11. September 2001


Martina Watzlawick

„11`09``01“: Die erste cineastische Verarbeitung des 11. Septembers 2001

Abstract: Wie nehmen Filme auf den 11. September 2001 Bezug? Thema des folgenden Aufsatzes ist der Episodenfilm „11`09``01“, der sehr unterschiedliche Reaktionen ausgelöst hat. Nach einer Gesamtübersicht werden zwei der 11 Filmbeiträge genauer beschrieben.

 

„Es ist Zeit, Kritik zu üben an diesen Filmen, und was noch wichtiger ist – es ist Zeit, sie zu ersetzen.“ Mit „diesen“ Filmen meinte der Schauspieler und Regisseur Sean Penn vorsorglich jene kommenden Filme, die wohl in bekannter Hollywood-Manier die Anschläge vom 11. September verfilmen würden. Die Anschläge in New York scheinen ja für eine filmische Umsetzung wie geschaffen, haben sie doch viele Menschen sofort an Szenen aus einem Film erinnert: „Wenn das höchste Gebäude der bekanntesten Stadt der Welt von Flugzeugen zerstört wird, wenn mehr als dreitausend Menschen in eineinhalb Stunden auf qualvolle Weise sterben, wenn der Präsident der einzigen verbliebenen Supermacht erklärt, sein Land befinde sich ab sofort im Krieg – dann darf man annehmen, dass das ein Thema für das Kino ist.“ (A. Kilb) Das Filmprojekt „11’09’’01“ funktioniert indessen nach ganz anderen Maßstäben und Regeln.

Das Projekt 11`09``01: Die Entstehung des Films

Der Initiator und künstlerische Produzent von „11’09’’01“, Alain Brigand, hatte den elf beteiligten Regisseuren nur wenige Vorgaben gemacht: Das Geschehene sollte reflektiert und der Blick in die Zukunft gerichtet werden. Jeder Film sollte wie ein Spiegelbild erscheinen, das die Originalbilder des Anschlags nun mit ganz anderen Bildern beantwortet. Die Besonderheit an diesem Projekt liegt für Brigand darin, dass gerade nicht versucht wurde, bis in alle Einzelheiten hinein ein gemeinsames, für alle Filmemacher verbindliches Konzept zu finden. So entstand ein filmisches Mosaik, das unterschiedlicher und gegensätzlicher wohl kaum hätte ausfallen können – eine Filmcollage mit Beiträgen aus elf, ganz unterschiedlichen Kulturen. Jeder Beitrag dauert 11 Minuten, 9 Sekunden und 1 Bild – daher der Name „11'09''01“. Insgesamt ist „11’’09’’01“ kein gefälliger, kein einfacher Kinofilm. Zwar strengen die relativ schnellen Wechsel zwischen den Kulturen einerseits den Zuschauer an, der zwischen den Beiträgen kaum die Zeit hat, sich auf die jeweils unterschiedlichen Perspektiven einzustellen, , andererseits eröffnen sie ihm auch ein sehr breites Spektrum an Darstellungen und Meinungen zu den Ereignissen vom 11. September.

Samira Makhmalbaf, eine Filmemacherin aus dem Iran, schildert in ihrem Beitrag eine groteske Situation: Eine Lehrerin verzweifelt fast beim Versuch, ihren sechs- bis siebenjährigen Schülerinnen und Schülern in Afghanistan in einer äußerst ärmlichen Schule zu erklären, was am 11. September im fernen New York genau geschehen ist. Die völlig andere Erfahrungswelt der Kinder lässt sie kaum verstehen, was ein Turm, geschweige denn, was ein einstürzendes Hochhaus ist.

Der französische Regisseur Claude Lelouch zeigt eine taubstumme Frau in New York, die sich entschlossen hat, ihren Partner, einen Stadtführer für Taubstumme, am Morgen des 11. September 2001 zu verlassen. Sie schreibt ihm einen Abschiedsbrief, während im Hintergrund, von ihr scheinbar unbemerkt, der Fernseher läuft, auf dem die Bilder von den Anschlägen zu sehen sind.

In seinem Beitrag spielt der Ägypter Youssef Chahine sich selbst. Wie im Traum erscheinen ihm ein amerikanischer Soldat, der in Beirut gefallen ist, sowie ein palästinensischer Selbstmordattentäter. Die beiden Geister zwingen Chahine, sich mit ihrer extremen Sicht der Dinge auseinanderzusetzen: den Ansichten eines Berufssoldaten, der die amerikanische Ideologie vollkommen verinnerlicht hat und den Überzeugungen eines Menschen, der für diese Überzeugungen Attentate begeht.

Danis Tanovic, ein Regisseur aus Bosnien-Herzegowina, stellt eine Demonstration von Frauen dar, die an jedem 11. eines Monats an den 11. Juli 1995, an das Massaker von Srebrinica erinnern wollen. Kurz vor Beginn ihrer Demonstration erfahren sie von den Geschehnissen in New York und entschließen sich nach der anfänglichen Überlegung, die Demonstration für diesen Tag abzusagen, dann doch für den üblichen Ablauf. Die Prozession gleicht jetzt einem Trauerzug für die Opfer der Anschläge in den USA.

Der wohl verstörendste Beitrag stammt von dem Mexikaner Alejandro González Inárritu. Die meiste Zeit innerhalb der 11 Minuten und 9 Sekunden ist überhaupt kein Bild, sondern nur eine schwarze Fläche zu sehen. Dagegen wird mit den Geräuschen vom 11. September gearbeitet, etwa wenn die Körper derer, die sich aus den Fenstern stürzten, auf dem Boden aufschlagen. Die wenigen, blitzartig und äußerst kurz aufscheinenden Bilder zeigen für einen winzigen Augenblick Originalbilder von den Anschlägen, die dem Zuschauer aus den Nachrichten bekannt sein dürften. Wie Blitzlichter erkennt man die Rauchschwaden und herab stürzende Menschen und am Ende die einstürzenden Türme.

Amos Gitaï bettet seine Geschichte in einen Terroranschlag ein, der sich in Israel ereignet hat. Eine äußerst aufdringliche Journalistin behindert die Rettungsarbeiten, als live von dem Attentat in Tel Aviv berichten will. Sie wird von der Nachricht aus New York überrascht und kann minutenlang nicht begreifen, warum der mörderische Anschlag, über den sie berichten will, nun kaum noch jemanden interessiert.

Die Inderin Mira Nair zeigt eine in New York lebende pakistanische Familie, die erleben muss, wie ihr bei den Anschlägen ums Leben gekommener Sohn als Terrorist beschuldigt wird, obwohl er einigen anderen Menschen das Leben retten konnte.

In dem Beitrag aus den USA lässt Sean Penn den bekannten Schauspieler Ernest Borgnine einen alten Mann spielen, dessen Frau zwar schon längere Zeit tot ist, der aber dennoch für sie, als käme sie jeden Augenblick herein, ein Sommerkleid bereit legt. Wegen der hohen Türme des WTC fällt kein direktes Sonnenlicht in die Wohnung des Mannes. Doch als die Türme einstürzen, erhellen Sonnenstrahlen plötzlich das Zimmer und lassen auch bereits verwelkte Blumen wieder aufblühen.

Der japanische Beitrag von Shohei Imamura geht zurück in die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Soldat kehrt aus dem Krieg mit unglaublichen seelischen Verletzungen zurück. Er will kein Mensch mehr sein – die Gräueltaten der Menschen haben ihn zu sehr erschreckt – und so beschließt er fortan als Schlange zu leben. Wir sehen einen Mann, der sich schlangenartig am Boden windet, der Mäuse jagt und seine Mutter, als sie ihn zur Vernunft bringen will, beißt.

In dem Beitrag des britischen Regisseurs Ken Loach schreibt der in London lebende chilenische Künstler Vladimir Vega einen Brief an die Angehörigen der Opfer des 11. September. „Es ist auch unser 11. September!“ In dem mit Filmbildern illustrierten Brief wird hier an den Putsch vom 11. September 1973 in Santiago de Chile erinnert. Die USA werden als Mitschuldige am Unglück vieler Chilenen dargestellt. Die Politik der USA sei der Untergang für das demokratische Chile gewesen. Zu sehen sind Bilder von Demonstrationen für Salvador Allende und andererseits Bilder vom Militärputsch gegen Allendes Regierung – kontrastiert mit Bildern von George W. Bush nach dem 11. September, der jetzt in seinen Reden die Freiheit aller demokratischer Gesellschaften bedroht sieht. Vladimir Vega schildert seine Inhaftierung und Folter in Chile nach dem 11. September 1973. Er klagt die von Amerikanern geleiteten Folterlager an, er weist auf die vielen politischen Morde hin, auf die mehr als 30 000 Opfer in Santiago.

Hier spätestens stellen sich die Fragen, die sich nach dem 11. September vielerorts gestellt haben: Ist eine angemessene Verarbeitung von Katastrophen durch das Suchen nach solchen Parallelsituationen überhaupt möglich? Ist dies eine „Aufrechnung“ von vergangenem und gegenwärtigem Unrecht? Kann man zwei schlimme politische Ereignisse so ohne weiteres vergleichen? Schwingt da sogar eine verdeckte „Schadenfreude“ mit, wenn den (Mit-) Verursacher des eigenen Leids nun auch einmal ein Schicksalsschlag getroffen hat? Geht Loach zu weit, wenn darüber hinaus er den USA ziemlich direkt vorhält, selber mitschuldig zu sein an den jüngsten Terroranschlägen?

In dem Beitrag aus Afrika hat sich der Regisseur Idrissa Ouedraogo darauf konzentriert, die Folgen des 11. September in seiner eigenen Erfahrungswelt, in einer Stadt in Burkina-Faso darzustellen – in einer Art Filmkomödie. Kinder, von großer materieller Not getrieben, machen in ihrer Stadt Jagd auf Osama bin Laden. Die Jungen setzen ihre ganze Hoffnung in das zu erwartende Kopfgeld. Ein kleiner Junge, Adama, braucht Medikamente für seine kranke Mutter, aber ihm fehlt das Geld dafür. Am 24. September 2001 entdeckt der Junge in einer Zeitung das Bild Osama bin Ladens – und als er aufsieht, sieht er ihn auf der Straße stehen bzw. einen Araber, der genauso aussieht wie Osama bin Laden. Adama erzählt seinen Freunden von seiner Entdeckung. Die hohe Belohnung lockt die Kinder, und fünf afrikanische Jungen überlegen nun, wie viele Kinder und Erwachsene krank sind und wie vielen sie mit der Belohnung für das Ergreifen Bin Ladens helfen könnten. Die Jagd auf den Araber beginnt: Sie verfolgen den Mann und arbeiten einen Plan aus, wie sie ihn fangen können. Beim alltäglichen Beten wollen sie ihn überraschen, aber er kommt an diesem Tag nicht. Als sie zum Hotel fahren, um nachzusehen, wo er bleibt, sehen sie ihn gerade noch mit dem Taxi wegfahren und laufen ihm zu Fuß bis zum Flughafen nach. Der Polizist, den die Jungen um Hilfe bitten, glaubt ihnen nicht. Als sie dem sich entfernenden Flugzeug nachsehen, erwägen die Jungen nunmehr einen Alternativplan, um an viel Geld zu kommen, nämlich George W. Bush zu entführen. Dieser Film von Quedraogo bietet als einziger der Beiträge einen anderen als einen mitleidsvollen, „betroffenen“ Zugang zum Thema „11. September“. Die kindliche Sicht der Dinge stellt sich quer zu den politischen Ansichten in der Welt der Erwachsenen. Osama bin Laden bedeutet für Adama und seine Freunde nichts anderes als den Ausweg aus ihrer Not und die Einlösung ihrer höchst ehrenvollen und menschenfreundlichen Ziele.

Pressereaktionen: Das Echo der Presse auf „11’09’’01“ war, im Verhältnis zum brisanten Thema, eher gering. In ihren Urteilen gingen die wenigen Berichte weit auseinander. Während einige Kritiker die „Genialität“ des Werkes hervorheben, halten andere den Film für gescheitert. Manche Kritiker sind der Meinung, dass der Episodenfilm als filmisches Werk zwar geglückt sei, dass er aber kaum etwas zur Verarbeitung der Ereignisse beitragen könne. Dass es sich um ein besonderes Filmprojekt handelt, wird der Verknüpfung von 11 Teil-Filmen überall zugestanden: „Zusammen sind die Filme dennoch ein Beweis für den Reichtum und die Lebendigkeit des gegenwärtigen Weltkinos, das über die politischen und sozialen Verhältnisse in der Welt nicht mehr hinwegsehen möchte. Nicht zuletzt ist „11’09’’01“ auch ein Gegenentwurf zu jener von der Wirklichkeit abgeschotteten Trutzburg mittelmäßiger Fantasie namens Hollywood.“ (C. Kloth)



Verfasser: Martina Watzlawick, veröffentlicht am 20.10.2005

 

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