Oliver Jahraus

 

Eros und Pathos.

Ein Beitrag der Linguistik zum Fortschritt im Datenmanagement

 

Rezension zu Helmut Kraussers Dokumentarroman Die kleinen Gärten des Maestro Puccini, Köln: DuMont 2008, 381 S., 19,90 €.

In seinem grandiosen Roman dokumentiert Helmut Krausser Episoden aus Puccinis Leben, die bislang so noch nicht bekannt sind, und erzählt dabei gleichzeitig hochgradig emotionalisierte leidenschaftlichen Liebesgeschichten voller Tragik, indem er das Emotionalisierungspotenzial der Oper auf den Roman überträgt.

Il suo nome è Amor!

Wenn je die Literatur, wenn je der Roman, diese prosaistische aller Gattungen, jener unvergleichlich gefühlsmächtigeren Gattung der Oper nahegekommen ist, dann ist es dieser Roman von Helmut Krausser. Der Roman besteht aus drei Büchern, überschrieben mit drei Frauennamen: Cori, Sybil und Doria. Hinter diesen Namen verbergen sich drei Frauen, die mit Puccinis Leben geradezu schicksalshaft verknüpft waren. Ich lese die drei Bücher als drei Akte einer Oper, weil sie eine im Grunde genommen tragische Handlung erzählen, weil sie Größe und Leiden dieses Komponisten so in Erinnerung rufen, dass sich dabei die Musik immer als das tragende Element deutlich durch die Schrift hörbar macht.

Und das ist bemerkenswert, denn der Roman nennt sich selbst Dokumentarroman – und das ist er auch. Er dokumentiert entscheidende Episoden aus der Biographie Puccinis, ja mehr noch, er deckt bestimmte Zusammenhänge dokumentarisch auf, denen die wissenschaftlichen Biographien bislang nicht auf die Spur gekommen waren. Helmut Krausser ist ihnen auf die Spur gekommen, vor allem der Identität jener Cori oder Corinna, wie sie Puccini selbst in anagrammatischer Verschleierung genannt hat. Krausser hat darüber einen eigenen Bericht geschrieben, der kurz vor dem Roman Ende Januar veröffentlicht worden ist: Die Jagd nach Corinna. Wer sich für den Namen dieser geheimnisvollen, jungen Frau interessiert, die in den Biographien meist nur unter dem falschen Namen Corinna genannt wird, mal ausführlicher, mal nur als Fußnote, der erfährt in Kraussers Roman ihren wahren Namen. Und er erfährt, dass diese Frau, die, weil den Biographen so wenig bekannt, noch heute eine geheimnisvolle Aura besitzt, keineswegs nur eine Fußnote in Puccinis Biographie war oder sein sollte, sondern die große Leidenschaft seiner mittleren Jahre. Vielleicht wäre sie sogar seine Frau geworden, hätte nicht ein Autounfall des Autonarrs der ersten Stunde, Puccini, den Ereignissen einen anderen Verlauf gegeben.

Aber wenn der Roman nur Dokumentarroman wäre, dann würde eben lediglich eine Fußnote der Puccini-Biographik ergänzt und im besten Falle einen Lebensabschnitt neu geschrieben werden. Aber Die kleinen Gärten des Maestro Puccini sind wahrlich nicht allein ein Dokumentarroman, sondern auch ein Liebesroman und vielleicht mehr noch als Liebesroman par excellence. Helmut Krausser hat selbst gesagt, sein Roman hätte weniger mit Musik zu tun. In der Tat ist Musik nicht das wichtigste Thema im Roman, obschon Puccinis Komponistentätigkeit genau begleitet und mit geradezu brillanten kleinen Aperçus seine Musik charakterisiert wird, insbesondere in ihrem Fortschritt, in ihrer italienischen Belcanto-Eigenschaft und in der Konkurrenzsituation mit einer neuen Form der Opernmusik mit völlig neuartigem Klangpotenzial wie bei Debussy oder vor allem bei Richard Strauss. Kraussers Roman ist sich dieser Spannung zwischen dem Dokumentarischen und dem Romanhaften durchaus bewusst, wenn zum Beispiel mehrmals angemerkt wird, dass bestimmte, biographisch verbürgte Episoden so in einem reinen Roman nicht hätten erzählt werden dürfen, weil sie jeder Glaubhaftigkeit und Wahrscheinlichkeit entbehren.

Und dennoch spielt die Musik eine gewaltige Rolle in diesem Roman. Nicht als Thema, sondern fast schon so wie in der Oper, wo die Musik nicht nur die Handlung und Figurenrede trägt, sondern ein zweites und damit eigentlich ein erstes Medium darstellt, um jene Emotionen auszudrücken, die als Emotionalität in der erzählten und aufgeführten Geschichte zugleich die Emotionalität der Rezeption, der Aufführung ausmachen. Wer Puccinis Musik kennt, wird kaum umhin können, die Musik jener langen, extrem emotionalisierten Akte des Scheiterns der Liebe (wie vor allem im dritten Akt der Madame Butterfly) bei den Geschichten, die Krausser ebenso dokumentiert wie erzählt, schlichtweg mitzuhören. Genau das ist das entscheidende Moment: Als Dokumentarist sammelt er Fakten, als Romancier bietet er diese Fakten narrativ dar, bindet sie in eine erzählte Struktur ein – aber all das macht noch keinen Krausser-Roman aus.

Denn er erzählt uns nicht allein eine Biographie, sondern er erzählt uns vom Eros eines großen Komponisten und Künstlers. Er erzählt uns Liebesgeschichten, die nicht verschämt verschweigen, dass zur Liebe auch die Sexualität, die Leidenschaft gehört, was erst zusammen den Eros ausmacht, der immer im Spannungsfeld physischer, psychischer und sozialer Kräfte steht. Die kleinen Gärten sind die entsprechenden loci amoeni, aber auch die Fluchten Puccinis und wohl nicht zuletzt auch weibliche Topographien. Und er erzählt vom Einbruch der Leidenschaft in die geordnete Welt der Bürgerlichkeit, die auch den Eros und das Begehren ökonomisiert hat. Das Paar, das – anderweitig verheiratet – endlich zusammenkommen kann und dann statt der glücklichen Ehe die Gewalt der außerehelichen Leidenschaften erleben muss – wer Vergleichbares lesen will, muss schon zu Goethes Wahlverwandtschaften zurückgehen.

Und Helmut Krausser weiß nur zu gut, dass sich dieser Eros nicht ohne Pathos erzählen lässt, und wer die Musik – vor allem hier die Musik Puccinis – so kennt wie Helmut Krausser, der kann mit den erzählerischen Fähigkeiten eines Helmut Kraussers unterschwellig diese Musik zur Musik seines Romans machen. Das vorliegende Buch ist der Roman zur Musik Puccinis, genauso, wie die Musik den Roman und das, wovon er erzählt, begleitet. Aber es ist nicht die pure Begleitmusik, diese Musik ist vielmehr der innerste Kern des Romans.

Wenn man bedenkt, auf welche emotionale Höllenfahrt der Roman den Leser schickt, dann mutet die Bezeichnung Dokumentarroman – bei aller Legitimität der Arbeit, die sich damit ausdrückt – fast schon wie eine unzulässige Verharmlosung an. Das kann vielleicht schon die Anordnung der drei Bücher deutlich machen. Krausser folgt der biographischen Linie. Steht am Anfang die heiße Leidenschaft einer sehr jungen Frau, die ich gerne einmal gekannt hätte, so ist der mittlere, ruhigste Teil des Romans, das zweite Buch, einer eher abgeklärten Freundschaft gewidmet, die nur ein einziges Mal, zum Bedauern Puccinis, im Bett landet. Und der letzte Akt macht aus dem Drama des Romans eine Tragödie. Das letzte Buch ist der langjährigen, sehr jungen Hausangestellten Puccinis, Doria, gewidmet, mit der er kein einziges Mal schläft, die aber aufgrund geradezu lächerlicher Umstände in den Blick der Eifersuchtsattacken seiner Frau Elvira gerät. Diese Angriffe werden so heftig, dass das Mädchen Selbstmord begeht. Mein Gott, so etwas kann man sich nicht ausdenken. Wenn man bedenkt, mit wie vielen Frauen Puccini geschlafen hat, wie viele Frauen Puccini, der nicht nur ein attraktiver Mann, sondern auch ein Star war, verfallen sind, wenn man bedenkt, dass Puccini nichts dabei fand, seine Ehefrau zu betrügen, solange nur die Ehe nicht gefährdet war, wenn man bedenkt, dass kaum eine Frau vor Puccinis Avancen sicher war, dann ist es nicht nur tragisch, sondern sogar grotesk und absurd, dass gerade die Person, die Puccini wohl am leichtesten hätte haben können, mit der er aber tatsächlich nichts gehabt hat, gerade zum Zentrum einer unglaublichen Kampagne seiner vor Eifersucht völlig wahnsinnigen und durchgedrehten Frau Elvira wurde. Aber genau dieser Umstand fügt dieses letzte Buch nicht nur dokumentarisch und chronologisch in die Nacherzählung der Biographie ein, sondern auch dramaturgisch in dieses Drama, das der Roman erzählt. Und gleichzeitig ist dies auch eine Gesamtdramaturgie der Emotionalisierung des Rezipienten, wie man es aus der großen Oper kennt.

Krausser ist ein Meister des Pathos! Es ist sein Verdienst darauf hingewiesen zu haben, dass sich bestimmte Geschichten nicht ohne Pathos erzählen lassen, es ist sein Verdienst, sich nicht vor dem Pathos zu scheuen. Und das Pathos führt zu einer eminenten Emotionalisierung des Rezipienten. Zur Meisterschaft des Pathos gehört aber auch, es dort einzusetzen, wo es hingehört, und dort zurückzunehmen, wo es nicht hingehört. Wie Krausser damit umzugehen weiß, das beweist dieser Roman. Und die Gattungsbezeichnung Dokumentarroman ist im Grunde eine gefährliche Verschleierung von Kraussers Könnerschaft, die den unbedarften Leser um so unnachsichtiger zum wehrlosen Opfer dieser Emotionalisierungsstrategie werden lässt.

Nur ein Beispiel: Puccini hat endlich, durch Intrigen falsch informiert und in seiner Männlichkeit gekränkt, die Beziehung zu Corinna abgebrochen. Er heiratet statt dessen eine langjährige Geliebte, Elvira, mit der er einen Sohn hat, und die in der Folge sein Leben aufgrund seiner erotischen Eskapaden zur Hölle machen wird, was ihn zu neuen Eskapaden anspornt. Als Ehefrau besucht Elvira an der Seite ihres Mannes die Premiere der Madame Butterfly. Es wird ein gewaltiger Misserfolg. Wenig später sieht er, nach dem schlimmsten Jahr seines Lebens, geprägt von beruflichem und emotionalem Misserfolg, nach einem Unfall und einer nur wenig Glück verheißenden Heirat mit Elvira, Corinna, Cori, ein letztes Mal auf einer Brücke in Turin. Es kommt zu einem Abschiedsgespräch von äußerster Bitterkeit. Und Bitterkeit ist ein starkes Gefühl. Und als Krausser dieses Abschiedspathos auf die Höhe getrieben hat, schaltet er schlagartig um und überrascht den Leser mit zwei Informationen. 1950 hätte Madame Butterfly den Rang der weltweit meistgespielten Oper erreicht – und er nennt jetzt erst, aus dem Zusammenhang gerissen, den wahren Namen Coris. Und genau dadurch wird der Effekt noch sehr viel stärker. Krausser schickt seinen Leser auf eine Berg- und Talfahrt, und man weiß nicht, was einem mehr den Atem raubt: die Bitterkeit einer emotionalisierten Abschiedsszene oder die dokumentarische Trockenheit quantitativer Daten und Einträge des Personenstandsregisters.

Und Helmut Krausser selbst? Es liegt uns nahe, Künstlerromane immer auch auf den Autor selbst zu übertragen und den geschilderten Künstler immer auch als Modellfall für das ästhetische Selbstverständnis des Autors zu lesen. Krausser lädt dazu ein, wenn er berichtet, dass bei Puccini die Beliebtheit beim Publikum in einem umgekehrten Verhältnis zur Anerkennung durch die Kritik steht. Das sind Aussagen, die auch Krausser über sich und sein Werk machen könnte. Wenn dem so ist, so hat Krausser auch die Frage nach dem Verhältnis von Eros und Pathos in der Kunst wieder auf die Tagesordnung gesetzt.


Kontakt: Oliver Jahraus Veröffentlicht am 14.03.2008

   
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