Kultur, Kulturwissenschaft, Konzepte der Kulturwissenschaften, Ansgar Nünning, Vera Nünning, Metzler Verlag


Oliver Jahraus

 

Die Idee der Kultur und die Kulturwissenschaften

 

In seinem programmatischen Aufsatz „Dichte Beschreibung“ bezieht sich Clifford Geertz (in: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. 1987, S.7-43) auf eine Idee von Susanne K. Langer, wonach sich bestimmte Ideen entwickeln, die eine Zeitlang die fundamentale Lösung konzeptionell-theoretischer Probleme der Wissenschaft(en) versprechen und irgendwann einmal in Selbstverständlichkeit übergehen. Zu einer solchen grande idée gehört der Kulturbegriff. In der Tat hat der Kulturbegriff eine beeindruckende Konjunktur hinter sich. Dabei muss man allerdings differenzieren. Das Nachdenken über Kultur ist so alt wie die Kultur selbst. Neu aber ist, so etwas wie Kulturwissenschaft theoretisch zu begründen und praktisch zu institutionalisieren. Objekt- und Metaebene bedingen sich dabei gegenseitig. So wie auf der einen Seite die Idee einer Kulturwissenschaft oder der Kulturwissenschaften generell vorangetrieben wird, so bringt dies auch neue Formen des Nachdenkens über Kultur mit sich. In diesem Kontext werden zahlreiche mittlerweile historische Formen von Kulturphilosophie und anderen Kulturkonzeptionen aktualisiert.

Selbstverständlich ist es heute von Kulturwissenschaft und Kulturwissenschaften zu sprechen, eine Herangehensweise und eine Methodik oder aber einen bestimmten Gegenstand als kulturwissenschaftlich zu erklären. Doch die Selbstverständlichkeit schwindet, wenn man genauer nach dem fragt, was sich hinter dem Kulturbegriff und seinen Wissenschaften verbirgt.

Die Situation lässt sich sehr leicht vergleichen mit dem Problem der Medienwissenschft(en). In beiden Fällen gibt es zahlreiche Ansätze einer entsprechenden Wissenschaft avant la lettre, aus einer Zeit, lange bevor man sich um wissenschaftliche Institutionalisierung(en) bemühte, in beiden Fällen ist der Grundbegriff (Medium oder Kultur) alles andere als geklärt, in beiden Fällen mangelt es nicht an Ansätzen, die sich das entsprechende Etikett selbst aufkleben, sondern es herrscht geradezu eine orientierungslose Überfülle an unterschiedlichsten Stimmen, in beiden Fällen wird deutlich, dass die entsprechenden Wissenschaftskonzeptionen quer zu den universitär etablierten Fächern liegen. Und schließlich: In beiden Fällen wird eine entsprechende Diskussion aus besonderen Gründen sehr lebhaft und kontrovers gerade in der Literaturwissenschaft’ (wie nirgends sonst in einer ‚alten’ Wissenschaft) geführt. Und aus der Literaturwissenschaft entstammt schließlich auch die Idee, dass hier nicht nur zwei parallele Diskussionen im Gange sind, sondern zudem zwei, die im engsten Zusammenhang stehen, wie er im Begriff der „Medienkulturwissenschaften“ (Jörg Schönert, Georg Jäger, Siegfried J. Schmidt) zum Ausdruck kommt.

1997 fragte Jonathan Culler in seinem Buch „Literaturtheorie“ (dt. Stuttgart 2002, S.64): „Romanisten, die ganze Bücher über Zigaretten oder die Fettobsession der Amerikaner schreiben; Shakespeare-Spezialisten, die Bisexualität analysieren; Realismusexperten, die über Massenmörder arbeiten. Was ist hier eigentlich los?“ Gerade in der Literaturwissenschaft gewinnt die Idee einer Kulturwissenschaft besondere Brisanz, weil sie anscheinend das literaturwissenschaftliche Selbstverständnis ganz direkt berührt. So fragte im Jahre 1997 Wilfried Barner: „Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden?“ und stellte somit „Vor­überlegungen zu einer Diskussion“ an, die schon längst im Gange war (im: Jahrbuch der deutschen Schillergesell­schaft 1997, S.1-8). Nur zwei Jahre später haben Walter Haug (Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Und: Erwiderung auf die Erwiderung. In: DVjS, 73.Jg., H.1, März 1999, S.69-93 u. 116-121) und Gerhart von Graevenitz (Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Eine Erwiderung. In: DVjS, 73.Jg., H.1, März 1999, S.94-115) einen Disput darüber geführt, ob und wie denn Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft sich verstehen könne oder solle.

Der Metzler Verlag hat ein neues publikationsstrategisches Betätigungsfeld entdeckt. Es erscheinen Lexika und Handbücher gerade auf diesen Gebieten, die mit dem Begriff der „Medienkulturwissenschaften“ abgedeckt werden (Metzler Lexikon Kultur- und Literaturtheorie, Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart, Metzler Lexikon Medientheorie und Medienwissenschaft). Damit ergibt sich ein anerkennenswerter Synergieeffekt. Der Verlag entdeckt eine Marktlücke, realisiert aber andererseits Publikationen, die das unüberschaubare Feld ordnen, die zudem die Diskussion strukturieren oder der Diskussion zumindest klare Differenzierungslinien vorgeben und somit selbst ein wichtiges Moment in der Diskussion werden. Dazu gehört auch der von Ansgar und Vera Nünning herausgegeben Sammelband „Konzepte der Kulturwissenschaften“.

Der Band enthält 16 Beiträge. Ihre Abfolge beginnt zunächst mit grundlegenden Klärungen und geht dann dazu über, das Spektrum kulturwissenschaftlicher Forschung zu entfalten. Zunächst einmal dokumentieren die beiden Herausgeber in ihrem Eröffnungsbeitrag Grundlinien der Diskussion wie Grenzüberschreitungen, Internationalität und Perspektivenvielfalt und benennen auf dieser Grundlage die Ziele des Bandes. Dabei werden vor allem die drei Begriffe benutzt, die den Untertitel abgeben: Konzepte, Ansätze und Perspektiven. Es geht explizit nicht darum, normativ festzuschreiben, was Kulturwissenschaft denn sein sollte.

Claus-Michael Ort gibt einen Überblick über Kulturbegriffe und Kulturtheorien und zeigt, wie weit gespannt das Begriffsfeld Kultur überhaupt ist. Mit Blick auf die systematische und historische Bandbreite wird deutlich, dass es den einen Kulturbegriff nicht gibt, dass es aber sehr wohl eine enge Verknüpfung von Kulturbegriff und Semiotik gibt. In diesem Sinne ist der folgende Abschnitt zur Kultursemiotik von dem namhaften Semiotiker Roland Posner zur Kultursemiotik sowohl auf der Ebene der Grundlagentheorien als auch auf der Ebene der Entfaltungen angesiedelt. Denn die Kultursemiotik ist nicht nur ein Anwendungsfall von Kulturtheorie, auch nicht nur ein Anwendungsfall von Semiotik, sondern ein immanenter Begründungszusammenhang zwischen Kultur- und Zeichenbegriff.

Die folgenden Abschnitte behandeln die kulturwissenschaftlichen Ansätze, die aus bestehenden Wissenschaften und Disziplinen heraus entwachsen, die Literaturwissenschaft (Wilhelm Vosskamp), Kulturanthropologie (Doris Bachmann-Medick), Historische und literarische Anthropologie (Harald Neumayer), Kulturgeschichte (Ute Daniel), Kultursoziologie (Rainer Winter), Kulturpsychologie (Jürgen Kramer), Kulturökologie (Peter Finke). Es werden auch eine ganze Reihe von spezifisch kulturwissenschaftlichen Forschungsansätzen skizziert, die sich mit anderen Theorien mit einem kulturwissenschaftlichen Fokus verbinden, wie New Historicm, Cultural Materialism und Cultural Studies (Moritz Baßler), Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen (Astrid Erll), kulturwissenschaftliche Xenologie (Fremdheitsforschung) (Alois Wierlacher), Kulturraumstudien und Interkulturelle Kommunikation (Hans-Jürgen Lüsebrink), Kulturwissenschaft und Geschlechterforschung (Renate Hof) und schließlich auch die berüchtigte Medienkulturwissenschaft (Siegfried J. Schmidt). Die Frage, ob nun das kulturwissenschaftliche Feld angemessen entfaltet und jeder Aspekt angemessen berücksichtigt wurde, kann man sicherlich bejahen. Aber so entscheidend ist diese Frage auch gar nicht. Wo Aspekte vielleicht überraschend breit entfaltet werden, gibt es andererseits die Möglichkeit, kulturwissenschaftliche Arbeitsfelder vorgeführt zu bekommen, wie z.B. die Kulturökologie oder die Kulturraumstudien, die nicht so sehr im Blickpunkt der allgemeinen kulturwissenschaftlichen Diskussion stehen.

Jeder Beiträger ist aber aufgefordert, dem Leser einen Überblick über seinen Ausschnitt zu geben. Dass das gelungen ist, in einigen Fällen sogar in ganz besonderer Weise, das zumindest kann man ohne Umschweife zugestehen. Dass es dabei nicht ausbleibt, dass die einzelnen Beiträger nicht nur ihr Themengebiet darstellen, sondern zudem auch noch ihre eigene Forschungsgeschichte weiterschreiben, kann ohnehin nicht völlig unterbleiben. In der Tat trägt dies nicht unbedingt zur systematischen Entfaltung bei, doch wer die Möglichkeit hat, hinter die Kulissen zu blicken, kann hier auch spannende Konfliktlinien erkennen. Dass z.B. Wilhelm Vosskamp und Siegfried J. Schmidt sehr divergente Anschauungen haben, was das Verhältnis von Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaft angeht, kann man selbst den beiden Beiträgen im Buch entnehmen. Während Vosskamp eher die Figur der Erweiterung verfolgt, geht Schmidt auf einer nicht mehr philologischen, sondern eher konstruktivistischen Basis davon aus, dass von einer Erweiterung keine Rede mehr sein kann, sondern eine völlige Neufundierung von Medienkulturwissenschaft vonnöten ist. Schmidt wiederholt und präzisiert seine frühere Idee von Kultur als Programm. Kultur ist demnach nur im Zusammenspiel von Gesellschaft und gesellschaftlich akzeptierten Wirklichkeitsvorstellungen zu verstehen. Schmidt geht von einem „Wirkungszusammenhang“ von Wirklichkeitsmodellen und Kulturprogrammen aus, die den Aktanten einer Gesellschaft soziale Orientierung ermöglichen.

Insgesamt ist die Systematik des Bandes wirklich gelungen. Man könnte fast sagen: zu gelungen. Es gibt zahlreiche Querverweise, aber kaum jemals unschöne Wiederholungen. Vielfach wird der konstitutive Gegensatz von Kultur vs. Natur aufgegriffen, um die Folgekonzepte zu situieren. In den meisten Fällen wird dabei auf den Beitrag von Ort verwiesen, so dass dem Leser klar wird, dass er es hier nur mit einer möglichen Variante, den Kulturbegriff einzugrenzen, zu tun hat.

Ich möchte dem Leser einen Lektürevorschlag machen, der darauf hinausläuft, die Systematik des Bandes zu unterlaufen. Der Vorschlag zielt darauf ab, darauf zu achten, wo sich die Beiträge eben doch überschneiden und wo sie zusammenhängen. Die leitende Frage sollte dabei sein, ob es nicht doch, trotz aller Ausdifferenzierung, so etwas wie einen begrifflichen Kern von Kulturwissenschaft gibt, auf dem eine Kulturwissenschaft aufruhen muss. Ich glaube, dass sich daraus ein heuristisches Prinzip ableiten lässt, das dem Leser behilflich sein kann, seine eigene Systematik zu entwerfen, seine eigene Orientierung zu finden. Lässt man sich darauf ein, so zeigt es sich, dass man einen Kulturbegriff wohl nicht sinnvoll ohne einen elaborierten Zeichenbegriff formulieren kann. Um den Kulturbegriff sowohl global zu definieren als auch für spezifische Fragestellungen zuzurüsten, muss man ihm eine Flexibilität ebenso wie eine Konsistenz verschaffen, die er nur über den Zeichenbegriff bekommt.

Liest man mit dieser Blickrichtung quer durch den Band, so kann man für sich eine hilfreiche Anleitung herausdestillieren, wie denn die Frage: Was denn eigentlich Kultur sei? so beantworten werden könnte, dass der Kulturbegriff nicht sofort wieder in der Beliebigkeit unterschiedlichster Interessen verschwindet. Der Band ist vorsichtig genug, eine solche Antwort nicht anzubieten. Das würde auch der Diskussion kaum gerecht werden. Dennoch lässt der Band - zumal im Überblicksartikel zu den Kulturbegriffen - zahlreiche Definitionsvorschläge und Varianten Revue passieren. Interessant ist immerhin, dass die traditionsreichsten Kulturbegriffe über Negationen laufen: Kultur ist nicht Natur, nicht Zivilisation, nicht Gesellschaft. Hinzufügen muss man, dass Kultur nicht statisch und nicht ontologisch ist, was immerhin die positive Bestimmung mit sich bringt, Kultur müsse dynamisch und prozessual konzipiert werden. Aber es wird auch deutlich, dass Konzepte wie Sprache und vor allem Text nicht mehr im umfassenden Sinne den Kulturbegriff verbürgen können. Kultur als Text zu verstehen, zum Beispiel, scheint trotz früherer Attraktivität keine übergreifende Option mehr in der Diskussion darzustellen. Und hier macht sich auch eine entscheide Differenz bemerkbar - nämlich die zwischen Metapher und Konzeption. Kultur als Text wird immer mehr als Metapher durchschaubar, wohingegen Kultur als Zeichenprozess zu modellieren nach wie vor spannende Konzeptualisierungsmöglichkeiten und Anschlussmöglichkeiten bietet. Wer an dieser Diskussion teilnehmen will, kann sich mit dem vorliegenden Band ebenso breit gefächert wie tief fundiert auf den aktuellen Stand bringen.


Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven. Hg. v. Ansgar u. Vera Nünning. Stuttgart/Weimar: Metzler 2003. ISBN: 3-476-01737-0, 24,95 €.



Verfasser: oliver.jahraus@gmx.de , veröffentlicht am 19.01.2004

   
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