmer: De Mozart en Beethoven -

Eine Würdigung

 

Dass Musik als die ontisch gehaltvollste aller Künste zu gelten hat, ist ein Gemeinplatz. Schopenhauer bringt diese Einsicht in unübertroffener Klarheit zum Ausdruck. Nietzsche verdichtet sie aphoristisch. Doch im ästhetischen Denken unserer Tage spielt Musik eine untergeordnete Rolle. Literatur, bildende Kunst und Film beherrschen das Feld. Die Musikwissenschaft nimmt wenig Anteil an Auseinandersetzungen um "Intermedialität", "Paradoxie", "Differenz". Sie richtet sich in splendid isolation ein. Wie immer man dies werten mag - der Musik wünscht man größere Aufmerksamkeit. Auch stimmen ‚Theorie und Praxis' nicht mehr zusammen: Musik spielt im Lebensvollzug eine überragende Rolle, doch wird sie kaum Gegenstand ‚existenzieller', ontologischer Reflexionen. Die wenigen Versuche, durch Musik Denken und Leben in Einklang zu bringen, werden nur selten gewürdigt. So blieb einer der ambitioniertesten musikphilosophischen Beiträge der letzten Jahrzehnte beinahe ungehört, und dies, obwohl sich sein Autor im zeitgenössischen ‚Leitmedium' Film profiliert hatte: Eric Rohmers De Mozart en Beethoven. Essai sur la notion de profondeur en musique will der Musik ihre ontologische Würde zurückgeben. Rohmer ist es um absolute Musik zu tun, v.a. das Streichquartett als deren vornehmste Gattung. Zehn Jahre nach dem Erscheinen seines Essais ist es an der Zeit, die Frage, was Musik zur Welterkenntnis beizutragen hat, neu aufzunehmen.

De Mozart en Beethoven will nicht als wissenschaftlicher Text gelesen werden. Das zeigen bereits die Überschriften an: "Das Gerade und das Gekrümmte", "Das Horizontale und das Vertikale", "Die modale Versuchung" "Der Klang und die Farbe". Doch Rohmer redet keinem naiven Subjektivismus das Wort. Ihm ist es nicht um Empfindsamkeit, um Erbauung zu tun, vielmehr um Erkenntnis. Musik ist ‚auf Augenhöhe' mit der Philosophie. Das gilt besonders für Mozart:

Ich werde nicht behaupten, daß ich Mozart für den größten aller Musikschöpfer halte: Bach und Beethoven kommen ihm gleich. Aber er ist der tiefste. [...] (13)

Mozarts Tiefe ist vor dem Hintergrund der kantischen Philosophie zu verstehen. Dennoch gibt es keine kausalen Zusammenhänge zwischen Philosophie- und Musikgeschichte:

Ich habe niemals an den ursächlichen wechselseitigen Einfluß der verschiedenen Künste und der Philosophie geglaubt. Tizian, Rembrandt und Velázquez sind auf ihre Art Kantianer, das heißt Moderne. Der transzendentale Idealismus konnte bei einigen großen Genies implizit seinen künstlerischen Ausdruck finden, noch bevor er explizit in den Begriffen der Philosophie formuliert war. (14)

Die "kopernikanische Wende" zur transzendentalen Philosophie wird von Rohmer folgendermaßen gedeutet:

Obwohl es Kant [...] nicht vorausfühlte, wurde unsere Auffassung vom Zusammenhang zwischen Kunst und Natur infolge seiner Erkenntnisse umgedreht. Nicht mehr ist die Natur der Garant für die Wahrheit der Kunst, sondern umgekehrt. Man könnte, den Ausspruch Boileaus auf den Kopf stellend, sagen: "Nichts ist wahr, außer das Schöne; also ist die Kunst wahr." (15)

Wie äußert sich der Wahrheitsanspruch der Musik? Zunächst in einem neuen Bewusstsein der eigenen Würde:

[...] die Musik beginnt in diesen Jahren [im 18. Jahrhundert] überhaupt erst den Anspruch zu erheben, daß sie etwas zu sagen hätte. (16)

Doch erst an der Wende zum 19. Jahrhundert - in der romantischen Ära -, wird die ontologische Leistung der ‚neuen': klassischen Musik zur Kenntnis genommen

Doch [...] setzt sich bis an das Ende des Jahrhunderts die Gewohnheit fort, in einem Musikstück nichts als die platteste [...] Nachahmung der sichtbaren und hörbaren Welt zu erblicken. Man erkennt dies an den Titeln von Sinfonien Joseph Haydns (Die Uhr, Die Jagd, Die Henne usw.) und selbst noch bei Mozarts grandioser Es-Dur-Sinfonie KV 543, der seine Zeitgenossen den lächerlichen Titel Die Schaukel gaben, obwohl das Andante [...] für uns, die Menschen des 20. Jahrhunderts, einer der Sätze ist, worin die kosmische Tiefe des Mozartischen Denkens am deutlichsten in Erscheinung tritt. (17)

‚Zeit' ist der Schlüsselbegriff für das Verständnis klassischer Musik. Mit Mozart löst sie ihr wesentlichstes Vorrecht ein - sie wird als Zeit-Kunst begriffen:

Diese neue Dimension, die in die Musik hineinkommt, könnte man die Dimension des Dramas nennen. Ich ziehe es vor, von der Dimension der Zeit zu sprechen, wenigstens von einer ganz neuen Auffassung der Zeit, der zerrissenen, gerichteten, lebendigen Zeit, nicht der glatten, wiederkehrenden, mechanischen Zeit der barocken Suiten. (18)

Die "dramatische" oder "diskursive" Dimension der Musik begründet zugleich deren ‚Sprachlichkeit'. In gewisser Weise ist Musik ‚sprachlicher' als die (gesprochene) Sprache:

In allen Sprachen lässt sich [...] bei der Frage eine aufsteigende melodische Linie [...] feststellen. [...] Aber auch wenn dieses Zeichen allen Sprachen, zumindest den europäischen, gemein ist, behält es doch seinen kontingenten Charakter. Es wird erlernt. Das Eigentümliche der Musik besteht darin, diese Intonation mit dem Gefühl des Notwendigen zu erfüllen, durch die einfache Tatsache, daß sie sich dabei auf die tragenden Säulen der musikalischen Harmonie stützt, die ihrerseits wiederum Resultat der Naturgesetze [der Obertonreihe] ist. (87)

Rohmer befasst sich aber nicht so sehr mit der ‚Sprachlichkeit' der Musik - obwohl sein Ansatz originell und verheißungsvoll ist. Sein Interesse gilt dem "Akt des Fragens" (88). Er stützt sich auf Heideggers Ontologie:

Diese Frage [die Seinsfrage] entdeckt uns das Sein in seiner äußersten Allgemeinheit, einfach dadurch, daß sie Frage ist und nichts anderes sein will als Frage, und [...] weil es sich in der von Mozart vorgenommenen Übersetzung um einen Vorgang handelt, dem nichts Verstandesmäßiges anhaftet. Sie bleibt ganz Empfindung, wird als Frage in der Tiefe unseres Herzens und unseres physischen Seins vernommen; sie ergreift uns mit der tiefsten Emotion der Welt, weil es nichts Tieferes geben kann als die Angst des reinen Fragens, insoweit es die Gabe hat, uns dem Sein selbst gegenüberzustellen. "Das Fragen ist die echte und rechte und einzige Weise der Würdigung dessen, was aus höchstem Rang unser Dasein in der Macht hält", präzisiert Heidegger. (89)

Rohmer gibt ein Beispiel solcher Musik, die ‚alles' in Frage stellt:

Wenn man mich fragt, welches Werk des tiefsten aller Komponisten wohl für den heutigen Hörer das unmittelbar tiefste sei, dann würde ich das Streichquintett KV 593 D-Dur nennen.

Erneut ist Mozart das ‚Maß aller Dinge', nicht allein für Musik. Der Titel führt aber auch Beethoven an. Worin liegt Beethovens Tiefe?

Wenn man die Musik Mozarts vielleicht als eine Musik des Seienden bezeichnen könnte, dann wäre die Musik Beethovens eine Musik der Ideen, insoweit die beiden Begriffe durch ihre Konnotationen des Objektiven beziehungsweise Subjektiven einander entgegengesetzt sind. (100)

‚Subjekt' und ‚Objekt' sind komplementäre Begriffe, der eine ist nicht ohne den andern zu denken. Ähnlich verhält es sich mit Mozart und Beethoven:

[...] mir fällt es schwer, von Mozart zu sprechen, ohne ihm Beethoven hinzuzufügen. [...] (116)

Gemeinsam bilden sie das Ganze der musikalischen Erfahrung:

[...] sie bilden eines jener antithetischen Paare, die die Geschichte der Künst durchziehen: Michelangelo/Raffael, Rembrandt/Rubens, Ingres/Delacroix, Picasso/Matisse, [...] Corneille/Racine, Goethe/Schiller, Balzac/Stendhal und so fort. (116)

Rohmer lässt freilich eine Präferenz für Mozart erkennen. Beethovens Musik ist weniger, weil sie mehr ‚will':

Sie [die Musik Beethovens] versteht es nicht mehr, [...] über die Wahrnehmung der sie bestimmenden Gesetze jene des sichtbaren und unsichtbaren Universums zu ergreifen. Sie wird in den Dienst einer anderen Idee als der eigentlichen, die sie von sich selbst hat, gestellt. Sie wird zum Mittel. (146)

Dabei belässt es Rohmer nicht: Mag sein, dass Mozarts Musik größerer ontischer Reichtum zukommt. Doch ethisch überragt Beethoven alles, was ist. Wieder beruft sich Rohmer auf die Philosophie Kants, diesmal die praktische. Von Mozart zu Beethoven schließt mit Beethovens Spätwerks als tönender Rechtfertigung des Kategorischen Imperativs:

Die Musik ist gut, folglich ist die Welt gut. [...] Beethoven schreibt uns unser Handeln nicht vor, nicht einmal in dem berühmten "Es muß sein" [...]. Er eröffnet uns einfach [...] das Feld der Möglichkeiten, das heißt den Raum unserer Freiheit. "Du sollst, also kannst du" - auf seine Weise sagt das auch er. (222)

Gewiss, manches in diesem Buch wäre einfacher, schlichter, klarer zu sagen; manches passt nicht zusammen; viele Ideen verdienten, gründlicher dargestellt zu werden. Doch das ist kein Einwand: Wer eine Frage neu zu Bewusstsein bringt, nach vielen Jahrzehnten, hat Anspruch auf Nachsicht in den Details. Wir selber, die Leser, täten uns keinen Gefallen, die Leistung Rohmers wegen solcherlei Defizienzen gering zu schätzen. Auch sollten wir die ontologische Betrachtungsweise nicht als unzeitgemäß abtun: Es sind die exzentrischen, randständigen Beiträge, die Einsicht vermitteln. Am meisten Gewicht hat ein Denken, das ‚außer der Zeit' steht.

Das französische Original: De Mozart en Beethoven ist 1996 bei den Actes Sud erschienen, die deutsche Übersetzung 1997 im Residenz-Verlag.



Verfasser: Daniel Krause, veröffentlicht am 20.12.2005

   
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