Medien, Medium, Medientheorie, Medienwissenschaft


Oliver Jahraus

 

Schlag nach bei Schanze
Ein Lexikon zur Medientheorie und Medienwissenschaft

Helmut Schanze Bemühungen für eine Medienwissenschaft, wie sie sich, bei weitem nicht zum ersten Mal in dem vorliegenden Lexikon ausdrücken, können heute vielleicht noch gar nicht richtig eingeschätzt werden; vielleicht muss man erst die Rezeptionsgeschichte seiner grundlegenden Bücher abwarten. Bereits im Jahre 2001 hat er ein „Handbuch der Mediengeschichte“ im Kröner-Verlag herausgegeben, und ein Jahr später nun dieses „Schwesterwerk“ (S.VIII), dieses Lexikon im Metzler Verlag. Es war im Grunde genommen nur eine Frage der Zeit, bis der Metzler Verlag seine inzwischen stark ausgebaute Reihe von Lexika zu aktuellen kulturwissenschaftlichen Forschungsfeldern auch um das fällige Lexikon zur Medienwissenschaft erweitern würde.

Helmut Schanze hat damit zwei Grundlagentexte zur Medienwissenschaft zu verantworten, die nicht ohne weitreichende Auswirkungen auf die Entwicklung dieses Faches bleiben können – zumal bei einer so prekären Ausgangssituation. Medienwissenschaft ist kaum als institutionalisiertes Fach zu bezeichnen. Einstmals hochtrabende Hoffnungen und Erwartungen, die Medienwissenschaft werde alle Philologien und überhaupt die Geisteswissenschaften beerben, vielleicht sogar einen Teil der Sozialwissenschaften übernehmen, und vor allem die Kulturwissenschaft schlechthin werden, die den alten Gegensatz von Geistes- und Naturwissenschaft gänzlich aufhebt, all diese Erwartungen und Hoffnungen haben sich nicht erfüllt.

Aber nur mit enttäuschten Erwartungen und Hoffnungen kann man die heutige Situation der Medienwissenschaft kaum angemessen beschreiben. Im Gegenteil, aus dieser Ausgangslage heraus hat das, was sich heutzutage Medienwissenschaft nennt, aus der Not eine Tugend gemacht und ein völlig neues Wissenschaftsverständnis entwickelt. Was sich nicht erfüllt hat, war der Glaube, dass aus der erkannten Dominanz der Medien für Kultur und Gesellschaft eine gleichermaßen einheitliche Wissenschaftsformation resultieren müsste. Heute kann man sehen, dass der Übergang von der gesellschaftlichen Bedeutung zur wissenschaftlichen Formation ohnehin ein Trugschluss war. Es gilt vielmehr das Gegenteil: Wer die Konstitutionskraft der Medien für Gesellschaft, Kultur, ja selbst für unsere Wirklichkeit, in welcher Facette auch immer, durchschaut, weiß, dass sie nicht mehr in einem klassischen Wissenschaftsmodell zu verobjektivieren sind. Die Komplexität medialer Konstitutionen macht auch vor der Wissenschaft nicht halt. Man kann sogar sagen, dass vielleicht nirgendwo sonst der reflexive Zusammenhang zwischen der Objektebene der Medien und der Metaebene ihrer Wissenschaft so dynamisch und flexibel gehandhabt werden muss wie im Falle der Medien und der Medienwissenschaft.

Die Medienwissenschaft hat also eine eigentümliche Karriere gemacht. Nach der Euphorie der 70er und 80er Jahre kam mit der Enttäuschung keineswegs die Depression, sondern ein produktiver Wandel. Wie produktiv gerade auch im Hinblick eines eigenen Wissenschaftsverständnisses dieser Wandel gewesen ist, davon legen nicht zuletzt die beiden genannten Bücher von Helmut Schanze Zeugnis ab.

Insofern durchschlägt Helmut Schanze mit seinem Lexikon einen gordischen Knoten, der einem wie ein typischer hermeneutischer Zirkel vorkommt. Wie kann man Artikel systematisch für ein medienwissenschaftliches Lexikon sammeln, wenn man gar keine Konzeption von Medienwissenschaft hat? Und wie kann man eine Konzeption von Medienwissenschaft entwickeln, wenn es kein Lexikon gibt, das den Gegenstandsbereich der Medienwissenschaft systematisch abdeckt? Genau diese Schwebesituation nimmt Schanze zum Ausgangspunkt, um in wechselseitiger Durchdringung mit dem Lexikon zur Kontur einer Medienwissenschaft beizutragen, gleichzeitig aber auch ein flexibles Konzept vorzugeben, um die Artikel des Lexikons versammeln zu können.

Vor diesem Hintergrund ist die durchaus programmatische Frage Schanzes zu verstehen, „ob man gegenwärtig bereits von einer Medienwissenschaft sprechen kann, ob nicht sogar der Plural der Medienwissenschaften, die inter- und transdisziplinäre Vernetzung, ein angemessenes wissenschaftliches Arbeitsmodell sei“ (S.V). Die Frage ist rhetorischer Natur, denn genau diesem inter- und transdisziplinären Konzept folgt die Auswahl der Artikel, ja. Mehr noch, die Auswahl exemplifiziert die Idee von Inter- und Transdisziplinarität regelrecht. Dass im Wörtchen ‚bereits’ doch noch so etwas wie die alte Hoffnung nach der Medienwissenschaft mitschwingt, vermerke ich nur am Rande. Entscheidend ist aber – und das kann zugleich als Programm gelten – die Verhältnisbestimmung von Medienwissenschaft und Medienwissenschaften: „Das Projekt Medienwissenschaft sucht jedoch Vernetzungen, Schnittstellen und Synergien zwischen den Medienwissenschaften auf.“ (S.V) Als Projekt ist Medienwissenschaft keine „Superwissenschaft“, sondern „ein Aggregat von Wissen“ (S.VII), also ein Verbund, eine vielfältige Kooperation, und wer will, könnte sagen: ein Rhizom, offen, aber nicht konturlos, flexibel, aber nicht beliebig.

Man kann durchaus so weit gehen, zu sagen, dass diese Bücher zu Marksteinen der Wissenschaftsentwicklung der Medienwissenschaft und zu Symptomen eines Prozesses geworden sind, in dem sich ein neues, vielschichtiges Bild dieser Wissenschaft abzuzeichnen beginnt. Dass Medienwissenschaft überhaupt eine solche Kontur gewinnt, das lässt sich an den beiden genannten Publikationen ablesen, wird hier doch gerade das Bedürfnis nach einer Grundsatz- und Handbibliothek, wie sie jede Wissenschaft mit sich bringt, gestillt.

Nach dem Handbuch zur Mediengeschichte nunmehr das Lexikon zu Medientheorie und Medienwissenschaft. Damit wird eigentlich sogar ein logischer Übergang vollzogen, der zusätzlich dafür spricht, wie solche Bücher zur Grundlegung, aber auch zur Außenwirkung der Medienwissenschaft beitragen können. Nach der historischen Perspektive des Handbuchs dient das Lexikon nunmehr der systematischen Dimension. Hat das Handbuch in einzelnen, aber wenigen und z.T. umfassend ausgearbeiteten Kapiteln Stationen der Mediengeschichte nachgezeichnet, so umfasst das Lexikon ca. 250 naturgemäß deutlich kürzere Artikel.

In dieser Situation ist eine der vorrangigsten Aufgaben des Projekts Medienwissenschaft seine Gegenstandsbestimmung und Gegenstandssicherung. Diese Aufgabe übernimmt im Rahmen der Wissenschaftsarchitektur die jeweilige Theorie, hier die Medientheorie. Medientheorie dient also dazu, den Gegenstandsbereich Medium/Medien für die Medienwissenschaft abzustecken; sie bezeichnet den medienwissenschaftlichen Kernbestand an Fragestellungen, die Medium und Medien zu bestimmen suchen. Aus diesem Grund allein ist es gerechtfertigt, dass dieser Begriff mit in den Titel des Lexikons gelangt ist. Gleichzeitig schafft aber die Medientheorie auch die Verbindung zur „allgemeinen Kulturtheorie“ und „grenzt sich […] von ihr ab, indem sie diese technologisch spezifiziert“ (S.V).

Damit wird schon eine grundsätzliche Tendenz angedeutet, nämlich den Medienbegriff eher technisch bzw. technologisch zu fundieren. Ein entsprechender Eindruck ergibt sich auch aus der Gesamtübersicht über alle Artikel und aus der Zusammenstellung und der Vielzahl von Definitionen und definitorischen Bemühungen; daraus ließe sich ohnehin eine Menge ableiten, z.B., welche Dimensionen des Medienbegriffs neben der technischen Dimension vorrangig entfaltet werden, welche Bedeutung kommunikative oder semiotische Dimensionen haben, inwieweit rein systematische, konzeptionelle oder gar ‚esoterische’ Medien eine Rolle spielen, die z.B. auf Vermittlung, Mitte, Kopplung und Verschmelzung abheben. Man darf das allerdings auch nicht überinterpretieren, denn immerhin haben über 70 Beiträgerinnen und Beiträger am Lexikon mitgearbeitet. Das allein ist schon ein Beleg für die Kooperation, die dem Projekt Medienwissenschaft zugrunde liegt. Allein das Wortfeld „Medien“ mit all seinen Kompositabildungen wie z.B. Medienästhetik, Medienethik, Medienkritik, Medienkultur, Medienpädagogik, Medienpsychologie, Medienrecht, Mediensoziologie, Mediensystem, Medientechnologie, Medientheorie, Medienwechsel, Medienwechsel, Medienwissenschaft umfasst 36 Beiträge von zum Teil – wie das gesamte Lexikon – namhaften Autoren wie Helmut Schanze selbst, Reinhold Viehoff, Ralf Schnell, Detlev Schnöttker u.v.a.m. Hier darf man keine stringente Einheitlichkeit erwarten. Wie Medium/Medien letztlich definiert werden, hängt von vielerlei Faktoren ab, nicht allein von den unterschiedlichen Autoren, sondern z.B. von der Frage, welche Begriffe, Disziplinen oder Konzeptionen jeweils im Hintergrund stehen. Der Leser bekommt aber in jedem Fall klar gegliederte und zentrale Informationen, die helfen, sich in dieser Kooperationsleistung zurechtzufinden und – um die Surfmetapher aufzugreifen – in diesem lexikalischen Universum eigenständig zu navigieren.

Bei 250 Artikeln kann man keine wesentlichen Defizite in der gebotenen Bandbreite ausmachen. Bisweilen ist die Auswahl der Lemmata problematisch und nicht ganz nachzuvollziehen. Wäre es z.B. nicht möglich gewesen, „Literatur und Medien“ und „Literatur und Neue Medien“ zusammenzuziehen? Hier divergieren sogar die Schreibweisen im etymologischen Hinweis auf den lateinischen Ursprung des Wortes ‚Literatur’: literatura/litteratura? Nun gut, das ist kleinlich und tut der Gesamtleistung des Lexikons überhaupt keinen Abbruch; es zeigt aber doch, dass der Leser aufgefordert ist, sich seine eigenen Wege zu suchen. Und vielleicht ist das auch das Gebot der Stunde der Medienwissenschaft.

Mit dem Wissenschaftsverständnis verändert sich so auch der Charakter dessen, was ein Lexikon ist. Es ist jedenfalls nicht mehr eine Institution der Verbindlichkeit, sondern selbst eine Schnittstelle; seine Adressierung, wenn der Begriff gestattet ist, ist komplexer geworden. Man holt sich nicht einfach Wissen ab, sondern man beobachtet, wie Wissen aus Vernetzung entsteht und in der Vernetzung dynamisch bleibt. Dass das Lexikon dennoch hervorragende Erstinformationen und vorzügliche Orientierung bietet, ist damit keineswegs bestritten. Es reagiert aber gerade nicht auf einen „Mangel an Informationsmitteln“, sondern es will die Idee der Orientierung effektiver umsetzen und sich dabei „bewähren“ (S.VI). Man muss in der Tat vielmehr herausstreichen, wie bedeutsam gerade bei diesem Lexikon die Vernetzung ist und wie sehr Beitrag auch als Beitrag zu verstehen ist, wie Helmut Schanze es selbst ausspricht (S.VIII). Wer also von Artikel zu Artikel springt, dabei auch invariante und variante Medienkonzeptionen beobachtet, folgt genau dem Wissenschaftsprinzip des Projekts Medienwissenschaft. In der Gesamtauswahl der Artikel kann man sehr gut erkennen, worauf es Schanze ankommt, nämlich die Überbrückung der Kluft zwischen „Theorie und Ausbildung“ (S.VI). Die Artikel decken daher nicht nur jenen Bereich ab, in denen sich die heutige Gesellschaft und Kultur als Mediengesellschaft und Medienkultur beschreiben und verstehen lässt, sondern auch jenen Bereich, in dem diese Selbstbeschreibung Eingang in die wissenschaftliche, nicht zuletzt universitäre Forschung und Lehre gefunden hat.

Der Tatsache, dass Medienwissenschaft sich aus vielerlei unterschiedlichen und sich in ihren Konzeptionen auch widersprüchlichen Positionen zusammensetzt, trägt das Lexikon auch dadurch Rechnung, dass sie neben den begrifflichen Lemmata auch Artikel zu einzelnen Wissenschaftlern aufgenommen hat. So kann man sich über Adorno, McLuhan, über Kittler, über S.J.Schmidt, selbst über Luhmann informieren, man erfährt zum Beispiel auch, welche Personen und Ideen sich hinter dem Kommunikationsmodell von Shannon/Weaver verbergen.

Darüber hinaus – und darin sehe ich eine der wesentlichsten Leistungen des Lexikons – erhält der Leser einen großen Querschnitt über die vielen Fragestellungen und die einzelnen Forschungskomplexe des Projekts Medienwissenschaft. Oder anders gesagt: Mit diesem Buch hat er das Projekt Medienwissenschaft natürlich nicht allumfassend, aber doch so umfassend wie heute nirgendwo sonst, in seiner Hand.

Metzler Lexikon Medientheorie Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. hg. v. Helmut Schanze. Unter Mitarbeit von Susanne Pütz. Stuttgart, Weimar: Metzler Verlag 2002, ISBN: 3-476-01761-3, VIII + 380 S., 39,90 €.



Verfasser: oliver.jahraus@gmx.de

   
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