Elektronische Literatur / Internet / WWW /Medienwechsel / nichtlineare Erzählungen /Interactive Fiction /Infocom / Textadventure / Project Gutenberg / elektronische Schriftlichkeit


Timo Kozlowski

Gutenberg und die Spinnwebe



Abstract: Literatur und Computer – dieser Themenkreis soll hier angedacht werden. Ausgangsbasis sollen Überlegungen sein, inwiefern sich elektronische Schriftlichkeit von der papiernen unterscheidet. Im Anschluß daran werden zwei ältere Literaturprojekte im Internet vorgestellt. Der zweite Schwerpunkt sollen Adventures darstellen, vor allem natürlich Textadventures der frühen 80er Jahre, beispielsweise der Firma Infocom.


Wer sich zum ersten Mal im Internet in eine der Diskussionsgruppen wagt, der wird sich mit einer Subkultur beschäftigen müssen, die im Laufe der Zeit ein eigenes sprachliches Register und darüber hinaus eine Art von Kommunikation entwickelt hat, die sich als ein Gemisch aus gedruckter und gesprochener Sprache entpuppt. Die bunte Welt des World Wide Web (WWW) ist hingegen noch relativ jung, bietet dafür aber das schon von Hause aus, was im Usenet nur im Ansatz entwickelt ist: Vernetzung. Jedes Element einer WWW-Site - egal ob Text oder Graphik - kann als Verweis (Hyperlink) zu einer völlig anderen Stelle im Internet verwendet werden, im Gegensatz zum Use-Net, wo die Vernetzung durch die Abfolge der Diskussionsbeiträge festgelegt ist. Machen sich literarische Texte, die im WWW veröffentlicht werden, diese Möglichkeit zunutze? Und wenn ja, in welcher Weise?
Um diese Frage zu beantworten, ist es nötig, daß man sich zunächst bewußt macht, wodurch sich herkömmliche Texte auszeichnen.

1. Sie sind mit einem Trägermedium verbunden. Das kann sowohl ein Blatt Papier (oder dessen Weiterverarbeitung zu einem Buch) sein, als auch eine Statue (man denke nur an die Gattung der Epigramme) oder irgendein anderes Objekt, auf dem man Buchstaben anbringen kann. Nun kann man an der Stelle einwenden, daß es Texte gäbe, die nicht schriftlich festgehalten sind. Volksmärchen oder Volkslied zum Beispiel. Diesem Einwurf muß man die Märchensammlungen der Brüder Grimm oder Goethes Volksliedsammlungen im Elsaß etc. dagegenhalten, so daß man zu dem Schluß kommt, daß jeglicher Text, der nach seiner Entstehung nicht wieder vergessen wird, eines Tages unweigerlich einmal aufgeschrieben wird. Das Papier wird somit zu einer Erweiterung des Gedächtnisses, ein "materialisiertes Stück des Erinnerungsapparates, den ich sonst unsichtbar in mir trage", wie Freud es in der Notiz über den "Wunderblock" ausdrückte.

2. Derlei Texte sind in der Regel fest, das heißt unveränderlich. Wenn Änderungen durchgeführt werden, dann ist dies mit spürbaren Aufwand und Gerätschaften verbunden, als da wären beispielsweise der Radiergummi, das Tipp-Ex oder die Schere. Bei umfangreichen Veränderungen muß man oft den Text neu formulieren, so daß beim gedruckten Buch an der Stelle die "erweiterte" oder "verbesserte" Auflage fällig ist. Auch hier sind Einwürfe möglich. So mag man anführen, daß durch Textveränderungen Varianten entstanden sind, besonders in der Zeit vor Gutenberg und als Beispiel die mittelhochdeutschen Minnesänge in den verschiedenen Handschriften aufführen. Damit wirft man jedoch zwei Phänomene in einen Topf. Derlei Textvarianten entstehen bei der Abschrift, die wiederum das Ziel hat, den vorhandenen Text zu verdoppeln, daß man am Ende des Prozesses neben dem Ursprungstext noch eine Kopie hat, die sich an einzelnen Stellen unterscheiden kann. Der ursprüngliche Text hingegen wird dadurch ja nicht zerstört, sondern er existiert parallel zur Abschrift weiter, wie auch die veränderte Neuauflage eines Buches.

3. Sie haben eine lineare Struktur. Das bedeutet, daß man innerhalb der Texte Strukturen und den Aufbau analysieren kann. Wobei hier deutlich angemerkt werden muß, daß eine Unterscheidung zwischen dem Text selbst und dem Inhalt unabdingbar ist, denn wenn ein Autor eine Geschichte mittels Rück-, Vorblenden oder einem anderen Erzählmittel erzählt, bei dem die lineare Textstruktur aufgebrochen wird, so geschieht dies nur auf inhaltlicher Ebene. Daß die Abfolge der Zeichen selbst nur in einer Richtung hin sinnvoll funktioniert, daran ändert sich nichts.

4. Sie haben Anfang und Ende. Nach der letzten Zeile oder Vers ist ein Text zu Ende. Sonderfall ist der Textausschnitt, beispielsweise in Lesebüchern. Hier wird dieses Unterscheidungskriterium tatsächlich zu einem unscharfen, da durch Überschriften wie Auszug aus ... oder Fünftes Kapitel angedeutet wird, daß man es hier nur mit einem Teil des Ganzen zu tun hat und daß Anfang und Ende nicht endgültig sein müssen. Andererseits ist es aber auch möglich, den Textausschnitt ganz bewußt als fragmentarischen Text zu behandeln, der in seiner momentanen Form als autonom vom restlichen Text anzusehen ist, eben aus der Tatsache, daß er isoliert dasteht. Als Beispiel für einen Text, der auch außerhalb des Textganzen für sich steht, soll hier nur ein Beispiels aus Goethes Faust. Der Tragödie Erster Teil, in der Szene vor dem Tor genannt sein: Vom Eise befreit sind Strom und Bäche.

Ausgehend von diesen vier Punkten ist eine eigene Weltsicht entstanden, eine lineare, die im Gegensatz zu einer vernetzten Weltanschauung steht, wie man sie in vorschriftlichen Kulturen findet. Diese lineare Auffassung der Welt wird im WWW ad absurdum geführt. Hierzu ein Vergleich der eben aufgeführten Punkte mit dem Phänomen des World Wide Web.

1. Trägermedium: Digitale Medien benötigen ebenfalls ein Trägermedium, es stehen derer sogar mehrere zur Verfügung: Diskette, Festplatte, CD-ROM, etc. Der Unterschied besteht jedoch darin, daß diese Trägermedien nur mit Hilfe des Computers für den Menschen les- oder sonstwie verwertbar gemacht werden können. Die Daten auf Diskette oder Wechselplatte sind technisch gesehen als verschiedene Spannungen auf einer Magnetscheibe gespeichert und informationstechnisch betrachtet als eine für den Laien wirre Ansammlung von Nullen und Einsen. Erst der Computer als Zwischeninstanz macht daraus lesbare Daten, bevor sie wie ein gedruckter Text verwendet werden können. Ein interessanter Nebenaspekt ist, daß der Inhalt einer Datei auf einem Speichermedium nicht in chronologischer Form vorliegen muß. Ganz im Gegenteil: Je öfter man eine Datei abspeichert, in desto mehr Fragmente wird sie auf dem ganzen Speichermedium verteilt. Als Benutzer merkt man dies nur daran, daß der Computer länger zum Laden braucht, um die einzelnen Bruchstücke einer Datei zusammenzusuchen. Der Computer hat in diesem Falle also die Funktion, die gespeicherten Daten so zu organisieren und zu interpretieren, daß sie der Benutzer lesen kann. Dies wird einem spätestens dann schmerzlich bewußt, wenn man an eine Datei gekommen ist, mit der kein Programm auf dem eigenen Rechner etwas anzufangen weiß. Da es für den Benutzer im Endeffekt keinen Unterschied macht, ob die Datei auf Festplatte, CD-ROM oder Diskette vorliegt - der Zugriff findet mit der Maus immer auf dieselbe Art und Weise statt -, ist zu überlegen, ob man in diesem Zusammenhang nur von einem Trägermedium spricht, einer Art Meta-Trägermedium.

2. Unveränderlichkeit: Digital gespeicherte Texte lassen sich leicht verändern - vorausgesetzt man besitzt das entsprechende Bearbeitungsprogramm und die Zugriffsrechte. Bei einem Textverarbeitungsdokument ist dies meist kein Problem. Es gibt jedoch Dateiformate, für die man im Regelfall nur ein Programm zum Betrachten hat. Das PDF-Format für den Adobe Acrobat Reader ist so ein Beispiel. Beschränkt zählt auch das HTML-Format (Hypertext Markup Language) dazu, in dem die Seiten des WWW verfaßt sind, denn HTML-Dateien können zwar relativ simpel mit einem einfachen Texteditor bearbeitet werden, dazu muß man aber die HTML-Syntax und -Grammatik verstehen.

3. Lineare Struktur: Wie schon in [1.] angedeutet, sind Computerdaten auf Diskette oder Festplatte nicht unbedingt chronologisch und linear gespeichert. Der Computer arbeitet dieses Datengewirr aber so auf, daß sich Texte dem Benutzer zunächst prinzipiell mit einer linearen Struktur präsentieren, wie es zum Beispiel die Texte des Project Gutenberg tun. Beim Project Gutenberg handelt es sich um eine digitale Bibliothek, in der die Klassiker der Weltliteratur (in englischer Sprache, es gibt aber verschiedene nationalsprachliche Ableger, auch für Deutsche Literatur, das Project Gutenberg-DE im sogenannten Plain Vanilla ASCII-Format gespeichert sind, also als ASCII-Text mit reduziertem Zeichensatz (keine Umlaute) und ohne die Möglichkeit, Textteile wie im Original fett, kursiv oder mit einem anderen Texteffekt hervorzuheben. Der Grund: Michael Hart, Initiator des Project Gutenberg wollte, daß die Texte ohne Konvertierung auf allen Computern und mit allen Programmen gelesen werden können. Im WWW hebt sich diese lineare Struktur teilweise auf. Grund hierfür sind die Hyperlinks, die die einzelnen Dokumente des World Wide Web untereinander vernetzen, so daß tatsächlich eine Art Datenspinnwebe entsteht, oder ein Datenozean, auf dessen Wellen man surfen kann. Die einzelnen Elemente dieser Datenspinnwebe sind freilich auf herkömmliche Art und Weise linear strukturiert, erhalten aber durch die Vernetzung eine neue Qualität. Wo und wohin die Hyperlinks gesetzt werden, hängt dabei vom Autor ab, in der Regel allerdings werden thematisch verwandte Begriffe miteinander verlinkt, so daß sich dadurch thematisch zusammengehörige Datencluster ergeben, die mehr oder weniger homogen sind und die wiederum zwischen den einzelnen Clustern vernetzt sein können. Das einzelne Element der Datenspinnwebe findet sich also in einem stetigen Spannungs- und Konkurrenzverhältnis zum Rest des Webs. Zum Rest des Webs aus dem Grund, daß man nicht von einem Anfang und Ende des WWW sprechen kann. Es gibt selbstverständlich immer einen Startpunkt, an dem man zu surfen beginnt, aber man muß davon ausgehen, daß auch auf die Startseite von irgendwoher ein Link gesetzt worden ist. Die Vernetzung funktioniert also in mehr als nur eine Richtung.

Zwei Beispiele für literarische Texte in Hypertextform sind Martin Auers Lyrikmaschine von 1995 und Bernhard Kirschs Personal ZAP-Abenteueromanlandschaft Es geht schon irgendwie weiter V. 0.9ß aus dem Jahr 1994 und somit einer der ersten Romane im Web, der vom Autor leider nicht mehr gepflegt wird. Bei beiden Hypertexten werden die einzelnen Elemente durch thematisch zusammenhängende Links verknüpft, so daß die Trennung zwischen Autor und Leser verschwimmt: Die Art, wie man den Text liest, verändert den Text, dies wird bei Martin Auers Lyrikmaschine besonders deutlich. Hierbei handelt es sich um eine Sammlung von Gedichten, die untereinander verlinkt sind. Er beschreibt die Lyrikmaschine auf der Startseite folgendermaßen:
"Hast ist beim Durchwandern des poetischen Netzes nicht angebracht. Jeder Text kann von mehreren anderen Texten aus erreicht werden. Je nachdem mag ein Text auch andere inhaltliche Facetten zeigen, eine andere Geschichte erzählen.
[...]
Die Lyrikmaschine bietet mehrere Einstiegsmöglichkeiten in das poetische Netz. Ein Ausstieg wird nicht zur Verfügung gestellt. Es gibt keinen Endpunkt, keine Schlußpointe."
Anders dagegen Bernhard Kirschs Es geht schon irgendwie weiter, bei dem es sich um einen verästelten Roman handelt. Das Grundprinzip - Hyperlinks an bestimmten Stellen des Textes der Einzelelemente zu setzen - ist zwar dasselbe, wie sich die einzelnen Elemente aufeinander beziehen, darin unterscheiden sich beide Hypertexte. Bei Martin Auers Lyrikmaschine beleuchten sich die einzelnen Texte je nach Link aus einem anderen Blickwinkel, sie gewinnen verschiedenartige Facetten, Es geht schon irgendwie weiter bietet hingegen eine Art Grundstruktur, etwas wie eine Geschichte, so daß der Roman mit einem Textadventure vergleichbar ist. In der Tat wird diese Ähnlichkeit explizit an einer Stelle erwähnt:
"Die meiste Zeit hattest Du das Gefühl, daß Dein Leben vorherbestimmt ist wie ein Roman. Aber immerhin kam es schon vor. Ungefähr so oft wie ein einem gängigen Hypertext-Roman, viel seltener als in einem dieser klassischen Infocom-Textadventures aus der Gründerzeit der Homecomputer."
"Vielleicht findet dieses Gattung von Computerspielen [Textadventures] ja in erweiterten Hypertextromanen ihre Fortsetzung, im Moment sieht es noch nicht so sehr danach aus."
In diesen Textadventures hatte die Geschichte vor allem die Aufgabe einer Grundstruktur, einer Vorgabe, die mehr oder minder Möglichkeiten zur Variation zuließ. Wenn man sich die verschiedenen Programme von einer abstrakten Ebene aus betrachtet, dann hat der Spieler die Aufgabe, aus all den möglichen Varianten, wie man von einem Punkt der Geschichte fortfahren kann, die richtige herauszufinden. In ihrer Frühzeit kamen diese Adventureprogramme meist noch ohne Graphik aus; wie man in der Geschichte fortfahren wollte gab man mit der Tastatur als Befehl ein. Die möglichen Aktionen waren (und sind es meist bis heute) begrenzt, aber findige Spieldesigner - allen voran die der Hersteller Infocom und Magnetic Scrolls - schafften es mit look at, get, put, examine, etc. kniffelige Rätsel einzubauen. Als die Adventurespiele graphisch aufgepeppt worden sind, haben sie dann ihre unmittelbare Nähe zum Roman verloren und näherten sich dem Erzählkino an. Den dritten Indiana Jones-Film (Indiana Jones and the last crusade) kann man nicht nur als Graphikadventure daheim nachspielen, es gibt sogar einen vierten Teil nur als Computerspiel (Indiana Jones and the fate of Atlantis), in dem er sich auf die Suche nach Atlantis begibt.

Worin besteht aber der Unterschied zwischen den Textadventures und Bernhard Kirschs Es geht schon irgendwie weiter? Zum einen kann der Leser des Romans die Geschichte konkret beeinflussen, da der Autor auf der Startseite den Rezipienten dazu auffordert sich am Text zu beteiligen. Tim Berners-Lee hatte in der ursprünglichen HTML-Konzeption vorgesehen, daß Inhalte von WWW-Seiten von Surfern verändert werden können: "Mein ursprüngliches Konzept ging sogar noch weiter: Ich wollte, daß jeder im Netz Daten nicht nur lesen, sondern auch verändern oder ergänzen kann (Scriba, 1998) –, wohingegen der Spieler der Textadventures nur den vorgegebenen Variationen der Geschichte folgen kann. Daraus folgt, daß eine solche verhältnismäßig geschlossene Geschichte um einiges stringenter und dramaturgisch ausgefeilter erzählt werden kann als eine offene Geschichte, die jeder Leser erweitern kann, und die einen konkreten Start- nebst einem oder mehrere Endpunkte hat. Die Dramaturgie eines Computerspieles unterscheidet sich von Film und Buch insofern, daß der Spieler nur dann ins Geschehen eingreifen kann, wenn ein Rätsel gelöst werden muß. Dabei handelt es sich oftmals um Aufgaben im Sinne von: Bring Gegenstand A von Ort B nach C! Ein weiteres erzählerisches Manko ist, daß Beziehungen zwischen mehreren Personen eines Spiels eher schwer zu realisieren sind und in der Tat ist man oft als Einzelgänger unterwegs. Wenn es mehrere Personen gibt, dann zeigen sich schnell die Grenzen der Adventures. In Indiana Jones and the fate of Atlantis zum Beispiel oder anderen Spielen von Lucasfilmgames bzw. Lucas Arts wird dies stellenweise dadurch kaschiert, daß die Dialogteile mit sehr viel Witz geschrieben worden sind, mit gut gesetzten Pointen, aber man kann nur dadurch auf seine Gesprächspartner reagieren, indem man aus wenigen Antwortsätzen, die das Programm anbietet, einen herauspickt. Und diese Entgegnung wird meist mit denselben Worten erwidert, egal was man zuvor gesagt hat. In Spielen wie Resident Evil sticht diese Einschränkung sogar noch stärker heraus: Sämtliche Gespräche finden als Film statt, in den man nicht eingreifen kann. Helmer Bringsjord sieht gerade für solche Situationen die Möglichkeit, sein Schreibprogramm Brutus einzusetzen. Konsequenterweise sind es dann auch gerade nicht Adventure-Spiele, die den Weg auf die Leinwand oder in die Druckpresse finden, sondern Jump n' Run-Spiele wie Super Mario Bros. und vor allem Prügelspiele wie Mortal Kombat oder Street Fighter; und meistens wird aus einem Film ein Actionspiel, das manchmal nur entfernt an die Vorlage erinnert. Die Umsetzung eines Adventures (oder eines sonstigen Computerspiels) zu einem Roman ist nach meinen bisherigen Recherchen eine seltene Erscheinung. Auf mehreren Infocom-Adventures basiert eine ganze Reihe von Büchern, die um das Jahr 1988 bei Avon Press erschienen sind. Bei Infocom findet man eine Übersicht hierzu. Ein weiteres Beispiel, welches ich für Computertext zu Papiertext (zufällig) gefunden habe, ist das Buch The 7th Guest von Mathew J. Costello und Craig Shaw Gardner nach dem gleichnamigen Graphikadventure von Costello, welches ich leider nur vom Hörensagen kenne. Der umgekehrte Weg, also vom Buch zum Spiel, ist ebenfalls Ausnahme geblieben. Wieder von Infocom wäre die Umsetzung des Douglas Adams-Roman The Hitchhiker's Guide to the Galaxy zu nennen, welches von Steve Meretzky in Zusammenarbeit mit dem Autor zu einem klassischen Textadventure umgearbeitet wurde, Dave Leblings Umsetzung des Bestseller-Romans Shogun von James Clavell oder die Graphikadventures Discworld 1 und Discworld 2, die auf den Scheibenweltromanen von Terry Pratchett basieren.

Aber inwiefern gilt diese Beschreibung vernetzter Literatur auch für Elektronische Texte außerhalb des Internets oder für Elektronische Texte, die nicht vernetzt sind, wie es beispielsweise die E-Texte des Project Gutenberg sind. Die Rezeptionshaltung des Lesers ändert sich, wenn er Goethes Leiden des jungen Werther in einem Buch liest oder am Bildschirm. Clifford Stoll argumentiert in diese Richtung, wenn er Elektronische Bücher von gedruckten abgrenzt (siehe Clifford Stoll: Silicon Snake Oil, Chapter 11) und er sagt auch nichts Falsches - leider aber auch nicht alles. Ein Buch im Project Gutenberg hat im Gegensatz zum gedruckten Buch seine Einzigartigkeit aufgegeben. Dies ist ein genereller Unterschied zwischen digital und analog gespeicherten Büchern. Digitale Texte bestehen aus Nullen und Einsen, die uns der Computer zum einen in lesbarer Form darstellt und die zum anderen vollkommen identisch kopiert werden können. Analog gespeicherte Texte sind uns direkt zugänglich, ohne eine dazwischengeschaltete Interpretationsinstanz und können nicht vollkommen identisch kopiert werden. Zur Verdeutlichung ein Beispiel aus dem Bereich der Musik. Wenn man ein Musikstück von einem Tonband kopiert, von der Kopie wiederum eine Kopie herstellt und diesen Schritt mehrmals wiederholt, so stellt man fest, daß die Aufnahme von Kopie zu Kopie immer schlechter wird, da die analogen Musikinformationen immer nur Annäherungswerte an die Originaltöne sind, die auch immer nur annäherungsweise abgelesen werden. Als Anfang der 80er Jahre mit der CD Musik digital gespeichert werden konnte, ergab sich damit die Möglichkeit, Kopien herzustellen, die sich in nichts vom Original unterscheiden. Um die MiniDisc auf dem Markt einzuführen, griff Sony diesen Eigenschaft im Werbeslogan wieder auf: Jede Kopie ein Original! Nimmt man hinzu, daß digitale Daten mit den entsprechenden Programmen leicht bearbeitet werden können, bemerkt man im Vergleich zwischen Text und Musik ein ähnliches Phänomen: den Remix, bei dem schon vorhandene Elemente neu zusammengestellt (und eventuell durch neue ergänzt) werden und somit etwas Neues bilden. Dies ist zwar keine genuine Eigenschaft von elektronischen Texten, da beispielsweise William Bourroughs mit der Cut-up-Methode in Zusammenarbeit mit Brion Gysin schon 1959 eine Art von analoger Remixtechnik für Texte entwickelt hat, aber sie kam erst durch den Computereinsatz zur vollen Blüte.

Zu einer neuen Gattung hat sich die Elektronische Literatur bislang noch nicht entwickelt, wie sich beispielsweise die e-Mail vom Brief sprachlich unterscheidet. Durchsucht man das WWW nach literarischen Seiten, so sind Martin Auers Lyrikmaschine und Bernhard Kirschs Es geht schon irgendwie weiter bis jetzt noch in der Minderzahl, statt dessen findet man viele literarische Gehversuche junger Autoren, meist Lyrik und Kurzprosa, die die Möglichkeiten des Mediums weitestgehend außer acht lassen. Was damit aber noch nicht beantwortet ist: Unterscheiden sich Hypertext und Papiertext so sehr voneinander, daß es wenig sinnvoll ist, beides miteinander zu kombinieren? Am Beispiel der Adventurespiele hat sich ja schon gezeigt, daß die Dramaturgie eines solchen Spiels sich so sehr von derjenigen eines Films oder Buchs unterscheidet, daß es nur zu vereinzelten Medienwechseln kommt.
Natürlich wäre es ungerecht, Hyperfiction per se als mißlungenes Experiment der Literatur abzustempeln, da dieses Genre(?) gerade erst dabei ist, sich zu entwickeln. Jürgen Fauth stellt fest: "Many of the hyperstories found online are lacking in content and quality writing because the novelty of hypertext makes all other aesthetic concerns secondary". Besteht das ganze Problem also nur darin, daß die Autoren momentan zu sehr technikverliebt sind? Sollten die einzelnen Elemente eines Hypertexts so gut miteinander verschmelzen, daß sie vom Leser nicht mehr zu trennen sind oder sollten Hypertexte generell auf eine narrative Grundstruktur verzichten? Alle diese Fragen sind derzeit nur schwer zu beantworten, da sich die Inhalte im Web und die Hard- und Softwareentwicklung viel zu rasant entwickeln, als daß man dauerhafte Voraussagen entwickeln kann. Eines aber kann man auf jeden Fall sagen: Ob ein Text im HTML-Format in zehn, fünfzehn Jahren noch vom Computer dargestellt werden kann, ist fraglich.




Bibliographie, weiterführende Literatur und Links
McLuhan, Marshall: The Gutenberg galaxy. The making of typographic man. 10th ed. Toronto: University of Toronto press 1997.
Stoll, Clifford: Silicon Snake Oil. second thoughts on the information highway. New York: Double Day 1995.
Costello, Mathew J. und Craig Shaw Gardner: Der 7. Gast. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ute Thiemann. München: Goldmann 1996. (Die amerikanische Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel "The 7th Guest" bei Prima Publishing, Rocklin, California, USA.).
Schwimmen im Aquarium. In: Der Spiegel 40/1994.
Scriba, Jürgen: "Wer Müll findet, hat selbst schuld". Interview mit Tim Berners-Lee. In: Der Spiegel 30/1998.
Schmundt, Hilmar: Das Internet als Vergangenheitsmaschine. Eine Surftour de Force druch Mitte, Medien und Metaphern. In: Der Alltag. Die Sensationen des Gewöhnlichen. Band 73. September 1993. S. 129 - 139.
Althen, Michael: So ein Myst. In: Süddeutsche Zeitung Magazin ??/1997.
Project Gutenberg: http://promo.net/pg/.
Project Gutenberg-DE.
Fauth, Jürgen: Poles in your face: The promises ans pitfalls of Hyperfiction.
Behme, Hennings: Project Gutenberg et al. Literarische Texte digitalisiert. iX 5/95.
erweiterte Web-Version: http://www.ix.de/ix/raven/Web/9505/ProjGutenberg.html.
Auer, Martin: Lyrikmaschine.
Kirsch, Bernhard: Es geht schon irgendwie weiter V. 0.9ß.
Derrida, Jaques: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: ders.: Die Schrift und die Differenz. Aus dem Französischen von Rodolphe Gasché. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. S. 422 - 442.
oder In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. hg. von Dorothee Kimmich u.a. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1996 (=RUB 9414). S. 301 - 313.
Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Jens Ihwe (Hg.): Literatuwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Band 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft. II. Frankfurt am Main: Athenäum 1972. S. 345 - 375. Aus dem Französischen von Michael Korinman und Heiner Stück. Abgedruckt in: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hg. von Dorothee Kimmich u.a. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1996 (=RUB 9414). S. 334 - 349.
Freud, Siegmund: Notiz über den "Wunderblock". In: S.F. Gesammelte Werke. Band 14: Werke aus den Jahren 1925 – 1931. Hg. von Anna Freud u.a. 4. Auflage. Frankfurt am Main: S. Fischer 1968. S. 3 – 8. Abgedruckt in: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. hg. von Dorothee Kimmich u.a. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1996 (=RUB 9414). S. 171 - 176.



Ausführlichere Angaben zum Thema über Post und e-mail beim Verfasser: timo.kozlowski@stud.uni-bamberg.de

   


    

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