Wiener Gruppe / Wiener Aktionismus / Avantgarde / Kunst / Biennale / Peter Weibel / Oswald Wiener / Konrad Bayer / Österreich



the vienna group up to date - eine Rezension



ein moment der moderne 1954-1960/a moment of modernity 1954-1960 die visuellen arbeiten und die aktionen/the visual works and the actions friedrich achleitner h.c. artmann konrad bayer gerhard rühm oswald wiener
Hg. v. Peter Weibel.
Wien/New York: Springer 1998. 785 S. Mit 1 CD-Rom. Geb 128,- DM.

Die Avantgarden des 20. Jahrhundert sind historisch geworden. Diesen Topos der Kunstbetrachtung zu wiederholen und zu behaupten traut sich sogar einer, der nicht professionell und wissenschaftlich mit Kunstbetrachtung konfrontiert ist. Historisch zu werden setzt nun dreierlei voraus: Zum einen selbstverständlich den Tod, das Verlöschen, Verschwinden oder Obsolet-Werden; weiterhin diejenigen, die den Platz des Toten einnehmen, sein Erbe annehmen oder ausschlagen, weiterführen oder ruinieren, pflegen oder verkommen lassen, sich erinnern oder vergessen; und schließlich, nach einer gewissen Zeit, gehört dazu auch das Wiederhervorholen, die Rückbesinnung auf das, was einmal war, was nicht mehr war, was durch anderes abgelöst wurde, was aber doch Spuren hinterlassen hat oder haben könnte, eine Form von Revitalisierung also - allerdings nicht und niemals im Sinne einer Wiederauferstehung, sondern in einem gänzlichen anderen Diskurs, also eher im Sinne einer Archäologie.

Gegenstand - Suchobjekt - der Archäologie ist nicht nur die Antike, mittlerweile, wenn auch zugegebenermaßen unter ganz anderen und nicht gewöhnlichen archäologischen Fahnen, auch die Moderne. Der vorliegende Band versteht sich als eine Beschreibung oder auch Rekonstruktion des österreichischen Beitrags zur Konstruktion der Moderne (Peter Weibel im Vorwort, S.15). Es ist die Ärchäologie eines wesentlichen Moments der österreichischen Moderne, und es ist eine österreichische Archäologie. Wenn ich also im folgenden über diesen oben genannten Band spreche, so habe ich über beide Dimensionen zu sprechen, über Text und Kontext, über Avantgarde und ihre Archäologie. (Und dabei sei es mir gestattet, von Avantgarde zunächst idealtypisch und nicht historisch spezifiziert zu sprechen.)

Was die Erbschaft angeht, so teilt die Avantgarde das Schicksal einer Reihe von Bewegungen, deren Erben unter dem Zeichen des 'post' und 'nach' angetreten sind: die Postavantgarde, der Poststrukturalismus, die Postmoderne allen voran, und andere Beispiele ließen sich, wenn auch nicht unbedingt mit so schönen Etiketten, finden. Man hat mittlerweile alle diese Postbewegungen als ein typisches Kennzeichen der Geschichte und Geschichten im ausgehenden 20. Jahrhundert begriffen und insgesamt als Postismus bezeichnet (G.Plumpe). In der Tat ist allen diesen Bewegungen eine ganz bestimmte Erbschaftssituation gemeinsam. Sie alle setzen auf die eine oder andere Weise den Vorgänger, den Erblasser voraus; alle verstehen sich oder lassen sich verstehen als Erben, als diejenigen, die profitiert haben. Doch bereits hier muß man schon differenzieren nach der Art und Weise, wie sie das Erbe angetreten haben. Haben sie es radikalisiert und damit vielleicht sogar konsequent zu Ende gebracht? Oder haben sie es so radikalisiert, daß der ursprüngliche Impetus umgebogen oder gar ins Gegenteil verkehrt wurde? Haben sie es vielleicht gar nicht radikalisiert, sondern nur als Spielmaterial begriffen, oder stellen sie sogar einen Rückfall in Beliebigkeit dar? Für alle Postbewegungen lassen sich diese Fragen durch die Bank bejahen; es kommt nur auf den Standpunkt an. Natürlich lassen sich heute ästhetische Bemühungen beobachten, von deren Möglichkeit die historischen Avantgarden nicht zu träumen wagten. Mag sein, die Avantgardisten wären verblüfft; sie wären aber auch sicherlich enttäuscht. Denn die angebliche Radikalisierung geht mit einer noch radikaleren Domestizierung einher und läuft in stabilen, nicht allein tolerierten, sondern zudem auch vielfach goutierten, dotierten, respektierten Bahnen, deren Destabilisierung sich die Avantgarden doch ursprünglich auf die Fahnen geschrieben hatten. Ich kann mir gut vorstellen, daß man die Postavantgarde durchaus auch als Verrat, so hart das Wort klingen mag, begreift.

Nun mag das noch als Notwendigkeit historischer Entwicklung hingegen, verschärft wird es noch, wenn man an das dritte Moment, die Archäologie der Avantgarde denkt. Hier exemplifiziert die Avantgarde ein Schicksal, das sich auch bei anderen Denkbewegungen nachzeichnen läßt, die durch das, was sie zu denken versuchen, mit der Zeit selbst aufgehoben werden bzw. sich selbst aufheben; aufheben - fast Hegelianisch - im Sinne von Auflösung, aber auch Konservierung. So entwirft der Historische Materialismus einen Geschichtsverlauf; wenn dieser nicht eintritt, was man wohl schon längst als gesichert annehmen kann, wird das Denken selbst obsolet. Ein trauriges Schicksal für Marx und Konsorten.

Die Selbstaufhebung der Avantgarde durch ihre Archäologie kann nur verstanden werden, wenn man sich nicht nur vergegenwärtigt, worauf die Avantgarden hinauswollten, sondern auch, daß die Verweigerung ihrer eigenen Archäologie immanenter Teil ihres Programms war. Alle Avantgardebewegungen, die man heute als solche zu klassifizieren bereit ist, verbindet ein zweifacher Grundimpetus: nämlich die Dissoziation von Avantgarde und vorgefundener Kunst auf der einen Seite, direkt verbunden auf der anderen Seite mit der Neueröffnung einer Perspektive der Annäherung und Vereinigung. Für nahezu alle Avantgarden steht, mehr oder weniger reflektiert, die vorgefundene Kunst immer in einem jeweils genau reglementierten Gegenüber zu einer anderen Seite. Das Verhältnis zwischen beiden Seiten wird mimetisch oder repräsentational bestimmt. Kunst ist Mimesis oder Repräsentation entweder einer Realität oder einer Idealität. Das spielt keine Rolle. Kunst erscheint - wenn auch hier zum Zwecke der Konturierung stark vereinfacht - als Abbildung. Was immer auch abgebildet sein mag, die Abbildung, so sehr sie auch Bild und Abgebildetes aufeinander bezieht, so sehr zementiert sie die Distanz zwischen beiden Seiten. Diese Distanz aufzubrechen, machen sich die Avantgarden zur Aufgabe, die sie wiederum mit dem Zweck betreiben, Kunst selbst zu einem Teil dessen zu machen, was vor ihnen nur abgebildet zu haben war. Ich nenne nur ein Schlagwort: Die Avantgarden dissoziieren sich von der (etablierten) Kunst, um sich als (neue) Kunst mit dem Leben zu assoziieren. Damit ist der revolutionäre Übergang von der Repräsentation zur Präsentation, vom Gegenstand zur Performanz vorgezeichnet. Das Schlimmste, was einer solchen Avantgarde passieren kann, ist deshalb nicht ihr Tod, sondern ihre archäologische Wiederentdeckung, weil damit die ursprünglichen Verhältnisse wiederhergestellt werden. Kunst und Leben, wenn sie denn jemals assoziiert waren, werden wieder dissoziiert, dafür wird die Dissoziation von Kunst und Avantgarde rückgängig gemacht, die Avantgarde wieder in den Kunstkontext reintegriert und als historischer Teil der Kunst archiviert, musealisiert, katalogisiert. Die Musealisierung und Katalogisierung ist der eigentliche Tod der Avantgarde, jedenfalls jener Avantgarde, die zurecht diesen militärisch metaphorisierten Begriff reklamiert. Liegt also mit dem Band zur Wiener Gruppe eine solche Musealisierung, ein solcher Katalog vor?

Nun darf man darauf nicht pauschal antworten. Man könnte vielleicht sogar sagen, wenn die Musealisierung der Avantgarde zu solch beeindruckenden, aber auch interessant und letztlich - ich darf es aussprechen - 'schön' gemachten Büchern führt, dann geht die Historisierung der Avantgarden schon in Ordnung. Man muß darüber hinaus auch berücksichtigen, daß Peter Weibel nicht nur ein wunderbares Buch zustande gebracht hat, sondern daß die Rekonstruktion des österreichischen Beitrags zur Moderne ihrerseits in einen weiteren ästhetischen Beitrag zur gegenwärtigen Kunstszene integriert war. Der österreichische Beitrag zur Moderne, wie er in dem Band katalogisiert war, wurde seinerseits funktionalisiert für den österreichischen Beitrag zur Biennale 1997. Dort wurde der Katalog vorgestellt, gelagert und verteilt, und zwar so, daß dies selbst wiederum Skulptur-, also Kunstcharakter hatte. Das Gesamtensemble, in dem dieser Band im Rahmen der Biennale mit dem Publikum konfrontiert wurde, hatte nicht nur einen ästhetischen Charakter, sondern auch einen performativen. Die eigenwillige Präsentation des Bandes hat damit den ärchäologischen Charakter des Bandes zurückgenommen und ein komplexes Vexierspiel zwischen historischer Avantgarde und gegenwärtiger Dokumentation, zwischen diskursiver Repräsentation und performativer Präsentation entfaltet. Oder anders gesagt: Die Re-Ästhetisierung der Präsentation des Bandes hat die Möglichkeit geschaffen, das äußerst problematische Spannungsverhältnis von Avantgarde und ihrer archäologischen und sie aufhebenden Rekonstruktion ins Bewußtsein zu heben. Wieviele Biennale-Besucher diese Möglichkeit genutzt haben, interessiert mich dabei wenig, wo ja ohnehin damit zu rechnen ist, daß neben den Interessierten auch die üblichen Heerscharen der Kunstgoutierer vorbeimarschiert sind.

Umgekehrt möchte ich Peter Weibel Beifall zollen. Obschon von ihm nichts anderes zu erwarten war. Denn Peter Weibel selbst ist als Person eine Institution, ein österreichischer Beitrag zur Moderne, ein Intimus der österreichischen Avantgarde, so historisch sie auch sein will, und ein exzellenter Kenner der europäischen und internationalen Kunstszene, wie sich in dieser Verbindung kein zweiter finden läßt. Gerade was das österreichische Umfeld angeht, spiegelt sein gesamtes Schaffen genau dieses Spannungsverhältnis wider, das sich auf verblüffende Weise im Biennale-Beitrag wiederfinden läßt und das die Situation der Avantgarde in der Historisierung kennzeichnet. Peter Weibel hat nicht nur von Anfang an die österreichische Avantgarde seiner Zeit mit Essays und einer innovativen Kunst- und Avantgardetheorie reflektorisch begleitet (Es says & I say), sondern hat damals auch immer wieder selbst die ästhetische Initiative ergriffen und zahlreiche Performances - Aktionen - veranstaltet. Peter Weibel war von Anfang an ein Diskursswitcher zwischen ästhetischer Theorie und Praxis. Damit war er zwar Teil des kommunikativen Aufwands, den die Avantgarden zur Selbstexplikation betreiben mußten (G.Jäger), aber er war immer auch Teil der Avantgarde selbst. Nicht zuletzt hat er mit seiner Person ein wechselseitiges innovatives und äußerst produktives Spannungsverhältnis zwischen ästhetischer Theorie und Praxis entfaltet, das wesentlich zur Ausgestaltung dieses Projekts beigetragen hat. Nur einem Menschen, Künstler und Intellektuellem wie Peter Weibel war es also zuzutrauen, durch die Reästhetisierung der Archäologie Repräsentation und Präsentation, Rekonstruktion und Performanz gleichermaßen zu bewerkstelligen.

Wenn man von diesem Spannungsverhältnis spricht, muß man auf ein Stichwort in besonderer Weise eingehen: Österreich! Denn an dieser nationalen Zuordnung läßt sich nicht allein dieses Spannungsverhältnis in einer exemplarischen Dimension ablesen, mit diesem Stichwort verbindet sich überhaupt der exemplarischer Charakter als Avantgarde, den man der Wiener Gruppe am Beginn einer Entwicklung, die sich mit dem Wiener Aktionismus fortsetzt, zusprechen kann. Geht es also um einen österreichischen Beitrag, so ist durchaus zunächst eine nationale Kategorisierung gemeint, die natürlich eine besondere Pikanterie enthält. Ein kleines Land, nach dem Untergang der Donaumonarchie als verstümmelter Alpentorso zurückgelassen, hat immer wieder in besonderer Weise die verblüffendsten Muster der Stiftung nationaler Selbstidentität gefunden. Dabei stand ein kulturell reicher Fundus immer einer extrem reaktionären und restriktiven Befindlichkeit gegenüber. Wer will, kann sich Gedanken darüber machen, wer mehr für die österreichische Identität geleistet hat, Franz Klammer oder Thomas Bernhard. Nebenbei: Als Enkel eines österreichisch-ungarischen Offiziers darf ich es mir erlauben, meinen Blick auf das soziokulturelle Experimentierfeld nicht zu zuckern.

Wenn nun die Kunst, nicht nur die Avantgarden, das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft ins Blickfeld rücken, so muß man gerade dieses Konfliktverhältnis zwischen einer restriktiven Gesellschaft und einer subversiven Kunst als ein österreichisches Spezifikum beschreiben. Die österreichischen Ausgangsbedingungen stellen sich als Musterfall dar, an dem sich der Prozeß der gesellschaftlichen Institutionalisierung bzw. De-Institutionalisierung von Kunst nachzeichnen läßt. Das gilt für die mittlerweile vielfach durchleuchtete Kunst- und Kulturszene um die Jahrhundertwende und zum Ende der Habsburgermonarchie, das gilt aber auch für die Nachkriegszeit nach 1945.

Es ist hier nicht der Ort, die österreichische Aufarbeitung des Nationalsozialismus (bzw. ihre Unterlassung) zu untersuchen, aber für die Entstehung einer österreichischen Avantgarde ist es doch nicht unerheblich, daß in Österreich gerade als Reaktion auf die nationalsozialistische Erfahrung, die allzu schnell vergessen hatte, daß selbst Hitler aus Österreich gekommen war, Tendenzen sozialer Restriktionen wirksam wurden, die in dieser Drastizität wohl als einzigartig angenommen werden können. Anders gesagt: Die Radikalität der Avantgarden in Österreich ist eine Funktion der Radikalität gesellschaftlicher Restriktion. Beide haben sich in Österreich impulsiv und produktiv verzahnt: auf die eine Radikalität wurde die andere gesetzt, auf eine Aggression die andere, auf eine Provokation die andere. Wer angefangen hat? - Das ist wie die Frage nach dem Ursprung von Huhn oder Ei. Eines jedoch ist bedeutsam: Diese Ausgangsfaktoren haben zu einer Entwicklung einer Avantgardeszene wesentlich beigetragen, deren Radikalität ihr wiederum einen exemplarischen Charakter bescheinigt. Und auch darauf muß das 'österreichische' Moment bezogen werden.

Enzensbergers Diktum, daß die späteren Avantgarden den Avantgarden der Jahrhundertwende nichts mehr hinzugefügt hätten, muß mit Blick auf Österreich revidiert werden. Mehr noch: Spricht man von einer exemplarischen Avantgarde, wie ich es hier tue, scheinen die Wiener Avantgarden (Wiener Gruppe und Wiener Aktionismus) die Potentiale, die man beispielsweise dem Futurismus zuspricht, deutlich zu überflügeln. Denn die Radikalität, bedingt, wie gesagt, durch die österreichischen Ausgangsbedingungen, ist ja nichts anderes als ein Symptom des allgemein avantgardistischen Impetus. Eine exemplarische Avantgarde ist eine exemplarisch radikale Avantgarde. Österreich hat aus 'seinen' Avantgarden exemplarische Avantgarden werden lassen. Die Dissoziation, um die Jahrhundertwende noch harmlos als Sezession vollzogen, wird in den Nachkriegsavantgarden in das avantgardistische Programm einer Selbstperformanz eingebunden: Unter dem - übrigens von Peter Weibel maßgeblich reflektierten - Begriffs der Transgression wird ein massives Provokationspotential entfaltet, das sich direkt gegen jede Form sozialer Restriktion wendet.

Alle diese Faktoren müssen zusammen gedacht werden: der avantgardistische Impetus, die österreichischen Ausgangsbedingungen und der Übergang von der Repräsentation zur Präsentation, von der Literatur zur Aktion. Alle diese Faktoren vereinen sich in der Wiener Gruppe. Der vorliegende Band dokumentiert die Wiener Gruppe in ihren Texten, in den Bildern zu ihren Aktionen und z.T. auch in ihren eigenen Metatexten, in ihren Selbstdarstellungen (von Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Bayer). Er dokumentiert damit aber die Entstehung einer exemplarischen und exemplarisch radikalen Avantgarde.

Wer also den Band von vorn bis hinten durchblättert, wird ein einigermaßen umfassendes Bild von der Wiener Gruppe bekommen. Der Band selbst legt das Schwergewicht auf die visuellen Arbeiten und die Aktionen der Wiener Gruppe. Und das zeichnet den Band aus. Zunächst einmal stellt er sich relativ konservativ dar, und auch das ist bemerkenswert: Er folgt den dokumentarischen und sicherlich auch bewährten Mustern, die sich bei den Dokumentation zur Wiener Avantgarde in einigen wenigen, zum Teil auch nicht mehr greifbaren Büchern bereits eingebürgert haben.

Ein Vorwort und ein Nachwort, beide von Peter Weibel, rahmen den Band ein; im kurzen Vorwort bestimmt Peter Weibel den 'Berichtszeitraum' des Bandes, im ausführlichen Nachwort wird die Wiener Gruppe im internationalen Kontext verortet; ein umfangreicher Bildteil konfrontiert dabei die Wiener Arbeiten mit vergleichbaren Produkten aus der internationalen Szene. Die zeitgenössischen oder retrospektiven Selbstdarstellungen bereiten den Hauptteil vor. Hier ist jedem der Mitglieder der eigentlichen Wiener Gruppe (Hans Carl Artmann, Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Oswald Wiener) ein umfangreicher Teil gewidmet, in dem jene visuellen Texte und Arbeiten abgedruckt sind, die zwar eine Nähe zur Konkreten Poesie aufweisen, aber gleichzeitig auch auf eine Dynamisierung des Zeichens und des Textes hinweisen. Dazwischen ist der größte Teil des Bandes eingegliedert, der die Gemeinschaftsarbeiten mit einem umfangreichen Bildteil dokumentiert. Zwei Appendices zu den Bio-Bibliographien und zur Zusammenarbeit mit anderen vervollständigen den Band.

Dem Band ist eine CD-Rom mitgegeben, die in der Tat auf dem letzten Stand der medial möglichen Repräsentations- und Präsentationsformen ist. Die CD-Rom allein hebt den Band mit seiner Überschreitung von Mediengrenzen über alle vorangegangenen Dokumentationen hinweg, weil das Medium hilft, die verlorene auditive sowie visuelle Präsenzqualität der gesprochenen Texte und inszenierten Aktionen zumindest teilweise bzw. ansatzweise wiedereinzuholen, und wenn auch nur im faking der Bild- und Ton-Wiedergabe. Wer noch Schwierigkeiten mit der Navigation hat, kann sich unterdessen und sozusagen nebenbei den Gedanken vergegenwärtigen, daß die Virtualisierung der Dokumentation, trotz aller immer noch vorhandenen technischen Einschränkungen, zumindest die Dimension eröffnet, den kulturkonstitutiven Gegensatz von Präsentation und Repräsentation aufzuheben. (Daß sich übrigens Oswald Wiener in späteren Tagen diesen Technologien fiktional sowie konzeptionell gewidmet hat, verwundert nicht mehr. Und der schöne Gedanke, was die Wiener Gruppe mit heutigen oder gar morgigen technischen Möglichkeiten gemacht hätte, sei auch kurzzeitig erlaubt.) Die CD-Rom jedenfalls ergänzt den Band in mehrfacher Hinsicht. Es werden ja nicht nur Dokumente in einem anderen Medium wiederholt; das Material läßt sich prinzipiell anders und prinzipiell anderes Material läßt sich dokumentieren. Die Präsentation ist gegliedert in Konzepte/Kommentare, experimentelle Texte, laut/dialekt, visuelle Arbeiten und szenische Arbeiten, sie enthält zahlreiche Text-, Bild-, Ton- und Filmdokumente. Sie enthält darüber hinaus auch eine Präsentation der gesamten Installation des österreichischen Biennale-Beitrags.

Mit dem vorhandenen Schwergewicht stellt der Band (insonderheit mit der beigegebenen CD-Rom) eine Ergänzung zu der bereits von Gerhard Rühm bei Rowohlt herausgegebenen Anthologie (1967, Neuausgabe 1985) dar. Darüber hinaus leistet der Band auch einen Beitrag zur Vervollständigung der Dokumentation der gesamten radikalen Avantgardeszene in Wien; bislang wurde naturgemäß der aktionistische Bereich verstärkt mit Dokumentationen zum Wiener Aktionismus abdeckt. Gerade der vorliegende Band aber liefert das Material, an dem eine nahezu stringente Avantgardeentwicklung hin zu Formen des Aktionismus aufgezeigt werden kann. Die Wiener Gruppe ist mit ihren Aktionen daher wesentlich mehr als ein Wiener Aktionismus 'avant la lettre'. Er ist vielmehr eine avantgardistische Urkonstellation, ohne den der Wiener Aktionismus nicht zu denken wäre. Der Band liefert das Material, an dem auch gezeigt werden kann, wie sich der Übergang von der Literatur über den visuellen Text hin zur Aktion, noch genauer: vom solitären Text über die literarische Gruppenbildung hin zur Gemeinschaftsaktion einer avantgardistischen Tendenz verdankt, konstitutive Grenzen aufzuheben.

Gerade gegenüber dem Wiener Aktionismus, der mit seinen Körperaktionen (Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler, Otto Mühl, Günter Brus) Radikalität körperlich ausagiert, muß man der Wiener Gruppe die theoretische Vorbereitung zugute halten. So haben beispielsweise die hochreflektierten Überlegungen Oswald Wieners aus jener Zeit die Dissoziationsbewegung nicht nur auf ein gesellschaftlich etabliertes Kunstsystem bezogen, sondern wesentlich umfassender - radikaler eben! - auf die Bedingungen von Kunst überhaupt, also auf Instanzen der Wirklichkeitskonstitution, die er in einer Verflechtung von Bewußtsein, Sprache, Gesellschaft und Staat gesehen hat. Was die Bilder zu den Gemeinschaftsaktionen zeigen, sind Aktionen der Verunsicherung. Schon bei der Wiener Gruppe, nicht erst beim Wiener Aktionismus wird sichtbar, daß Destruktion für eine - wie Oswald Wiener es nennt - De-Identifikation funktionalisiert wurde. Es war Spaß und Spetakel, was die Wiener Gruppe in ihren Gemeinschaftsaktionen betrieb, aber eben nicht nur. Identifikation war das Schlagwort für - ein anderes Schlagwort - die staatlich-sprachliche Adjustierung des Bewußtseins (Oswald Wiener). De-Identifikation mittels Destruktion sollte de-justieren, d.h. die Wirklichkeitswahrnehmung nachhaltig irritieren, die gesellschaftliche Determiniertheit nicht nur der Kunst, sondern des Individuums selbst subversiv unterlaufen. Zugegeben: extreme Provokationen waren geplant, wurden aber von der Wiener Gruppe (noch) nicht umgesetzt.

Nichtsdestotrotz: die vorgezeichnete Ausgreifbewegung auf Sprache, Bewußtsein, Gesellschaft und Staat zeigt die Radikalisierungstendenz, die die Wiener Gruppe als exemplarisch radikale Avantgarde ausweist. Der Band dokumentiert die Umsetzung. Er macht aber auch nicht mehr! Die Rückbindung an eine Systematik der Avantgarde und ihrer Geschichte bleibt konzeptionellen Arbeiten vorbehalten. Damit entfällt auch jede Notwendigkeit, die Dokumentation selbst noch einmal zu reflektieren. Die Diskrepanz zwischen der Aktion und ihrer (photographischen) Dokumentation bleibt unausgesprochen. Und das muß dem Band nicht als Manko angerechnet werden: Dokumentation und Aufarbeitung sind unterschiedliche Tätigkeiten; sie sollen durchaus komplementär bleiben; eine Durchmischung muß nicht sein. Um mit Kant zu sprechen: Die systematische Aufarbeitung ohne historische Dokumentation bleibt blind, die Dokumentation ohne Aufarbeitung bleibt konzeptionslos. Nur beides zusammen wird uns Postmodernen die Moderne, auf der wir angeblich fußen, erschließen können. Die Wiener Gruppe leistet, das macht die Dokumentation deutlich, einen unübersehbaren, einen maßgeblichen Beitrag zur Moderne. Und Peter Weibel erfüllt mit diesem Band den Anspruch, diesen Beitrag zur Konstruktion der Moderne vorzustellen und wieder in ein mehr oder weniger adjustiertes Bewußtsein zu heben, allemal und zudem auf beeindruckende Weise.

Oliver Jahraus, Bamberg

Der Verfasser wird zusammen mit Michael Backes, Thomas Dreher und Georg Jäger eine dreiteilige Gesamtdarstellung der radikalen Wiener Avantgarden und des internationalen Gesamtkontextes der Aktionskunst vorlegen, unter dem Gesamttitel Das Problempotential der Nachkriegsavantgarden. Grenzgänge in Literatur, Kunst und Medien (München: Fink).



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