Johannes Schlegel


Requiem für Baudrillard

Introitus

In einem der zahlreichen Nachrufe auf Jean Baudrillard findet sich eine Anekdote, die wiederum auf eine Überlieferung des New Yorker verweist: Zu Beginn des Jahres 2005 hielt Baudrillard eine Lesung in einer nicht näher genannten New Yorker Gallerie. In der sich anschließenden Diskussion kam einer der Besucher auf den kürzlich verstorbenen Derrida zu sprechen. Schnell drehte sich das Gespräch um Nachrufe, und der Mann aus dem Publikum fragte Baudrillard: „What would you like to be said about you? In other words, who are you?”. Baudrillard antwortete wenig überraschend: „What I am, I don’t know. I am the simulacrum of myself.” (1)

In dieser kleinen Szene liegt viel von dem, was in den letzten Jahren bezeichnend war für Baudrillard, sein Denken und Philosophieren, aber auch für den Umgang mit ihm und die Reaktionen, die eben diese eigenwillige Philosophie und radikale Theoriebildung provozierten.

Beim Lesen dieses Selbtzitats („I am the simulacrum of myself”) fällt es zugegebenermaßen schwer, diese Sophistik nicht als ermüdend zu empfinden. Heute, im Jahr 2007 und inzwischen uneinholbar im neuen Millenium angekommen, das dann wohl doch stattgefunden hat, erscheint diese Geste unzeitgemäß, fremd und entrückt, wie die schrillen, peppigen Neonfarben der achtziger Jahre, Aerobic, oder vielleicht sogar wie der Marxismus, der stets ein wichtiger Referenzpunkt Baudrillards war, wenn auch schließlich in kritischer Perspektive.

Gleichzeitig ist die Aussage aber auch zutreffend und somit durchaus faszinierend, denn in der Tat kann, oder vielmehr muss Baudrillard als sein eigenes Simulacrum gesehen werden. Deutlich machen dies nicht zuletzt eben die zahlreichen Nachrufe, die Baudrillard nach seinem Tod medial noch einmal auferstehen lassen und so ‘ihren’ Baudrillard konstruieren als eine referenzlose Erinnerung, kurz: als Simulacrum. „Real ist, was immer schon reproduziert ist. Hyperreal.”

Den virtuellen Weg, den dieses Konstrukt in den Medien zurücklegte, verhält sich dabei umgekehrt zu Annahmen Baudrillardscher oder auch Virillioscher Provenienz, die von einer Beschleunigung der Wirklichkeit durch die Medien ausgehen. Von Baudrillards Tod erfuhr ich zuerst im Videotext, fast zeitgleich gefolgt von Meldungen im Internet und schließlich, mit der spezifischen Verzögerung ‘alter’ Medien und gedruckter Texte, in den Feuilltons. Und vielleicht liegt es gerade an dieser ‘Entschleunigung’ der Meldung, der Rückwärtsbewegung von sekundären Medien hin zur reinen Schrift, dass das derart erschaffene Monument so nachhaltig wirkt. (2)

Die Grundlage für diese reproduzierte Identifizierung legte Baudrillard mit den Texten, die in Deutschland unter den Titeln Agonie des Realen (1978 bei Merve, Belin) und Der symbolische Tausch und der Tod (1982 bei Matthes&Seitz, München) erschienen. Welchen Einfluss diese beiden Bücher – in denen Baudrillard sich entgültig von soziologischen und marxistischen Erkentnissinteressen ab- und einer Ausarbeitung der Simulationshypothese zuwandte – bis heute haben, verdeutlicht eine Szene aus dem Film The Matrix (1999) der Wachowski-Brüder, die über die rein inhaltlichen Referenzen an Baudrillard hinausgeht: Der Protagonist Thomas A. Anderson, alias Neo, verwendet ein Buch als geheimes Versteck. Der Titel dieses Buches, mit dem in dieser kurzen Szene ein Widerspiel von Simulation und Dissimulation inszeniert wird, lautet pointiert Simulacra and Simulation.

Auch die Tatsache, dass sich Baudrillard nachdrücklich von dem Film distanzierte, konnte nicht verhindern, dass er hier zu einer popkulturellen Ikone der Simulationstheorie stilisiert wurde, also jener Achtzigerjahre-Zeitgeist-Philosophie, die ihn alsbald selbst langweilte: „Ich möchte über die Simulation hinaus, der ich ganz müde bin; ich bin es ganz satt und möchte der Simulation entweichen.” (3)

Ich möchte aus diesem Grund auch nicht näher auf diese Theorie eingehen, nicht uneingeschränkt die Präzession des Simulakras Baudrillard vorantreiben, sondern noch einmal ein Moment aufgreifen, das bezüglich der eingangs erwähnten Anekdote bereits implizit thematisiert wurde. Das genannte Selbstzitat vermochte bezüglich Baudrillard zugleich Ermüdung und Faszination auszulösen, also einander ausschließende Regungen. In diesem paradoxen Zusammenfall einer konstitutiven Differenz scheint etwas zu liegen, dass geradezu typisch ist für die Theoriebildung Baudrillards, und das meines Erachtens ungleich spannender ist als die Simulation – auch wenn an dieser Stelle deutlich werden dürfte, warum diese nicht vollständig aus einem Diskurs zu Baudrillard heraus zu kürzen ist, denn was ist dieser Zusammenfall von Differenzen, diese Ent-Differenzierung anderes, als was Baudrillard die Indifferenz, die Austauschbarkeit von Werten nennt, die jeder Präzession ja erst vorausgehe?

Was die Philosophie eines Baudrillard uns dann aufs anschaulichste deutlich macht, ist nicht weniger als ex negativo auf die Konstitutionsbedingungen zeitgenössischer Theoriebildung selbst hinzuweisen, in ihrem Scheitern diese bis zur Implosion und Selbstaufhebung zu radikalisieren: „Alle Theorien flottieren und haben nur den Sinn, sich gegenseitig zuzuwinken.” Auch die polemische Attacke gegen Foucault scheint dann doch mehr Gehalt zu haben und mehr zu sein, als eine kalkulierte Provokation, der aus verschiedenen Gründen die Antwort fehlt, die freilich eingeplant war. „Warum Theorie?” heißt dann auch die Frage, die sich Baudrillard wiederholt explizit stellte. Seine eigene Antwort ist wohl nicht in diskursiven Sätzen zu finden, sondern vielmehr in Baudrillards eigener Art der ‘Lektüre’ von Medienereignissen im weitesten Sinne, seien es nun die Graffiti auf beschmierten U-Bahnen, die als nicht-semantische und nicht-leserliche Zeichen zirkulieren, die Erfahrung der Live-Übertragung des Golfkrieges oder zuletzt die Anschläge auf das World Trade Center: Theorie als letztes Mittel des unmöglichen Tausches von verlorenen Wirklichkeit einerseits und Medienwelt andererseits. „Die Symmetrie der Türme hat sogar ihre eigene Zerstörung berücksichtigt: eine zweifache Aggression in wenigen Minuten Zeitabstand. Suspens zwischen den beiden Einschlägen. Nach dem ersten konnte man noch an einen Unfall glauben. Erst der zweite machte klar, dass es sich um einen Terroranschlag handelte. Bei dem Flugzeugabsturz von Queens, einen Monat später, haben die Fernsehanstalten gewartet, sie sind (in Frankreich) vier Stunden lang auf Aufnahme geblieben, in der Hoffnung auf einen zweiten Absturz in Direktübertragung. Da dieser nicht stattfand, wird man nie wissen, ob es ein Unfall oder ein Attentat war.”

Dieser rücksichtslosen Radikalisierung entspricht auch die Tendenz Baudrillards, sich dem gänzlich Anderen zuzuwenden, auch dem anderen Selbst. Die beeindruckenden, zum Teil aphoristioschen Bände seiner Cool Memories bezeugen dies ebenso wie die zahlreichen Fotografien, die versuchen, in einer subjektlosen Illusion das Objekt durch das Bild zu selbst kommen zu lassen: „Es ist das Foto, das uns einem bilderlosen Universum, das heißt der reinen Erscheinung am nächsten bringt.” (4)

An Jean Baudrillard, der am 6. März 2007 in Paris verstarb, gibt es mehr zu entdecken und zu erinnern, so scheint mir, als die Hyperrealität.

 

Fußnoten

01 Zitiert nach http://books.guardian.co.uk/obituarues/story/0,,2028497,00.html (10.03.2007) (zurück)

02 Den Begriff der ‘sekundären Medien’ verwende ich hier behelfsweise und in Ermangelung eines adäquaten Ausdrucks. Gemeint ist das Phänomen, dass sowohl beim Videotext, als auch beim Internet eine mediale Rahumg vorliegt, die sich deutlich von der der Schrift unterscheidet. Während diese als solche wahrgenommen wird, bedarf es bei jenen einer medialen Umgebung, die sie erst sicht- und wahrnehmbar machen. Im einen Fall handelt es sich um die Austastlücke des Fernehbildes, im anderen um den Quellcode. (zurück)

03 So Baudrillard in einem Gespräch, das online unter http://www.cultd.net/baudrillard/frame.htm anzuhören ist. (zurück)

04 Eine Auswahl ausgestellter Fotografien bietet die Homepage der Neuen Galerie in Graz unter www.neuegalerie.at/99/baudri/bilder.html
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Verfasser: Johannes Schlegel, veröffentlicht am 01.05.2007

       

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