Film / Dokumentarfilm / Dramaturgie


Daniel Sponsel

Ich und die Kamera -
Film ohne Dramaturgie am Beispiel des Tagebuchfilms November 1-30 von Jan Peters



Ein Film ohne Dramaturgie? Das kann nur ein Dokumentarfilm sein. Aber wo fangen die Kriterien für einen Dokumentarfilm an und wo enden die Möglichkeiten der Dramaturgie? Die Kategorisierung möchte ich mir ausnahmsweise einmal einfach machen und den Dokumentarfilm als ein filmisches Genre bezeichnen, das sich vom fiktionalen Erzählen vor allem dadurch abgrenzt, dass es sein Material unmittelbar dem Leben entnimmt – ohne den Umweg des Drehbuchs und der Nachinszenierung. Das hat meistens zur Folge, dass man in einem Dokumentarfilm genau das nicht hat, was einen Spielfilm so stark macht: die Schlüsselszenen – Szenen also, die die Organisation einer funktionalen Dramaturgie so einfach machen.

Das mag einer der Gründe sein, warum es so wenig dokumentarische Komödien gibt. In diesem Genre müssen die Pointen on screen stattfinden. Es reicht nicht, sie im Off nachzuerzählen. Oder eine andere wichtige Frage: Warum tut sich der Dokumentarfilm mit dem Thema Liebe so schwer? Eine Liebesszene dokumentarisch zu filmen, ist eigentlich nicht möglich, weil es einen schwerwiegenden Eingriff in die Intimsphäre bedeutet. Dass pornographische Filme in hohem Maße quasi dokumentarisch erstellt werden, will ich hier nicht weiter vertiefen.

November 1 – 30 von Jan Peters ist ein sogenannter Tagebuchfilm oder ein Filmtagebuch. Inhalt siehe Titel: Jan Peters und noch mehr Jan Peters. Jan Peters vom ersten bis zum letzten Tag des Novembers 1997. Als Jan Peters mit seinem Film auf vielen internationalen Filmfestivals für Aufsehen sorgte, war das Genre nicht neu, neu war meines Wissens allerdings der Versuch, einen Monat eines nicht gerade spektakulären Lebens chronologisch in einem Film zu verarbeiten. Ich möchte den Film von Jan Peters zum Anlass nehmen, um einer einfachen Frage nachzugehen: In welchem Verhältnis können Leben und Film stehen? In den sieben folgenden essayistischen Abschnitten möchte ich das Thema einkreisen und in einer Sammlung von persönlichen Gedanken und Erfahrungen möchte ich versuchen, einige wichtige Fragen zum Verständnis von Dokumentarfilm zu stellen. Die Gefahr, das Leben, den fiktionalen Film und den Dokumentarfilm dabei gegeneinander auszuspielen, nehme ich bewusst und gerne in Kauf. (Zusammenfassung des Films)

Die Geschichte und das Geschichtenerzählen

Unsere Geschichtsbücher sind voller Bilder und Photographien, die unsere Phantasie beflügelten. Jede Epoche, jedes Ereignis prägt sich uns durch eines dieser Zeichen ein: Adolf Hitler unmittelbar vor seinem Tod und dem Kriegsende, Hitlerjungen mit einer Tapferkeitsmedaille auszeichnend. John F. Kennedy sackt im Fond einer Limousine zusammen. Willy Brandt fällt in Warschau, vor dem Denkmal der Opfer des Ghettoaufstandes auf die Knie. Ein Ereignis, ein Bild, ein Gefühl – eine Art Ordnung der Gefühle.

Ist die emotionale Erkenntnis schwerwiegender als eine kognitive? Und entsprechen die Emotionen zu diesen Ereignissen den Ereignissen selbst? Dient die Geschichtsschreibung eigentlich zu mehr als nur dazu, um als ideeller und emotionaler Fluchtpunkt für Völker und Epochen Identität zu stiften? Eine Geschichte zu haben, einer Generation anzugehören, empfinde ich als sehr tröstlich. Es entbindet einen zum Teil der Verantwortung für das eigene Leben und gibt einem die Chance, sich mit anderen, gleichaltrigen, auf irgendeiner Party, in irgendeinem Land, auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu begegnen. Obwohl das mittlerweile seltsame Stilblüten treibt: Ich, zum Beispiel, gehöre einer Generation an, die sich nach einem Mittelklassewagen benennen darf. Gehören die jungen Menschen jetzt zu der Generation Golfkrieg?

Gelten die gleichen Fragen, die ich zur Geschichtsschreibung gestellt habe, nicht auch für das Erzählen von Geschichten, insbesondere im Medium Film? Max Frisch hat einmal gesagt, es sei viel leichter, an Gott zu glauben als seine Existenz zu verneinen. Nicht an Gott zu glauben, würde bedeuten, erkennen zu müssen, dass wir für immer und ewig alleine sind unter diesem endlosen Firmament. Max Frisch resümiert, dass eben diese Erkenntnis unsere Kräfte übersteigen würde.

Wie steht es um die Beziehung zwischen dem Leben und dem Erzählen davon? Ist die Erzählung, das Kino, eine Art Glauben, ein Glaube, der dem Chaos des Lebens so etwas wie Sinn und Zusammenhang stiftet, wo es eigentlich keinen gibt? Oder anders herum: Ist dieser scheinbare Zusammenhang ein Trost für die Erkenntnis, dass unser Leben keinen Sinn hat, und dazu auch noch vergänglich ist? Ausgerechnet Pier Paolo Pasolini soll einmal gesagt haben: Es hilft nichts, man muss eine Geschichte erzählen.


Der Alltag und die Dramaturgie

In seinem Buch Die Odyssee des Drehbuchschreibers sagt Christopher Vogler: Es gibt nur zwei oder drei wirklich wichtige Geschichten.(1) Und die wiederholen sich immer wieder mit einer Leidenschaft, als ob sie nie passiert wären.

Aus dramaturgischer Sicht funktioniert das Leben eigentlich ganz einfach, fast so wie ein klassisches Drama - mit Anfang, Mitte und Ende und zwar genau in dieser Reihenfolge. Den Anfang nennen wir Geburt, das Ende ist uns als Tod bekannt. Mit der langen Zeit, die nach der Kindheit und der Jugend folgt, tun wir uns bei der Benennung ein bisschen schwerer: - Quarterlife-Crisis heisst ein aktueller Lebensberater-Bestseller in den USA. Midlife-Crisis ist ein beliebtes Wort für das Chaos, das sich meist ungefragt ereignet. Eignet sich das eigene Leben eigentlich zu einem annähernd spannenden Filmplot, lässt es sich dokumentarisch, dramaturgisch aufbereiten? Diese Frage mag jeder für sich selbst beantworten.

Die meisten von uns hätten nur zwei oder drei wahrhaft interessante Momente im Leben, der Rest sei Füllmenge. Und die meisten von uns wären am Ende ihres Lebens glücklich, wenn einige dieser Momente zusammenpassten, wenn sie eine Geschichte ergäben, die irgendjemand anderes einigermaßen interessant finden könnte. Dies lässt Douglas Coupland in seinem Roman Generation X eine Protagonistin sagen.(2)

Auch heute noch organisieren wir Dramaturgie mehr oder weniger nach Regeln, die nun seit bald zweieinhalbtausend Jahren gelten. Wenn es im griechischen Drama mit der Auflösung der Geschichte mal nicht so recht geklappt hatte, sorgte eine Stimme, in Form des deus ex machina aus der Welt der Götter für Ordnung und somit für das Ende der Geschichte.

Die Wirklichkeit der Arbeit an einem Dokumentarfilm sieht ganz anders aus. In der Regel macht man jeden Dokumentarfilm dreimal: Man recherchiert und schreibt einen, man dreht einen anderen, der mehr oder weniger von der entwickelten Idee abweicht und im Schneideraum montiert man den dritten. Der fertige Film ist dann das Produkt eines Prozesses des Scheiterns. Das Scheitern bezieht sich weniger auf die vorgefundene Wirklichkeit, sondern vielmehr darauf, diese in die Muster des Narrativen, sprich in Dramaturgie zu übersetzen.

Ich möchte nicht falsch verstanden werden, ich habe nichts gegen Märchen und ihre pädagogische Funktion, aber oft werde ich den Verdacht nicht los, dass auch das Medium Film sich eigentlich gar nicht unbedingt eignet, um vom Leben zu erzählen. Es mag darauf verweisen, manchmal kommt es sogar darin vor, mehr aber auch nicht. Ich glaube, es gibt niemanden auf der Welt, der nicht schon viel zuviel erlebt hat, um sich mit einer einfachen Ordnung des Erlebten, zufrieden zu geben.


Freunde, flüchtige Bekanntschaften und ein Star

Ist die Ursache für die mangelnde Verfilmbarkeit eines Lebens gar nicht der Plot, sondern der Cast, also die Besetzung? Bin ich als Protagonist meiner eigenen Geschichte möglicherweise eine Fehlbesetzung?

Meine frühe Kinosozialisation, die ich in einem Vorortkino erfahren habe, bestand aus drei Filmen: Das Dschungelbuch, Bambi und verschiedenen Karl-May-Verfilmungen. Die Kindervorstellungen liefen immer am frühen Nachmittag, abends gab es ein Programm mit Titeln wie Eis am Stiel. Filme, bei denen es darum ging, zensurgerecht möglichst viel nackte Haut zu zeigen. Was mich als Zwölfjährigen natürlich überhaupt nicht interessiert hat. Zurück zu Karl May: Ich erinnere mich sehr genau daran, wie ich eines Herbstnachmittags aus dem Kino taumelte und die Welt, die ich da draußen vorfand, nicht mehr die gleiche war wie vor dem Film. Ich wusste genau, wie meine Zukunft aussehen würde: Ich umwickelte noch am gleichen Abend mein Schreckschussgewehr mit schwarzem Isolierband und verzierte es mit silbernen Reißzwecken. Ich fertigte mir ein Bowiemesser aus Holz an, nähte mir einen Lendenschurz und fragte mich ernsthaft, wie es mir gelingen könnte, Winnetou zu werden. Ich wollte mutig sein und edel, ich wollte leben wie Winnetou, wirken wie er und sterben wie er – in vollendeter Schönheit und Anmut.

Heute frage ich mich: Kann es einen Dokumentarfilm geben, der Gleiches bewirkt? Können wir uns mit ähnlicher Intensität mit Jan Peters identifizieren? Können wir leben wollen wie Jan Peters, wollen wir sein wie Jan Peters?

Irgendwann, Anfang dieses Jahrtausends, zappte ich mich durch das Fernsehprogramm und blieb bei einem Bild hängen, das mir Rätsel aufgab: Drei Frauen, nicht mehr ganz jung, aber schön genug, um im Fernsehen sein zu dürfen, lehnten an einer Küchenzeile und unterhielten sich über die verschiedenen Möglichkeiten der Verhütung. Die gesamte Szene war in einer Halbtotalen gedreht und in keiner Weise aufgelöst, kein Close-up, kein Gegenschuss. Irritiert hat mich vor allem das Logo des Senders. Ich war nicht auf 3 Sat, und sah einen 70er-Jahre-WG-Experimentalfilm, sondern ich hatte SAT 1 eingeschaltet - hier ging es gerade um viele Millionen Werbekunden. Girls Camp hieß das Reality Format, das uns nach Big Brother das Leben so zeigen sollte, wie es wirklich ist.

Wenn man einmal von der allgemeinen Fiktionalisierung der Realität absehen mag, dann sind diese Sendereihen eine sehr präzise Bestandsaufnahme unserer Mediengesellschaft. Die Demokratisierung des Starsystems ist vollbracht. Nicht unbedingt im Sinne von Andy Warhol. Jeder kann ein Star sein, meinte eigentlich: Nicht das Allgemeine sollte zum Besonderen werden, sondern das Besondere wird allgemein. Dass es nicht so gekommen ist, mag allenfalls ein Trost sein für die Kulturpessimisten unter uns, die es schon immer besser gewusst haben. Ist Jan Peters so gesehen ein Star?


Der Alltag und das Szenische

Mein erster Film trägt den Titel Zeit von Städten und hat folgenden Plot: Eine Frau steht auf einem U-Bahnsteig und wartet – die Kamera wartet mit. Die Bahn kommt, die Frau steigt ein – die Kamera auch. Zwei Stationen später steigt eine andere Frau dazu. Zwischen den beiden entspinnt sich ein Blickkontakt, so etwas wie ein Flirt. Die erste Frau steigt irgendwann aus und die Kamera mit ihr. An einer Rolltreppe fährt die Frau aus dem Blickfeld der Kamera – Ende, Abspann.

Der Film ist 20 Minuten lang und besteht aus einer Plansequenz, also einer einzigen ungeschnittenen Einstellung. Ich war Anfang 20 und auf geradezu naive Weise an der Wirklichkeit interessiert. Nach meiner ersten Aufführung im Familienkreis fragte mich mein Onkel nach einer schier endlosen Zeit des Schweigens, was ich denn mit diesem Film sagen wolle, meine Tante ergänzte: Wenn ich Menschen U-Bahn fahren sehen will, kann ich doch auch selber fahren. Bis zu dieser Aufführung war ich fest davon überzeugt gewesen, ein kleines Doku-Drama inszeniert zu haben.

Ist es also der Alltag, der das Leben per se unfilmisch macht? Diese Häufung von Ereignissen, wie z.B. Zähneputzen, Einkaufen, Auto reparieren, Mit-der-U-Bahn-Fahren oder gar Arbeiten, eignet sich nicht, eine Geschichte voran zu bringen. Ich erinnere mich eindringlich an ein Kinoerlebnis, das das Gegenteil beweisen könnte: Rüdiger Vogler lässt in Wim Wenders Film Im Laufe der Zeit aus dem Jahr 1976 die Hosen runter und scheißt in die Elbdünen - vor laufender Kamera. Das war sensationell, filmisches Neuland. Frida Grafe schrieb damals dazu: Die alten Zeiten, als sich das Publikum noch von Geschichten bewegen ließ, sind vorbei.(3) Die Zeitspanne, die der Film umfasst, ist die Summierung der Schauplätze. Was früher Dekor war, ist jetzt unbegrenzter realer Vordergrund.

Natürlich möchte ich solche Szenen auch weiterhin in den meisten Filmen missen, mir fallen spontan einige Darsteller ein, die ich so lieber nicht sehen will. Wenn Jan Peters am Ende seines Films November mit seiner Freundin Helena vor laufender Kamera Liebe macht, dann ist das weniger ein pornographischer Akt als vielmehr ein, durch ein fast 90minütiges Vorspiel vorbereiteter biographischer und identitätsstiftender Höhepunkt. Jetzt wissen wir, wie es ist, Jan Peters zu sein – wir erinnern uns.


Freie Rede, Selbstgespräche und die Kunst des Dialogs

Ich liebe Dich dürfte der meist gesagte Satz in der Filmgeschichte sein – unmittelbar gefolgt von Hände hoch, Polizei. Sprache, Kommunikation, ist ein elementares Mittel, eine Geschichte voran zu treiben. Dieses Bewusstsein macht die Arbeit für einen Drehbuchautor nicht einfach. Denn im Gegensatz zum richtigen Leben muss in einem Drehbuch auch der Small-Talk gestaltet werden. Da Zeit bekanntermaßen Geld ist – wo könnte diese Erkenntnis schwerer wiegen, als in Hollywood? – bleibt kaum Raum für das, was unser Leben eigentlich ausmacht – die Erzeugung reinen, leicht entsorgbaren Sprachmülls. Das erstaunliche an der Arbeit des Drehbuchautors ist, dass er, anders als der Dramatiker, seine Dialoge erst hört, wenn es zu spät ist, Änderungen vorzunehmen. Das sagt Ernst Lehman in dem Buch Drehbuchhandwerk von David Howard und Edward Mabley. Ein paar Seiten später werden die zehn goldenen Regeln der Dialogkunst preisgegeben.(4)

Der Sinnspruch „Man soll nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen“, wurde wohl kaum von den beiden genannten Drehbuchberatern erfunden. Jan Peters ist in seinem Film mit seiner Kamera fast immer alleine. Das bedeutet zwar automatisch, dass er mit ihr kommunizieren muss, aber er könnte dabei auch den Mund halten. Seine freie Rede ist aber genauso inflationär wie sein Bildersturm. Nach dem Motto: Je mehr gesagt wird, desto so größer die Wahrscheinlichkeit, dass auch etwas Gescheites dabei ist – ich rede, also bin ich. Oder nach Kleist: Das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Sprechen. Besonders unruhig wird der Film von Jan Peters als er endlich in Paris angekommen ist und seine Freundin Helena wiedersieht. Er umschwirre sie mit der Kamera wie eine Motte das Licht, sagt er. Dass er Helena liebt, vergisst er in all seinem Redefluss zu sagen.


Das Ich und die Kamera

Jean Luc Godard lässt am Anfang seines ersten Films À bout de souffle (Atemlos) Jean Paul Belmondo während einer Autofahrt davon erzählen, wie sehr er seine Heimat Frankreich liebe, wie schön die Landschaft sei, wie gut der Wein. Das alles mit einem direkten Blick in die Kamera und der unmittelbar an den Zuschauer gerichteten Drohung, er könne zur Hölle fahren, wenn er nicht der gleichen Meinung sei. Kurze Zeit später erschießt der gleiche Belmondo einen Straßenpolizist in bester Hollywoodmanier.

Ich glaube, ich habe mich damals den ganzen Film über nicht mehr von diesem Bruch der Kinokonvention erholt. Wie konnte ich diesem Kleinganoven noch seine Geschichte abnehmen, mit ihm leiden, mich mit ihm identifizieren, wo er mich so unverschämt direkt anquatscht? Heute ist eine der wenigen Regieanweisungen die es beim Drehen eines Dokumentarfilms nach wie vor gibt: Bitte nicht in die Kamera schauen. Aber was passiert eigentlich mit uns als Zuschauer, wenn uns jemand von der Leinwand oder aus dem Fernseher unmittelbar ansieht und dieser jemand ist kein Nachrichtensprecher sondern jemand, mit dem wir uns identifizieren? Warum löst diese direkte Ansprache die Nähe auf, die wir uns in einem mühsamen Identifikationsprozess gebaut haben? Ist diese Nähe plötzlich befremdlich, weil wir zum Teil einer Geschichte werden, weil wir theoretisch Antwort geben müssten?

Ganz im Gegensatz zu Jan Peters war ich immer der Überzeugung, niemals in meiner privaten Umgebung zu filmen. Aber als es klar war, dass mein Vater nicht mehr lange zu leben hatte, habe ich mir eine Kamera geliehen und darauf los gefilmt – wie jemand, der nie eine Ausbildung erfahren hat und der eigentlich wissen müsste, dass zu einem Drama mehr gehört als nur das Ende. Natürlich habe ich mich hinter dieser Maschine versteckt, um diesem Ereignis überhaupt begegnen zu können. Als ich eines Abends noch im Eingang des Pflegeheims, in dem mein Vater zum Schluss lebte, feststellte, dass ich die Kamera vergessen hatte, war mir klar, dass etwas passieren würde. Ich frage mich noch heute, was ich wohl gemacht hätte, wenn ich die Kamera dabei gehabt hätte. Hätte ich dem Tod ins Angesicht gefilmt? Ich glaube, gleich nach der Liebe ist der Tod der schwierigste Stoff für das Medium Film. Es wird so schrecklich viel gestorben vor laufender Kamera. In den Nachrichten und im Kino.

Ich bin meine Erinnerung, ist ein schöner Satz von Augustinus. Ich glaube, es gibt nur wenige Menschen die sich an ihren Tod erinnern können. Ich habe keine Angst vor dem Tod, sagt Woody Allen, ich möchte nur nicht dabei sein, wenn es passiert.


Das Leben ein Thema?

Ein Dokumentarfilmer hat eine Idee zu einem neuen Film. Eine einfache Idee, unmittelbar aus dem Leben, eine Begegnung, ein Ereignis. Es wird keine fünf Minuten dauern und der Redakteur wird fragen: Und, was ist das Thema dieses Films? Was und wie wollen Sie es erzählen? Und er erwartet eine klare Antwort: Heimatverlust, Einsamkeit oder die Angst vor dem Tod, zum Beispiel. Syd Field, um diesen Namen kann ich leider auch hier nicht herum kommen, sagt in seinem Handbuch zum Drehbuchschreiben – Übungen und Anleitungen zu einem gutem Drehbuch: "Bevor Sie überhaupt anfangen können, das Drehbuch zu schreiben, brauchen Sie ein genaues Thema, eine Handlung und eine Hauptfigur." (5)

Die Ökonomie unserer Kultur setzt an das Ende immer die Erkenntnis. Wahrhaft große Themen aber sind grundlos, Gott darf nicht erzweckt werden. Erkenntnis setzt nicht nur Wiedererkennung voraus, sondern den Mut, sich zu erinnern und dabei weiter zu gehen. In diesem Sinne nimmt Jan Peters in seinem Film November 1 –30 die Rede vom Weg, der das Ziel sein soll, ernst. Aber den Sinn des Lebens habe ich immer noch nicht herausgefunden hieß der erste autobiographische Film von Jan Peters, in dem er zwischen seinem 24. und 30. Lebensjahr jedes Jahr eine Rolle Film mit Selbstgesprächen belichtete.

Ist Jan Peters, nach Max Frisch, ein Atheist, der die Existenz Gottes ernsthaft verneint? Oder ist er, wie die meisten von uns, auch nur ein Agnostiker, der den lieben Gott einen guten Mann sein lässt und weiterhin unentschlossenen auf den Tag seines Existenzbeweises wartet? Gelingt es Jan Peters in seinem Film, den filmischen Konventionen zu entkommen oder verarbeitet er sie nur raffiniert? Kann jemand einen Monat seines mehr oder weniger gewöhnlichen Lebens in einem Film dokumentieren und bei mir als Zuschauer Interesse, Anteilnahme oder gar Identifikation erreichen? Ist dieser Film vielleicht ein Versuch auf dem langen Weg, sich von der falsch verstandenen Aufklärung zu lösen? Ist die Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht längst zur Abhängigkeit von der selbstverschuldeten Freiheit degeneriert?

Der Dokumentarfilm ist ein Plädoyer für das Leben, ganz egal wieviel Wirklichkeit er zeigt, sagt der Erzähler im Letzten Dokumentarfilm. Zu dem Film von Jan Peters könnte ich jetzt anmerken: Das Leben ist ein Plädoyer für den Dokumentarfilm, ganz egal wieviel Dramaturgie es hat. Das könnte sie auch schon gewesen sein, die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, in welchem Verhältnis Leben und Film stehen können. Einfacher und schöner noch ist ein Satz von Palais Schaumburg der für alles Leben in Filmen gelten darf: Was wir sehen können, können wir sehen. Das Geheimnis ist offenbar.

 


Aus einer Kritik der Berliner Programmzeitschrift TIP:

" Auch der Rest der Menschheit, der nicht Jan Peters ist, hat jetzt die Chance, zu erfahren wie es ist, Jan Peters zu sein. Wer Jan Peters ist? Keine Ahnung! Aber ich weiß, dass er Autofahren richtig entspannend findet, dass er eine Freundin in Paris hat, aber eigentlich in Hamburg wohnt, dass er einen Zusammenhang sieht zwischen Autoraserei und Kindesmisshandlungen und dass er sich beim Pinkeln hinsetzt. Ich weiß das alles, weil ich sein Filmtagebuch November 1- 30 gesehen habe. Für jeden Tag hat er drei Minuten Film belichtet und dazu jeweils drei Minuten Kommentar aufgezeichnet. Die chronologisch geordneten Dreiminutenclips ergeben einen Wasserfall an Bildern, ein chaotisches Muster an Denkschleifen. Das kann einem sicher auf die Nerven gehen, wie ein besoffener Tresennachbar, der einem schwer philosophisch das Ohr abkaut und dabei seine unscharfen Familienbilder zeigt. Mir aber hat das Jan-Peters- November-Universum gefallen, weil sich darin in seltener Weise maximaler Narzissmus-Input mit maximalem Humor-Output paart. Anders gesagt: Lustig war´s mit Peters, Jan." (zurück zum Text)

 

Zehn goldenen Regeln der Dialogkunst (Howard, David & Mabley, Edward)

1. Die Dialoge müssen charakteristisch für den Sprecher sein und vielleicht auch für die angesprochene Person.
2. Die Dialoge müssen idiomatisch sein und die Individualität des Sprechers betonen, und sie müssen gleichzeitig in stilistischer Hinsicht mit dem gesamten Drehbuch harmonieren.
3. Die Dialoge müssen die Stimmung des Sprechers widerspiegeln, seine Emotionen vermitteln oder Einblick in seine innere Verfassung gewähren.
4. Die Dialoge müssen die Motive des Sprechers zu erkennen geben oder einen Versuch, seine Motive zu verbergen.
5. Die Dialoge müssen das Verhältnis des Sprechers zu den anderen Figuren durchblicken lassen.
6. Die Dialoge müssen miteinander verknüpft sein, das heißt, aus einem früheren Stück Dialog entstehen, und zu einem anderen hinführen.
7. Die Dialoge müssen die Handlung vorantreiben.
8. Die Dialoge müssen Information befördern.
9. Die Dialoge müssen zukünftige Entwicklungen andeuten.
10.Die Dialoge müssen für das Publikum klar und verständlich sein.
(zurück zum Text)

 



1 Vogler, Christopher, “DIE ODYSSEE DES DREHBUCHSCHREIBERS“, deutsche Ausgabe, Frankfurt am Main, 1997, Seite 27, Zitat nach Willa Cather (top)

2 Coupland, Douglas “GENERATION X, deutsche Ausgabe, Berlin, 1994, Seite 36(top)

3 Grafe, Frieda in Grob, Nobert “WENDERS, DIE FRÜHEN FILME, die Formen des filmischen Blicks, Berlin 1984, Seite 27 (top)

4 Howard, David & Mabley, Edward “DREHBUCH HANDWERK“ Techniken und Grundlagen, deutsche Ausgabe, Köln, 1996, Seite 111 & 112 – 113 (top)

5 Field, Syd “DAS HANDBUCH ZUM DREHBUCH, Übungen und Anleitungen zu einem guten Drehbuch, deutsche Ausgabe, Frankfurt am Main, 1997, Seite 21 (top)



Ausführlichere Angaben zum Thema über e-mail beim Verfasser des Artikels: medienobservationen@lrz.uni-muenchen.de Datum der Veröffentlichung: 06.04.2004

 

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