Literaturkritik / Literaturbetrieb / Literatur in Deutschland


Stefan Neuhaus

Literatur und Literaturkritik in Deutschland.
Eine Komödie in fünf Akten.



Abstract: Warum wird ein Buch geschrieben, verlegt, gelesen, gelobt, gescholten, gelehrt? In Deutschland gibt es einige Kriterien der Produktion, Rezeption und Kanonbildung, die mit Literatur ungefähr so viel zu tun haben wie Fische mit Fahrrädern. Diese Bewertung deutet bereits darauf hin, daß es sich bei den folgenden Zeilen um eine Polemik über den Literaturbetrieb handeln wird. Nun ist das mit Polemiken so eine Sache. Die Form (Komödie) dient als Fallschirm. Hoffentlich geht er auf.


Motto


"Übers Verallgemeinern

Niemals richtig.
Immer wichtig."

(Aus: Erich Kästner: Kurz und bündig. Epigramme. München: dtv 1989)



Vorspiel
Ab und zu sehen wir einen Menschen, der ein Buch liest. Uns selbst ist diese Erfahrung nicht fremd. Doch woher kommt das Buch? In Analogiebildung zu einem bekannten Spruch (Strom kommt aus der Steckdose) ließe sich sagen: aus der Buchhandlung. Damit sind wir auf der richtigen Spur. Der Buchhändler ist, wenn man es besonders wissenschaftlich ausdrücken will, ein wichtiger Akteur im Sozialsystem Literatur. Er entscheidet, welche Bücher in seinen Regalen stehen, und die verkaufen sich schließlich am besten. Vielleicht hat unser Leser aber gezielt ein Buch gesucht, und das war gerade nicht vorrätig. Nun kommt der Großhändler ins Spiel. Wenn er das Buch hat, kann es in ein bis zwei Tagen in der Buchhandlung abgeholt werden. Buchhändler und Buchgroßhändler haben etwas gemeinsam: Sie sind Unternehmer, Bücher betrachten sie als Ware. Ob unser Leser nun ein Kochbuch erwirbt, einen Konsalik oder einen Kafka, ist ihnen egal, selbst wenn sich manche bei ihrer Arbeit das Gefühl leisten: nett, daß das heute noch gekauft wird (in unserem Beispielfall handelte es sich dann um Kafka).
Die Ware Buch stellt aber jemand anderes her: der Verlag. Die Direktiven, was gedruckt wird, geben Verlagsleiter und / oder Eigentümer vor, die Auswahl besorgen die Lektoren, an denen es ist, den Verlagsleiter / Eigentümer im Einzelfall von der besonderen Qualität (hier verstanden als: besonders die Erwartungen des Verlagsleiters / Eigentümers erfüllend) des Manuskripts zu überzeugen. Nun gibt es noch einige kleinere Verlage (angesichts der ständigen Übernahmen solcher Verlage durch große Konzerne, die in erster Linie Geld verdienen wollen, werden es immer weniger), die eine Mischkalkulation betreiben. Der Chef eines dieser Verlage hat es mir gegenüber einmal so ausgedrückt: Unterm Strich muß ein Gewinn herausspringen, mit dem der Eigentümer zufrieden ist. Innerhalb des Programms kann man dann mit Titeln, die sich gut verkaufen, solche finanzieren, die sich weniger gut verkaufen, die aber für das Image des Verlages gut sind (was wiederum den populären Titeln zugute kommt) und den Entscheidungsträgern das gute Gefühl verschaffen, etwas Bleibendes, qualitativ Überzeugendes aus dem Zustand des Ungedrucktseins, also der öffentlichen Nichtexistenz, in die Reichweite potentieller Leser gebracht zu haben. Am Ende der Kette, aus der nur die wichtigsten Glieder herausgelöst und vorgezeigt werden sollen, steht der Autor. Er kann sich an den Gegebenheiten des Marktes, wie sie gerade beschrieben wurden, orientieren, oder er kann ein Überzeugungstäter sein, der nur das schreibt, was er selber für gut hält. Nun gibt es sicher eine Reihe von Autoren, die der letzteren Gruppe zuzurechnen sind, doch dürfte es der wesentlich kleinere Teil der Autorschaft sein. Es wird jedem einleuchten, daß der die besseren Chancen hat, der seinen Erfolg inszeniert.
Das klingt nach einem gut geölten, reibungslos funktionierenden System, und das ist es auch. Wenn man davon absieht, daß das Resultat Bücher sind, die sich oft zum Verwechseln ähneln und die man am besten mit einem glattgeschliffenen Kiesel vergleichen kann, dem der Strom die Ecken, Kanten und sonstigen störenden Hindernisse genommen hat.
Akzeptiert man diese Argumentation, dann ist es ein spannendes Unterfangen, einen Blick auf die bisher nicht genannte, aber für den Verkauf der Bücher nicht unwichtige, also auch die Planung und das Abfassen von Büchern beeinflussende Literaturkritik zu werfen. Bevor das geschieht, muß nach den Voraussetzungen von Literaturkritik gefragt werden. Kritiker sind Individuen, die in ganz besonderem Maße auf ganz besondere Weise sozialisiert worden sind. Diese Sozialisation findet in erster Linie in Schulen und auf Universitäten statt; kein Kritiker ohne Leistungskurs Deutsch und Germanistikstudium. Die Prägung durch das Elternhaus können wir zurückstellen, weil literaturinteressierte Eltern ihre Sozialisation eben auch Schule und Hochschule verdanken.

1. Akt. Auftritt: Lehrer, Hochschullehrer, Forscher
Die Germanistik an den Schulen und Hochschulen beschränkt sich in erster Linie auf Literatur, die man als Hochliteratur, Dichtung, Literatur im engeren Sinne oder dergleichen bezeichnen kann. Germanisten mögen keine Literatur, die sie als trivial ansehen. In den 70er Jahren gab es eine Phase, in der an den Grundfesten der Kanonbildung gerüttelt werden sollte, aber es war, wie gesagt, nur eine Phase. Heute steht der Kanon fester denn je, auch wenn im Einzelfall darum gestritten wird, ob man diesem Autor oder jenem Buch den Zugang zum Kanon ermöglichen oder verwehren sollte.
Eigentlich sind es nur ganz wenige Autoren, die zweifelsfrei der Hochliteratur angehören. Das hat zwei Gründe. Zum einen sind Germanisten Menschen, die eine Profilierungschance darin sehen, bestehende Meinungen zu revidieren (allerdings vorsichtig, damit sich niemand beleidigt fühlt und ihnen Chancen verbaut). Wenn ein Autor zuvor gelobt wurde, aber angreifbare Seiten hat, dann wird dies nicht verborgen bleiben. Zum anderen brauchen auch Germanisten Idole, Aushängeschilder, die sie polieren und vorzeigen können. Denn Germanisten fühlen sich als kleine, aber feine Gemeinschaft, sie definieren ihr Selbstbewußtsein über ihre Exklusivität. Das ist übrigens eine Eigenschaft, die bei allen Angehörigen des Literatursystems gleich ist. Exklusivität erfordert Abgrenzung, die sich in der Propagierung einer elitären Literatur und einer scharfen Grenzziehung zur Trivialliteratur niederschlägt.
Abgrenzung erfordert Kriterien, nach denen man abgrenzt. Die haben von Heydebrand / Winko in ihrem Buch zur literarischen Wertung beschrieben (Renate von Heydebrand u. Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn u.a.: Schöningh 1996 [=UTB 1953]). Ein guter Autor konzentriert sich auf die sprachliche Qualität seiner Texte, die ihnen etwas Überzeitliches gibt. Engagement, etwa politisches oder gesellschaftliches, wird als kontraproduktiv empfunden. Jurek Becker hat das so formuliert: In Deutschland

"[...] herrscht die Ansicht vor, ein hiesiger Schriftsteller habe sich auf das zu konzentrieren, was seine Sache sei – aufs Bücherschreiben; politische Angelegenheiten sollte er besser denen überlassen, die davon etwas verstehen. Engagement wird zwar hingenommen, gilt aber, unausgesprochen, als degoutant" (Jurek Becker: Warnung vor dem Schriftsteller. Drei Vorlesungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990 [=es 1601, nf 601], S. 27).

Wenn ein Autor, der sich in die Tagesgeschäfte seiner Zeitgenossen eingemischt hat, in den Kanon aufgenommen wird, dann geschieht das nicht wegen, sondern trotz seines Engagements für außerliterarische Fragen. Vor den gestrengen Augen der Germanisten können daher am besten Autoren bestehen, die sich mit zeitkritischen Anliegen zurückhalten. Ob nun die Nähe der Literaturwissenschaft zur Philosophie (der wohl elitärsten Wissenschaftsdisziplin überhaupt) ein Resultat des geschilderten Elite- und Kanonbildungsprozesses ist oder diesem vorausgeht, sei dahingestellt. Letztlich ist diese Frage so wichtig wie die wesentlich bekanntere nach der Henne und dem Ei.
Den komplizierten und langwierigen Filterungsprozeß der Germanistik haben eigentlich nur Goethe und Thomas Mann mit Auszeichnung bestanden, auch wenn es eine gewisse Zahl von Autoren gibt, die ihnen an Ansehen sehr nahekommen, Franz Kafka etwa oder Georg Büchner. Wer in der Literaturwissenschaft promovieren will, der sollte jedenfalls nicht einen Autor wie Erich Kästner zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses machen. (So gesehen war es schon ein Fehler, das Motto für diesen Aufsatz von Kästner zu nehmen. Aber das ist ja nicht der einzige oder gravierendste Normverstoß, dessen ich mich schuldig mache.) Es sei denn, der Doktorand strebt keine wissenschaftliche Laufbahn an.
Durch den beschriebenen Prozeß hat die Germanistik zwar ihre Elitebildung erreicht, doch erreicht sie fast kein Publikum. Germanistische Abhandlungen gibt es viele, aber nicht, weil die Nachfrage so groß wäre, sondern weil der Staat sie subventioniert oder große Unternehmen dafür Gelder zur Verfügung stellen, weil sie so ihr kulturelles Engagement dokumentieren können. Der übliche Weg ist der folgende: Der Staat verlangt vom Wissenschaftler, daß er möglichst viel publiziere; der Wissenschaftler erhält einen Teil seines Einkommens für solche Publikationen; Abnehmer sind vor allem Bibliotheken, also wiederum der Staat; der Rest wird über Druckkostenzuschüsse finanziert, also durch den Staat (bei Unternehmen auch, über Abschreibungen). Die Publikationen werden von Studenten gelesen, die von den Dozenten, also den Verfassern, dazu angehalten werden; das Geld dafür gibt der Staat, denn er finanziert das Studium. Der Kreislauf ist somit geschlossen. Wozu braucht man dann noch freiwillige Leser, die außerdem bereit sein müssen, relativ viel Geld für ein schmales Buch auszugeben? Ist es nicht eher verdächtig, wenn ein Wissenschaftler ein Buch schreibt, das viele Interessenten findet?
Was bleibt, sind die Deutschlehrer. Sie leiden unter einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Wissenschaftlern, denen sie gern vorführen möchten, wie gut sie ihre Lektion gelernt haben. An der Hochschule sozialisiert, glauben sie natürlich an die Verbindlichkeit des Kanons. Insofern bereiten sie ihre Schüler hervorragend für ein späteres Studium vor.

2. Akt. Auftritt: Lektoren
Lektoren sind entweder studierte Germanisten, dann gilt für sie das gleiche wie für die Lehrer und sie lassen nur mit innerem Entsetzen Titel passieren, die sie für trivial halten. Doch bleibt ihnen nichts anderes übrig, denn wenn sie nicht genug auflagenstarke Titel produzieren, dann müssen sie um ihren Job fürchten. Der andere Typ Lektor orientiert sich mehr am Geld. Er wird jederzeit zugeben, daß er Trivialliteratur produziert, aber er wird sich wortreich rechtfertigen. Ist es nicht gut, wenn die Leute überhaupt lesen? Mit den auflagenstarken Titeln finanzieren wir die anspruchsvollen! Undsoweiter. Im Grunde zieht er aber seine berufliche Befriedigung aus Zahlen: verkaufte Auflage, Umsatz, Steigerung gegenüber dem Vorjahr. Ihm gibt der Erfolg recht, das genügt doch wohl.

3. Akt. Auftritt: Die Autoren
Die Autoren haben es nicht leicht. Viele von ihnen sind studierte Germanisten, wollen also Hochliteratur produzieren. Doch damit verdient man kein Geld. Und als unbekannter Mensch muß man erst einmal jemanden auf sich aufmerksam machen. Jurek Becker hat das Dilemma der Autoren so beschrieben:

"Sie kennen das Los von Vertretern, die müde an fremden Häusern klingeln, durchs Guckloch feindselig beäugt werden, denen durch den Türspalt, bei vorgehängter Kette, gesagt wird, daß man nichts braucht, die dann mit munterer Stimme und forschen Sprüchen beweisen müssen, daß es lohnt, mit ihnen in Verbindung zu treten; und das in Sekunden, weil sonst die Tür wieder zu ist. Der Tonfall dieser geplagten Menschen wird zunehmend zum Tonfall unserer Literatur" (Becker: a.a.O., S. 52).

Entsprechend drehen Autoren, so sie denn gedruckt werden wollen, ihr Fähnchen nach dem Wind, der eigentlich ein lauwarmes Lüftchen ist, das niemandem etwas zuleide tut. "Den Büchern fehlt zunehmend die Dimension Auflehnung", formuliert es Becker (a.a.O., S. 58). Ein paar Widerspenstige leistet man sich, um das Ganze nicht zu auffällig werden zu lassen. Schließlich haben auch Verlage einen kritischen Anspruch!!! Wo kämen wir da hin? Vorzugsweise sind das Autoren, die Probleme anderer Länder geißeln, Thomas Bernhard zum Beispiel. Schadenfreude ist und bleibt die schönste Freude.
Noch besser nachvollziehen läßt sich dies am Beispiel des anderen Deutschland. Als die DDR zur Bundesrepublik hinzukam, waren die kritischen DDR-Autoren plötzlich nicht mehr Angehörige eines anderen Landes. Der Bonus fiel weg, und mehr als das. Man schnallte die Ex-DDR-Autoren auf Stühle, richtete ein gleißendes Licht auf sie und begann mit einer peinlichen Befragung, die in eine Beschimpfung mündete. Die DDR war ja gar nicht unverwundbar gewesen, und warum hatten die Autoren, die man vorher noch wegen ihrer systemkritischen Äußerungen gelobt hatte, das System nicht noch schärfer kritisiert und damit früher zum Einsturz gebracht? Und dann wagten es diese Versager auch noch, den Sozialismus als potentiell bessere Staatsform zu bezeichnen, dem Westen das Ja-Wort zu verweigern und die segenspendende Marktwirtschaft zu kritisieren. Denen haben wir es aber gezeigt, haben wir es denen! Beispielhaft in dieser Hinsicht: Der "Literaturstreit im vereinigten Deutschland", also die Kontroverse um Christa Wolfs Was bleibt (dokumentiert in Thomas Anz [Hg.]: Es geht nicht um Christa Wolf. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland. Frankfurt/Main: Fischer 1995). Die Kritik der Kritiker richtet sich aber auch gegen mögliche Nestbeschmutzer aus den eigenen, westdeutschen Reihen, das hat der Literaturstreit Römisch Zwei gezeigt, Günter Grass' Ein weites Feld betreffend (dokumentiert in Oskar Negt [Hg.]: Der Fall Fonty. "Ein weites Feld" von Günter Grass im Spiegel der Kritik. 1. Aufl. Göttingen 1996 [=Steidl-Taschenbuch 71]).

4. Akt. Auftritt: Die Kritiker
Literaturkritiker stecken ebenfalls in einem Dilemma. Sie stehen zwischen Wissenschaft und Publikum, kommen aus ersterer und schreiben für letzteres. Gleichzeitig fühlen sie sich als die eigentlichen Experten. Literaturwissenschaftler wohnen im Elfenbeinturm und kennen die Praxis nicht, das Publikum hat keine Ahnung von Literatur. Die eigenen Artikel dienen daher dem Zweck, beiden zu zeigen, was eine Harke, pardon: ein gutes Buch ist, am besten in der Negation ("Dieses Buch ist schlecht!"). Einerseits können sich Literaturkritiker die Entfernung von Publikum und Wissenschaft leisten, andererseits können sie es nicht. Dieser Widerspruch läßt sich so aufklären: Ihre Chefs lassen einen Kritiker gewähren, je mehr sie den Eindruck haben, daß er beeindruckende Kritiken schreibt. Beeindruckend sind Kritiken, wenn sie den hehren Anspruch der Hochliteratur vertreten. Auch Chefs werden wie beschrieben sozialisiert, und je weniger sie eigentlich von der Materie verstehen, desto mehr mögen sie es, wenn ein Experte sein Expertentum besonders deutlich macht. Andererseits, und jetzt kommen wir zum Problem der Kritik, liest kaum jemand das Feuilleton. Es handelt sich wohl um den am wenigsten gelesenen Teil einer Zeitung. (Auch hier ließe sich über Ursache und Wirkung streiten.)
Daß sich Kritiker über die Zahl ihrer Leser letztlich doch keine Gedanken machen müssen, liegt an ihren Chefs, die von ihnen beeindruckt sind, und an dem weit verbreiteten Vorurteil, daß Kultur immer etwas mit Elite zu tun haben muß. Sonst ist es keine Kultur. Das Geld verdienen andere Teile der Zeitung, Sport, Zeitgeschehen und Politik. Der kleine elitäre Appendix dient zur Zierde. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Aus dem Gesagen ist bereits abzuleiten, daß Literaturkritiker unfehlbar sind, weil sie unfehlbar sein müssen, um ihren Ansprüchen und denen ihrer Chefs gerecht zu werden. Als in jeder Hinsicht herausragendes Studienobjekt bietet sich der größte der Großkritiker an, den dieses Land hat, der zum Literaturpapst ernannte Marcel Reich-Ranicki, ehemaliger Feuilleton-Chef der FAZ und Star des Literarischen Quartetts, im folgenden MRR genannt. MRR operiert besonders geschickt. Wenn er einen Verriß über Grass schreibt – und die großen Romane von Grass hat er alle verrissen –, dann betont er, wie leid ihm das tut, denn eigentlich halte er Grass ja für einen tollen Schriftsteller (auch wenn sich das an seinen Kritiken nicht belegen läßt). Er, MRR, wisse: Grass könne es besser!
Nun, eine solche Kritik erfüllt einerseits den ihr zugedachten Zweck, das Buch schlechtzureden, andererseits schützt sie den Kritiker, der ja immerhin ein Buch eines weltweit bekannten Autors heruntermacht. Hat der Kritiker nicht auch die Grasssche Größe neidlos anerkannt? Er hat! Somit ist er objektiv, basta. (Vgl. beispielsweise den Spiegel-Artikel MRRs zu Ein weites Feld vom 21. Aug. 1995 in Negt [Hg.]: a.a.O., S. 79-87.)
Kanonisierungsprozesse konnten MRR und die anderen Grass-Gegner damit nicht aufhalten, Grass' wohl umstrittenster Roman Ein weites Feld zum Beispiel ist in die 1998 erschienenen Ergänzungsbände von Kindlers Neuem Literatur-Lexikon aufgenommen worden. Der Autor ist zu groß, als daß man ihm richtig schaden könnte, und er ist zu gewitzt, denn jeden Verriß nutzt er als Propaganda. Alle Welt spricht über das Buch, was will man mehr?
Wer auf solch olympischen Höhen steht und das Geschick besitzt, sich dort dauerhaft einzurichten, der hat es gut. (Über Grass' Fähigkeit zur öffentlichen Selbstdarstellung ließe sich ein ganzes Buch schreiben.) Christa Wolf wurde härter getroffen. In seinem FAZ-Artikel vom 12. Nov. 1987 hat MRR die DDR-Autorin als "DDR-Staatsdichterin" bezeichnet und als Argument genannt, sie habe ihre Unterschrift unter die legendäre Petition für Wolf Biermann (nach dessen Ausbürgerung 1976) später wieder zurückgezogen (vgl. den Abdruck in Anz [Hg.]: a.a.O., S. 35). Dies war, wie man spätestens seit einer Dokumentation von 1993 weiß, ein nicht zutreffendes, von der Stasi ausgestreutes Gerücht, mit dem man der Autorin gezielt schaden, sie isolieren wollte (vgl. Hermann Vinke [Hg.]: Akteneinsicht Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation. Hamburg: Luchterhand 1993, S. 266). MRR hat seine Anschuldigung meines Wissens nie zurückgenommen. Ob es ihn jemals gestört hat, daß er auf diese Weise zum verlängerten Arm der Stasi wurde?
MRR und andere Großkritiker stimmten bei jedem neuen Buch Christa Wolfs einen Chor der Wehklage an – bis es ihnen langweilig wurde. Der 1996 erschienene Roman Medea. Stimmen ist von keinem der profilierten Wolf-Gegner mehr besprochen worden, man übergab das an andere. Der Zweck ist erreicht; Christa Wolf wird heute niemand mehr als Nobelpreiskandidatin bezeichnen, wie dies noch in den 80er Jahren der Fall war.
Es lassen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen, ich beschränke mich auf eines. Jurek Becker ist bereits mehrfach zitiert worden. Obwohl er Autor des renommierten Suhrkamp-Verlags ist, hat es ihm die Kritik nicht leicht gemacht. Wie Grass müßte er sich bei jedem neuen Buch anhören: So gut wie der Debütroman Jakob der Lügner ist das aber nicht! (Bei Grass ist das Paradigma der Erstling Die Blechtrommel.) Zuletzt blies man 1992 zur Becker-Hatz, bei Erscheinen des Romans Amanda herzlos. Der am lautesten Kritik Übende war wieder einmal – MRR. Schon die Überschrift seines FAZ-Artikels vom 19. Sept. 1992 ist ebenso polemisch wie falsch: Drei Idioten (Drei Idioten. Jurek Beckers Roman "Amanda herzlos". In: FAZ Nr. 219 v. 19. Sept. 1992). Wenn MRR den Roman gründlich gelesen hätte, dann hätte er, wie die anderen Kritiker auch, gemerkt, daß der letzte der drei männlichen Erzähler, Stanislaus Doll, als weitgehend positive Figur gezeichnet ist, die sich von den beiden anderen deutlich abhebt. Fritz Hetmann, der zweite im Bunde, ist eine Zwischenfigur. Die rechnerisch richtige Lösung wäre also gewesen: Eineinhalb Idioten. Das klingt natürlich etwas merkwürdig. Aber auch wegen der beleidigenden Begriffswahl "Idioten", die sich durch keine Rechnung ausgleichen läßt.
Inhaltlich macht MRR sein Urteil, der Roman sei "harmlos" und deshalb "ein wenig ärgerlich", daran fest, daß keine Kritik an der untergegangenen DDR geübt werde. Auch hier irrt der Rezensent. Gerhard Köpf, dem man eine gewisse Literaturkenntnis nicht abstreiten sollte, ist einer von vielen, die die DDR-kritische Botschaft des Romans erkannt haben. Köpf spricht von einer "Parabel über das Scheitern", von einer "präzisen Analyse der Bedingungen für dieses Scheitern auf privater wie auf gesellschaftlicher Ebene" (Gerhard Köpf: Einer stellt sich selbst ein Bein. "Amanda herzlos" – Jurek Beckers neuer Roman. In: Die Welt Nr. 190 v. 15. Aug. 1992). Außerdem muß man es als merkwürdig bezeichnen, daß der Goethe- und Thomas-Mann-Verehrer MRR, der von westdeutscher Literatur niemals gesellschaftspolitisches Engagement verlangt, es im Gegenteil sogar meist negativ vermerkt (man denke an das Beispiel Grass), dieses Engagement von Ex-DDR-Autoren einfordert. Der Grund läßt sich vermuten: MRR hat sich vor Jahrzehnten vom kommunistischen Kritiker zum Kommunistenkritiker gewandelt. Je lauter er Menschen mit Überzeugungen kritisiert, die man entfernt als kommunistisch bezeichnen könnte, desto besser verdeckt er vor sich und anderen, daß er früher selber einmal dazugehörte.

5. Akt. Tableau. Happy-End
Die Folge aus all dem Gesagten ist, was wir tagtäglich beobachten können: allgemeine Zufriedenheit. Der Staat ist zufrieden, gibt es in der Bundesrepublik doch ein blühendes literarisches Leben. Die Germanisten sind zufrieden, schließlich sind sie eine Elite mit hohem Ansehen. Die Kritiker sind zufrieden, denn sie können sich ebenfalls als Elite fühlen. Das lesende Publikum ist zufrieden, aber auf zwei verschiedene Arten. Der kleinere Teil, die Literaturinteressierten, ist zufrieden, weil er den Eindruck hat, daß die Literaturexperten ihr Geschäft verstehen. Der größere Teil ignoriert die Experten vollständig und wählt nach anderen Kriterien aus; Spannung, Auflagenhöhe, Anzeigen, Vorhandensein in Buchhandlungen, Empfehlungen von Freunden sind hier zu nennen. Fazit: Man kommt sich gegenseitig nicht in die Quere.
Ein schönes Happy-End. Finden Sie nicht?
Nun, es ist zu schön, um wahr zu sein. Leider Gottes gibt es immer wieder neue Bestrebungen, die strenge Kanonbindung und Elitebildung aufzubrechen. Zur weiteren Lektüre sei empfohlen: Uwe Wittstock: Leselust.
Wie unterhaltsam ist die neue deutsche Literatur? Ein Essay. München: Luchterhand 1995; Andrea Köhler / Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig: Reclam 1998 (=Reclam-Bibliothek 1620).



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