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Bernd Scheffer

Das Zusammenspiel von Fiktion und Realität
Der 11. September und die USA als Teil Hollywoods

Bietet Hollywood wieder einmal grenzenlos weit reichende Anregungen für die öffentliche, aber vor allem auch für die private Ausübung von Gewalt? Die frappierenden Ähnlichkeiten zwischen zahlreichen Hollywood-Filmen und den viel späteren Ereignissen des 11. September geben dem, so scheint es jedenfalls auf den ersten Blick, auch recht zu geben: In der Schlußszene des Films "Fight Club" (1999) stürzen ausgerechnet Zwillings-Türme in sich zusammen - zudem als Folge eines Terroranschlags. Der Film "Independence Day" (1998) wirkt jetzt über weite Strecken wie eine technisch etwas verbesserte Dokumentation der tatsächlichen Anschläge vom 11. September - angesichts der Bilder von brennenden und einstürzenden Hochhäusern in New York. Es gibt mehrere Filme, in denen Flugzeuge mit katastrophalen Folgen in Hochhäuser stürzen.

Die Filme sind immer schon da, nicht nur als Vorwegnahme der tatsächlichen Katastrophe, sondern gerade auch als Antwort auf sie, als höchst suggestive Anweisung, daß dann auch in der Realität nach einer Katastrophe nur noch so wie im Film (und eben nicht mehr anders) gehandelt werden kann und muß. - In dem Film "The Siege"/"Der Ausnahmezustand" (1998) wird eine Reihe von Anschlägen gezeigt, verübt durch arabische Terroristen. Ermittelt wird die Identität eines Selbstmord-Attentäters, eines Studenten namens Ali Waziri, der kurz vor der Tat aus Frankfurt eingeflogen ist. Unmittelbar nach Beginn des Films ist ein Schauspieler zu sehen, der ganz offenkundig Osama bin Laden darstellen soll. Nach einer Reihe von Anschlägen durch muslimische Terroristen wird in New York der Ausnahmezustand verhängt: Alle männliche Muslims zwischen 13 und 60 Jahren werden von der US Army deportiert. Ein mutmaßlicher Terrorist wird von ranghohen Offizieren gefoltert und ermordet. - In dem Film "Outbreak"/"Lautlose Killer" (1995) von Wolfgang Petersen wird die Katastrophe tödlicher biologischer Angriffe bearbeitet. - Aufzählen ließe sich eine lange Liste von Katastrophen-Filmen, die ihre apokalyptische Szenarien immer nur in New York ansiedeln. Sogar die Opferbereitschaft und das Heldentum der New Yorker Feuerwehrmänner angesichts des 11. September war lange zuvor als Mythos im Film modelliert worden, etwa in dem Film "The Towering Inferno"/"Flammendes Inferno" (1974). Dort kündigt der Einsatzleiter der New Yorker Feuerwehr, dargestellt von Steve McQueen, am Schluß des Films folgendes an: "Wir haben heute Nacht noch Glück gehabt mit weniger als zweihundert Toten, aber es werden Zeiten kommen, in denen wir bei einem Hochhaus-Brand Tausende von Opfern haben werden ...."

Hollywood ist bekanntlich ein kaum zu überschätzender Teil der USA, aber wie weit kommt man einmal mit der genau umgekehrten Behauptung, im Zusammenspiel von Fiktion und Realität seien die USA selbst nur mehr ein Teil Hollywoods? Jedenfalls spielt Hollywood selbst fortlaufend mit dieser Verwechselbarkeit von Hollywood und USA - in mehreren Filmen. Der Film "Wag the Dog" erzählt die Geschichte vom Beraterstab eines amerikanischen Präsidenten, der wenige Tage vor seiner Wiederwahl der sexuellen Nötigung einer Praktikantin beschuldigt wird - und der, um davon massiv abzulenken, mit Hilfe eines Hollywood-Produzenten einen Krieg gegen Albanien mit allen Raffinessen fingiert - und dann die Wahl gewinnt. Am Ende des Films wird der Hollywood-Produzent von Regierungsleuten ermordet; er muß sterben, weil es die Herrschaft Hollywoods über die USA offiziell nicht geben darf.

"Das ist ja wie im Film!"

"Das ist ja wie im Film!", haben viele von uns gerufen. Wie auch sollten wir die Bilder, die wir real erleben, überhaupt trennen von all den Filmbildern (mit ihrem eindrucksvollen Realismus), die wir zuvor so massenhaft gesehen haben. Eigentlich ist es falsch, zu sagen, die Anschläge vom 11. September (oder vom 26. April in Erfurt) seien gänzlich unvorstellbar gewesen. Eher müßte es heißen, daß das aufgrund der Filme längst Vorstellbare und Sichtbare nur zu einem bis dato unüblichen Schauplatz gewechselt hat, mit freilich tödlicher Real-Konsequenz.

Es scheint jedenfalls so, als könne die Rekonstruktion des Schemas etwa von James-Bond-Filmen raschen Aufschluß darüber geben, wie einige zuständige Politiker die "Lage" sehen und warum sie die "Lage" gerade so sehen. Das fängt bei der Ursachen-Zuschreibung und beim Täter-Profil an: Man sucht und findet den reichen Hauptverantwortlichen, der sich nur mit viel Geld das Know-How und die Logistik erkaufen konnte und mit religiös verbrämter Gehirnwäsche todesbereite Gefolgsleute herangezüchtet hat. Übernimmt dann "Realpolitik" dieses James-Bond-Schema, so ist dann auch das Modell der "einzig richtigen Antwort" leicht verfügbar: Wie bei James Bond werden erst die Geheimdienste losgeschickt und dann das Militär, das film-adäquat und medien-gerecht demonstriert bzw. fingiert, daß die eilends versprochene Rache, die "Ausräucherung" erfolgt ist ("smoking 'em out!", wie George W. Bush zu sagen pflegt).

Hollywood berät USA

Als es erste Berichte gab, Mitglieder der US-Regierung hätten sich nach dem 11. September bezüglich der aktuellen Terror-Bekämpfung von führenden Regisseuren und Drehbuchschreibern Hollywoods beraten lassen, mochte man das noch für einen schlechten Scherz auf der Welle der in solchen Fällen üblichen Gerüchte und Verschwörungstheorien halten, indessen: Solche Treffen fanden tatsächlich mehrfach statt. Die amerikanische "Academy of Television Arts & Science" meldet voller Stolz, daß der Präsidenten-Berater Mark McKinnon bei einem Besuch der Academy nun "USA" seinerseits "Hollywood" unterordnet habe: "We don't want to be in the business of telling the Hollywood community what to do. In fact, the Hollywood community has been way out ahead of us." US-Generäle loben nicht nur die gewalttätigen Computerspiele, sondern drängen auf deren Fortentwicklung - zum Training für die Soldaten: "That's the kind of realism we're trying for!", sagt Brigadegeneral Stephan Seay.

Lehrt Hollywood eine Art des filmischen Denkens und Handelns für die Realität? Benehmen sich Präsidenten, Gouverneure und Bürgermeister verstärkt wie Schauspieler? Viele Beispiele aus der Geschichte ließen sich nennen, beileibe nicht erst seit Ronald Reagan oder dem diesbezüglichen Eingeständnis des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller, daß Politiker auch gute Schauspieler sein sollen. Jeder weiß inzwischen, daß in Nachrichtensendungen mit Vorliebe solche Bilder gezeigt werden, die im hohen Maß den Wunsch nach spektakulären (Film-) Symbolen bedienen.

Es gibt weitere tatsächliche, nicht nur metaphorische Identitäten von Hollywood und USA: Als Timothey McVeigh für seinen Bomben-Anschlag in Oklahoma City bzw. für seine Beteiligung daran hingerichtet wurde, durften ausgewählte 250 Personen, unter ihnen Angehörige der Opfer, via Fernsehen die Hinrichtung, das Sterben McVeighs "Live" verfolgen. Ausgerechnet das vorgeblich freieste und zivilisierteste Land der Erde gibt sich realen Rache-Vorstellungen hin und praktiziert als einziges Land der sog. "Ersten Welt" die Todesstrafe.

Jedenfalls propagieren viele Filme den Einmann-Terrorismus, die Selbst- und Lynchjustiz. Deren Darsteller sind allesamt zu Kult-Figuren geworden: Charles Bronson, Clint Eastwood, Silvester Stallone, Robert de Niro, Arnold Schwarzenegger, Bruce Willis, Brad Pitt und viele andere. In Katastrophen-Filmen kommt die Läuterung durch Gewalt, Feuer und Tod. In den Filmen ist jegliche Zerstörung legitim, sie bekommt Sinn, weil am Ende des Films die Lage "klarer" ist als zuvor: Im Zuge brutalster Selektion wird in einer Massenvernichtung die menschliche "Spreu vom Weizen" getrennt. Freilich, es sind Filme, das macht allemal noch einen Unterschied. "Fight Club", übrigens ein Kult-Film, bietet - jedenfalls als Film - "Faschismus pur", nicht nur in der umfassenden Ästhetisierung von Gewalt, sondern ganz explizit: "Nur Selbstzerstörung macht das Leben wirklich lebenswert!" Oder auch: "Nur wenn wir alles verloren haben, haben wir die Freiheit, alles zu tun!"

Zwar gibt es in nicht wenigen Filmen auch eine deutliche, sogar heftige Kritik an den Gewaltphantasien Hollywoods bzw. denen der USA, aber auch sie ist widersprüchlich: Auch die zu kritisierende Seite kommt ausführlich zu Wort und ins Bild und vor allem zur Tat, und nicht selten sind die Bösen wieder einmal attraktiver als die harmlosen Guten und setzen sich gegen sie durch.

Alle Ähnlichkeiten sind rein zufällig?

Eine erste Erklärung des Zusammenspiels von Fiktion und Realität würde besagen, daß es zwar scheinbare Übereinstimmungen, jedenfalls verblüffende Ähnlichkeiten zwischen Hollywood-Filmen und realem Geschehen in den USA (oder jetzt auch in Deutschland) geben mag, aber bei genauerer Bestimmung zeigten sich dann doch keinerlei echte und vor allem keine vollständige Übereinstimmungen, sondern eben nur gewisse täuschende Ähnlichkeiten, trotz aller Häufungen. Die Filme wären eine Sache, und das Realgeschehen eine völlig andere. Alle Zusammenhänge, die wir beim Vergleich von "Hollywood" und "USA" beobachten, vor allem alle prophetischen Zusammenhänge werden ja immer erst nachträglich hergestellt - und das, was sich nicht zur Übereinstimmung und Prophetie eignet, und es ist oft das meiste, fällt dabei einfach weg.

In der Drift, nur nach Ähnlichkeiten Ausschau zu halten, wird zum Beispiel ausgeblendet, daß die Katastrophe in "Independence Day" eben nicht von terrestrischen Terroristen herbei geführt wurde, sondern von "Aliens". In "Independence Day" sürzen die Gebäude sofort in sich zusammen - und nicht erst nach entsetzlichen 20 Minuten zwischen fürchterlichem Hoffen und Bangen. - Auch in "Fight Club" ist es eben keine arabische Terroristen-Gruppe, die für das Zusammenstürzen der Zwillings-Türme verantwortlich ist, sondern ein schizophrener Einzeltäter. In fast einmaliger Weise wird klar, wie ungeheuer selektiv unsere Wahrnehmung verfährt. Doch darüber hinaus bestreitet diese Art von Erklärung jegliches Zusammenspiel von Fiktion und Realität und kann daher auch nicht das riesige Publikums-Interesse an medialen Gewaltszenarien noch deren Wirkung begründen.

"Die Medien sind Schuld"

Ein zweiter Erklärungsversuch, der dieser Tage leider Hochkonjunktur hat, behaupet, daß Filme quasi Mittäter sind, daß also "Hollywood" die Gewaltakte mit-verursacht, die sich dann, dem Film-Vorbild folgend, tatsächlich ereignen. Es gibt ja erste Hinweise, daß die Attentäter und vor allem ihre mutmaßlichen Hintermänner nicht nur technisch hervorragend ausgestattet waren, sondern daß dabei auch Film-Mitschnitte und selbst-gefertigte und vorgefertigte Videos eine erhebliche Rolle gespielt haben.

Doch solche Erklärungen haben ihre Tücken: Wir treffen einerseits auf eine ziemlich unanfechtbare Argumentation, die uns dennoch nicht restlos überzeugt: Zwar gibt es mittlerweile unübersehbar viele Beispiele von Attentaten, die bis ins Detail dem Vorbild von Hollywood-Filmen gefolgt sind, aber in den nicht selten stark aufgebauschten, Abweichungen ausblendenden Medien-Berichten wird mehr oder weniger planmäßig ignoriert, daß Millionen anderer Menschen die gleichen Filme und Fernsehproduktionen gesehen haben und die gleichen Computerspiele gespielt haben und dennoch nicht zu Massenmördern geworden sind. Genau aus diesem Grund müssen Richter immer wieder - und gewissermaßen auch zu Recht - die Produzenten und Regisseure buchstäblich eingeschlägig gewordener Filme von der Anklage einer Beihilfe zum Mord freisprechen.

Was also machen Terroristen und Attentäter als Mediennutzer, wenn sie nachweislich auf bestimmte Filme treffen und sich diese zum Vorbild für reale Morde genommen nehmen? Die Mindest-Antwort fällt so aus: Der Film färbe die ohnehin geplante Tat gewissermaßen nur ein wenig mit seinen eigenen Farben ein, er bestimme, in Grenzen allerdings, das Muster der Tat mit. Man kann zwar nicht das Gegenteil beweisen, aber wir fragen uns immer noch aussichtslos, ob es diesen oder jenen Anschlag überhaupt gegeben hätte, wenn bestimmte Filme und Computerspiele nicht exzessiv genutzt worden wären.

Eher stützen läßt sich hingegen die folgende These: Hollywood und die übrigen Massenmedien sind zwar keine alleinigen oder direkten Verursacher des modernen Terrorismus, gleichwohl gäbe es diese Art von Terrorismus gewiß nicht ohne sie. Ein Terroranschlag, von dem die Medien nicht berichten würden, ist für Täter aller Profile sinnlos. Aber was folgt daraus? Das Rad der Medienentwicklungen läßt sich schwerlich zurückdrehen. Medien sind also unschuldig und schuldig zugleich. Man muß grundlegender ansetzen.

Das Zusammenspiel von Fiktion und Realität ist unvermeidlich

Die beiden ersten Erklärungen machen den Fehler einer allzu sauberen Trennung zwischen Realität und Fiktion. Fiktion und Realität waren indessen schon immer verwechselbar. Das Zusammenspiel zwischen Fiktion und Realpolitik ist ja nicht neu: Wir kennen eine lange Vorgeschichte der realen Inszenierungen und Fingierungen, der Gerüchte und Verleumdungen, der Verschwörungstheorien und der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Hollywood und USA können gar nicht anders, als basal zusammenzuspielen. Wir sprechen angesichts realer Vorkommnisse auch in Deutschland seit langem von "Realsatire" und von einem "Gladbecker Geiseldrama", jetzt von vom "Erfurter Wahnsinns-Schauspiel", und es hat wohl durchaus kritischen Erklärungswert, wenn die deutsche Wiedervereinigung konsequent als "Theater" mit diversen Akten beschrieben wird, mit Intrige und Verrat, als Burleske, (Stasi)-Verwechslungs-Komödie, als Wiedervereinigungs-Festspiel und (ein wenig) auch als bürgerliches Trauerspiel.

Zwar wissen wir - jedenfalls aufs Ganze unseres Medienkonsums gesehen - so gut wie immer, ob wir im Film sind oder in unserer jeweiligen Realität, niemand verwechselt den Krimi komplett mit einer tatsächlichen Straftat, und doch haben Filme und Realität wichtige Grundstrukturen gemeinsam. Spätestens mit Konstruktivismus und Systemtheorie verzichtet die Erkenntnistheorie auf eine ontologische Garantie des Unterschieds zwischen Fiktion und Realität. Je weniger die Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität der "Sache selbst" zugeschrieben werden kann, desto stärker entscheiden Erfahrungen mit Fiktionen (etwa aus Literatur und Film), desto stärker entscheiden emotionale, soziale und vor allem auch ästhetische Prozesse über den jeweiligen, prinzipell flexiblen Unterschied zwischen Realität und Fiktion. Die objektive Welt bekommt niemand zu Gesicht. Daher kann man mit ihr, in ihrem Namen auch nicht zwischen Fiktion und Realität unterscheiden. Jenseits von Alltagsroutinen ist fortlaufend unklar, wo genau die Grenze zwischen Fiktion und Realität verläuft. Die nachhaltigste, die schlimmste Fiktion ist vielmehr die Annahme einer objektiven Realität, in deren Namen sich dann "adäquat" und "gerecht" handeln ließe. Zugespitzt gesagt: Gewalttäter haben eben nicht nur das Problem, daß sie Fiktionen gewaltsam in Realitäten umsetzen, sondern sie haben vor allem auch das Problem, daß sie ihre eigene Realität nicht ausreichend fiktionalisieren. Sie härten vermeintliche Realität fundamentalistisch und verzichten damit auf ihre Flexibilisierung. Neudeutsch gesagt: Ihr Verhältnis zur Realität ist äußerst "un-cool".

Zeichen deutungslos

Katastrophale Zeichen sind wie alle Zeichen in gewisser Hinsicht deutungslos. Man kann nicht nicht auf sie reagieren; man muß also reagieren, aber keine einzige Reaktion ist tatsächlich adäquat geschweige denn "grenzenlos gerecht." Je größer die Dimensionen eines Anschlags sind, desto weniger klar sind die Dimensionen der mittelfristigen und langfristigen Antwort. Katastrophen sind eben auch deswegen katastrophal, weil der Wunsch nach Antwort, nach Sinn-Stiftung dramatisch, aber eben auch hoffnungslos steigt ("Warum nur, warum konnte das geschehen?" - fragt eigentlich jeder).

Dadurch, daß Zeichen keine adäquate Reaktion schon in sich selbst tragen, impliziert jegliche Zeichendeutung von vornherein eine sehr große Toleranzbreite. Leider gibt es keinerlei Umstände, die die Berücksichtigung eben dieser Toleranzbreite wirklich erzwingen könnten. Keine Katastrophe, kein Zusammenbruch zwingt Menschen, anders zu denken und anders zu handeln. Erwiesenermaßen "falsch" ist ein Verhalten überhaupt nur dann, wenn es unmittelbare tödliche Folgen hat; aber dann ist es für eine Einsicht natürlich auch schon zu spät. Noch nicht einmal das Sterben, sondern nur der Tod ist die einzige Situation, in der alle fiktionalen Anteile an der Realität wirklich restlos verschwunden sind. Zum Selbstmord bereite Attentäter sind gerade deshalb unangreifbar, völlig resistent, weil sie diese Situation einer ersten bzw. letzten zwingenden tödlichen Einsicht von vornherein schon storniert haben.

Man kann zeigen, daß Hollywood und USA deswegen - sagen wir ruhig: schlecht zusammenspielen, weil sie etwas praktizieren, was zeichen-theoretisch gesehen höchst fahrlässig ist: Keine ernsthafte Erkenntnis- oder Zeichentheorie wird noch behaupten wollen, Zeichen (und seien sie noch so "offenkundig" faktisch) seien mit der "wahren Welt" verbunden oder trügen zumindest Teile von ihr quasi in sich selbst. Die ganze Zeichen- bzw. Weltdeutungs-Praxis stimmt dort in Hollywood und in den USA von Grund auf nicht. Sie relativieren weder ihren Deutungs-Anspruch noch ihren daraus abgeleiteten (Welt-) Herrschafts-Anspruch in erforderlichen Weise. Nur mit grundlegenden Fehlern Hollywoods bzw. der USA läßt sich z. B. der Versuch erklären, auf den Deutungs-Fundamentalismus eines "heiligen Krieges" mit dem Duplikat einer "Operation Infinite Justice" antworten zu wollen.

Der Vorteil einer solchen semiotischen Kritik liegt vor allem auch darin, daß man eben nicht schon von Anfang an im Namen einer dann ohnehin wieder strittigen Ethik oder Moral sprechen muß, sondern Toleranz fundamental verankern kann. Kritisieren lassen sich Hollywood und die USA also nicht wegen des Zusammenspiels zwischen Realität und Fiktion an sich (es ist unvermeidlich), sondern nur wegen ihrer falschen Theorie und folglich ihrer falschen Praxis.

Ausblick

Es gibt ja nicht nur die simplen Modelle von vermeintlich klarer Herausforderung und dann adäquater Antwort, sondern es gibt auch die bei jüngeren Leuten verbreitete, medial bedingte "Coolness", die bei allen Nachteilen durchaus auch ihre weltpolitischen Vorteile hat. Diese Coolness, dieser spezifische Anti-Fundamentalismus, diese grundsätzliche Flexibilisierung von Realität, dieses ironische Verhältnis zu Realitäten ist ein Medien-Resultat, das bei Vielsehern, jedenfalls in reichen Ländern, zu beobachten ist - kompetente Vielseher, die dieses, aber eben auch anderes, Gegenteiliges, Relativierendes gesehen haben. "Coolness" erweist sich zumindest in theoretischer Hinsicht als das intelligentere und humanere Zeichen-Handeln gegenüber einem stets getreulichen Nach-Buchstabieren heiliger Fiktionen, die für realer als die Realität gehalten werden: Bedauerlich "cool" zwar, aber gottlob auch weder fundamental "militant", noch fundamental "militär". Die Coolen haben hoffentlich etwas (außer immer nur Spaß und das Geld dafür), wofür es sich zu leben lohnt, aber wir sollten ihnen dankbar sein, daß sie nichts haben, wofür sie eilfertig sterben wollten. Sie sind gewissermaßen das Gegenteil von Selbstmord-Attentätern und möglicherweise nicht die schlechteste Antwort auf sie.

Das viel beklagte Zusammenspiel von Fiktionen und sog. Realitäten hat eben nicht nur Nachteile, im Gegenteil: Einzig die prinzipielle, auch produktive Verwechselbarkeit von jeweiliger Realität und jeweiliger Fiktion liefert die entscheidenden Impulse für kulturellen und gesellschaftlichen Wandel - zunächst unabhängig davon, ob wir dies für einen Wandel zum "Besseren" bzw. "Schlechteren" halten.

Kein Mensch hält es ohne Unterbrechung im "Hier und Jetzt" aus. Ein solcher Fall ist nie dokumentiert worden, daß ein Mensch nur im "Hier und Jetzt" leben konnte. Daher sind Fiktionalisierungen überall erwünscht und auch ihre Steigerung ist erwünscht. Möglicherweise kann man damit jetzt besser als je zuvor erklären, warum Menschen seit jeher derart hinter den Medien her sind (von den technischen Medien bis hin sogar zu den religiösen, sogar spiritistischen Medien): Medien bedienen Steigerungs-Phantasien, ohne die man offenbar nicht auskommen kann. Steigerungen bieten die Medien auf allen Ebenen, und leider läßt sich wohl nichts leichter und nachhaltiger steigern als Gewalt. Und hier besteht wenig Hoffnung. Aber es ist sinnlos, gegen Fiktionalisierungen bzw. ihre Steigerungen ganz allgemein vorgehen zu wollen. Das wäre ein Denk-Verbot, ein Gefühls- und Gedanken-Terrorismus, denn schließlich fiktionalisiert ja auch jedes Planen, jedes Probehandeln, vor allem jedes Wünschen, Tagträumen und Träumen.

Es gibt wohl ohnehin keine andere Chance als diese: Immer besser die Regeln dessen zu verstehen, was allseits gespielt wird. Und wenn alle das Spiel der Inszenierung, der Fiktionalisierung, der Simulation und der Virtualisierung spielen und wenn alle es wissen, daß dieses Spiel gespielt wird, dann hätte ein umfassend verbreitetes Spiel eben damit auch eine ganz neue, bislang allerdings nicht umfassend bekannt gegebene Grundregel bekommen: Man muß dann nicht mehr tödlich ernst machen; gerade Realität im unvermeidlichen Zusammenspiel mit Fiktion verlangt dies nicht. Man muß auch keine riesigen politischen und juristischen Maßnahmen ergreifen, die ohnehin einigermaßen sinnlos sind, eine wöchentliche Schulstunde in Medienkunde tut es auch.



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