kulturelle Praxis Jugendlicher / Lebensformen / Mediennutzung / Surfen


Bernd Scheffer

Surfen als Form der Mediennutzung und als Lebensform.
Zur kulturellen Praxis Jugendlicher



Abstract: Mediennutzungen, vor allem in der kulturellen Praxis Jugendlicher, erfolgen kaum noch anhand von einzelnen Produkten mit Anfang und Ende, erfolgen nicht in klar zutage liegender Überlegenheit des einen oder anderen Mediums, sondern vollziehen sich als eine Art von Surfen im Medienmeer: Man startet nicht an einem vorgegebenen Punkt und hört nicht an einem vorgegebenen Ende auf, sondern man spielt sich ohne besondere Medienpräferenz und ohne größere inhaltliche Vorlieben ein in die anfangs- und endlosen und stets gleichermaßen gültigen Medienwellen.


'Surfen' ist in jedem Fall ernster zu nehmen als nur im Sinne eines modischen Schlagworts; auch 'zapping', 'browsing', 'switching', 'navigation' und 'channel-hopping' sind mehr als nur solche Formen der Mediennutzung, über die man noch Witze machen könnte. Was sich ändert oder schon geändert hat, ist, daß mittlerweile fast alles als Fortsetzung, als Serie oder 'merchandising' (als intermediale Fortsetzung und Verknüpfung) erscheint, nicht nur mit einer Stornierung von Anfang und Ende und entsprechend mit einer weiteren Auflösung jeden Werkbegriffs, sondern zu ändern wäre auch unsere autoritätsgläubige Kommunikations-Metaphorik von oben und unten, von hoher und niedriger Mediennutzung, von Oberfläche und Tiefe, von Innen und Außen, von Zentrum und Peripherie, von fiktiv und real, von organisch und mechanisch, von heiß und von kalt usw..

Was hätte ich statt 'surfen' sagen können: gleiten, flottieren, kursieren, vagieren, flanieren (aber da stelle ich mir immer ältere Herren in Flanell vor, und die sind ja gerade nicht gemeint), „schlendern statt verändern“, sagt Andrea Frank; nomadisch, dezentriert, deterritorial; das alles gibt es, das ist beschrieben worden.

Dieses Surfen tendiert, über die Art und Weise der Mediennutzung weit hinausgehend, dazu, Lebenspraxis zu charakterisieren: Die Autorität bestimmter Lebensprinzipien schwindet; alles ist im Fluß, kein Ziel ist per se wichtiger als ein anderes; so wird Arbeit (weil die Möglichkeit dafür ohnehin immer zufälliger wird) nicht mehr als 'Beruf(ung)', sondern als Gelegenheitsjob verstanden, einigermaßen unabhängig von der Art und von der Dauer der Tätigkeit; Freizeit und Arbeit werden verwechselbar, selbst bei Reisen ist das Ziel einigermaßen nebensächlich: 'last-minute-travelling'.

Surfen ist die Antwort auf die ohnehin nirgends mehr zu erzielende Autorität der Expertenrolle. 32 Karl-May-Romane konnte man, sich zum Fachmann bildend, lesen, als die Alternativen im Vergleich zu heute klein waren. 'Surfen' ist keine (Einzel-)aktivität einigermaßen überschaubarer, homogener Gruppen: die Wahrscheinlichkeit, daß die anderen gestern abend medial das gleiche gemacht haben, wird immer geringer. Bei der 'Mediensozialisation' gibt es charakteristische Veränderungen der jeweiligen Rollen von Familie oder auch Schule. Durch die Potenzierung der Zugriffsmöglichkeiten ist kaum etwas anderes denkbar als eben Surfen. - Keiner unterliegt noch unseren alten Zwangshandlungen, etwas von vorne nach hinten, von Buchdeckel zu Buchdeckel lesen zu müssen; das Diagonallesen von Primärliteratur erzeugt kein schlechtes Gewissen mehr.

Es gibt zahllose Belege dafür, vor allem auch in Jugendzeitschriften (etwa 'Spex'; 'Jetzt', dem Jugendmagazin der 'Süddeutschen Zeitung'), daß man problemlos vom Musikhören zum Lesen wechselt und das alles auch noch mit neuester Theorie verbindet: ganz selbstverständlich wird etwa Jacques Derridas Lektüre der Texte von Paul Celan als Begleittext zu einer Technomusik von Jeff Mills empfohlen; interessant dabei ist vor allem auch, daß das Niveau der drei Einzelteile durchaus nicht niedrig ist.

Wie ist das Surfen einzuschätzen - zwischen Warnung und Entwarnung? Was haben wir von Wissenschaftlern, Essayisten, Journalisten nicht alles schon gehört und gelesen: Fernsehen sei für Kinder eine schlimme Sucht, eine „Droge im Wohnzimmer“. Computer-Kids würden sozial verkrüppeln und glaubten starr an einfache Problemlösungen. Ich könnte jeweils die Verfechter solcher Einsichten nennen. Andere meinten wieder, Computer-Kids seien vorbildlich, denn sie würden die Schlüssel-Kompetenzen der Zukunft erwerben. - Angenehm an diesen Thesen ist vor allem ihr rapides Verfallsdatum, ihre äußerst kurze Halbwertszeit. Es hat sich herausgestellt, daß einige (durchaus nicht alle) Jugendliche ein starkes, aber völlig nebenwirkungsfreies Rückzugsbedürfnis haben - für einige Zeit: die Leseratte von einst (eine ja auch nicht eben freundliche Bezeichnung), Eskapismus mit dem Buch, dem Comic, dem Computer, dem Fernsehen.

Welche Umstände rechtfertigen es, von der kulturellen Praxis des Surfens zu sprechen, gar von surfenden Lebensformen? - Stets geht es dabei um die Beobachtung, daß alte, strikte Unterscheidungen abgeschwächt oder gar aufgelöst werden, daß alte, harte Grenzen niedriger werden oder gänzlich wegfallen. Beginnen wir mit den eher feinen Unterschieden und kommen dann auf die größeren zu sprechen:

1. Abschleifung von Text-Anfang und Text-Ende

Nur in denkbar äußerlicher Hinsicht haben Texte einen Anfang und ein Ende. Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist zunehmend deutlich geworden, daß zumal literarische Texte sich in einen Ablauf einspielen, der längst vor ihrem materiellen Anfang begonnen hat, und daß Texte, sofern sie andernorts aufgenommen werden, sich über ihr materielles Ende hinaus fortsetzen. Die bedeutsame Literatur des 20. Jahrhunderts ist über Anfang und Ende hinaus offen: grundsätzlich zitathaft, montageartig, fragmentarisch, aber auch enzyklopädisch, essayistisch, operierend an den Grenzen zur bildenden Kunst und zur Musik. Bekanntlich haben sich in diesem Zusammenhang auch die alten, harten Kategorien Autor, Werk, Leser abgeschliffen.

Wer sich die eben genannten, lange vorbereiteten Veränderungen der Textkonzepte vor Augen hält, der braucht das Internet und seine Hypertexte nicht zu sensationieren: Hypertext verdeutlicht nur. Hypertext macht die Rede vom Ausgangstext, vom Primärtext problematisch. Und der Autor ist allenfalls noch als Impulsgeber, aber nicht mehr als Kontrolleur seines/eines Textes präsent - bis hin zur Umstellung von Kausalität und Notwendigkeit auf Zufall. Die Vorgaben und die Nutzungsmöglichkeiten sind vermindert linear, vermindert kontinuierlich, vermindert narrativ, vermindert diachron usw. Es sind Komponenten des Surfens.

2. Abschleifen der verschiedenen Medienunterschiede

Abgeflacht, wenn freilich nicht völlig verschwunden, sind vor allem die Unterschiede zwischen den einzelnen Medien, die doch fast überall als erheblich und als äußerst spezifisch ausgegeben werden. Einigermaßen gleichgültig ist also, ob der surfende Jugendliche seine Lebensentwürfe nun anhand von Texten oder anhand von Tonkassetten, von Filmen oder Computerspielen durchprobiert; einigermaßen gleichgültig ist der spezifische Kanal und die daran gebundene spezifische Kommunikationsvorstellung. Zweifellos gibt es Formen der Medienkonkurrenz, besonders in den Entstehungsphasen neuer Medien, aber die Anschlußmöglichkeiten, die Koexistenzen und die Vernetzungen sind so vorherrschend, daß etwa das Lesen weder im guten noch im schlechten Sinne außer Konkurrenz läuft.

Die Behauptungen, alles, aber auch alles, wäre Text in einer endlos lesbaren Welt, diese Behauptungen sind sicher kein Triumph formaler Logik, aber sie machen doch Sinn in Opposition zu den kulturkonservativen, nicht selten aber völlig inkompetenten strikten Grenzziehungen zwischen Schrift- und Bildkultur. Auch wir erinnern an die 'strukturelle Erweiterung' des Textangebots durch Computer, Filme, Fernsehen, Comics, Video-Clips, die im engeren Sinne oft zwar nicht gelesen werden, aber dennoch (was durchweg übersehen wird) einen bestimmten Textstatus haben. Völlig zu Recht surfen Jugendliche über die einseitigen, falschen Prämierungen der Schriftkultur hinweg. Die alten Grenzen der Lesesozialisation sind großzügig zu öffnen in Richtung auf Mediensozialisation und allgemeine Sozialisation. Für das stets medial gestützte Probehandeln, das wohl einen nicht unerheblichen Teil unseres kognitiven und emotionalen Lebens ausmacht, wäre es also zunächst völlig gleichgültig, ob ich dafür nun lese, Kassetten höre, fernsehe, Video-Clips konsumiere, Computer spiele, der „oral history“ der Großmutter lausche oder real den Pferdepfleger bei seiner Arbeit bewundernd und neidvoll beobachte.

3. Verwischung der Grenze von Fikton und Wirklichkeit, von Wahrheit und Lüge

Das alte Problem der einst angeblich ziemlich klaren Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit hat sich verschoben: Viel eher müssen wir von der Indifferenz zwischen Fiktion und Wirklichkeit ausgehen und dann fragen, unter welchen Bedingungen eine behelfsmäßige, aber durchaus auch oft unentbehrliche Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit dann doch noch möglich ist. Der Surfer kann und darf beides austauschen. Selbstverständlich rührt ihn das Schicksal der „Lindenstraßen“-Mitbewohner eher als das seiner Nachbarn im eignen Haus. Aber das geht uns ja auch so.

Ein sicher nicht unerheblicher Teil der Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit hat ja ohnehin keine absolute Garantie, d.h., wir können nie vollkommen sicher sein, auf welcher der beiden Seiten wir uns jeweils tatsächlich befinden. Und eigentlich wollen wir es ja auch nicht. Nicht die Differenz von Fiktion und Wirklichkeit ist also das Kriterium für den Reiz der jeweiligen Mediennutzung, sondern die Verwechselbarkeit. Auch Erwachsene brauchen geradezu diese grundlegende Indifferenz: Die Angebote von Literatur und Film und Fernsehen, die Angebote der Medien, der Kunst überhaupt, sind - auf jedem Bildungsniveau, auf jedem sozialen Stand - gerade deshalb äußerst reizvoll, weil wir eben genau damit ein Stück Wirklichkeit und Fiktion verwechseln können und verwechseln dürfen, weil wir real träumen können, weil wir träumerisch durch die Realität wandern können, weil wir phantasieren können, usw.

Das Surfen ist grenzgängerisch, bewegt sich einmal auf dieser und einmal auf jener Seite, zeigt durch sich selbst, daß es mehr als zwei Seiten gibt, bewegt sich auf der Kippe, auf der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit und will gar nicht wissen, wo da genau die Linien der alten Unterschiede verlaufen. Was sagt der Surfer so schön, nun doch leicht zynisch: „Realität ist etwas für Leute, die mit Medien und Drogen nicht klarkommen!“

4. Abflachung der Unterschiede von Hoch und Tief, von Unterhaltung und Information, von Gut und Schlecht.

Viele alte Unterschiede zwischen Hoch- und Popularkultur sind geschwunden. Doch solche Nivellierungen haben nicht erst jetzt eingesetzt, wahrscheinlicher ist, daß sie erst jetzt bewußt werden, mit der notwendigen De-Emphatisierung, mit dem Imagewandel der Literatur. Vom Erhabenen zum Lächerlichen wird fortlaufend gewechselt: Die Grenzen von Sein und Schein und Design sind durchaus offen. Bildung, zumal in der Person eines Gebildeten, ist immer weniger gefragt. Die Jungen „(...) unterscheiden nicht mehr zwischen Hoch- und Subkultur, sie kennen sich in beiden Sphären aus. Sie hören Mozart und tanzen in der Techno-Disco; sie sehen Schlöndorff- und Helge-Schneider-Filme. Sie verachten die Prol-Kulturen nicht mehr, sondern sie übernehmen deren Symbole. Titel dieses Spiegel-Artikels: „Mieser Geschmack ist gut“. (Nr. 41, 9. 10. 1995) Es gibt keine Arbeiterbildungsvereine mehr, die noch nach Feierabend die Bildungsgüter des Großbürgertums erwerben wollten. Kunst und Kommerz sind Verpflichtungen eingegangen, von denen die alten Nutznießer der alten Mäzene nicht einmal zu träumen wagten.

Wer kein Geld hat, kann allerdings nicht surfen. Ist also Geld nicht im Sinne von Haben oder Nicht-Haben die einzige, die letzte harte Grenze, die immer noch besteht? Aber zumindest in unseren Breiten werden die geldlichen Grenzen von Haben oder Nicht-Haben ebenfalls fortlaufend verwischt: Die Banken leben ja davon, daß man mit dem Geld kauft, das man gar nicht hat.

Ich halte den Wunsch derer, die sich nach „emphatischen Beschränkungen des Ästhetischen auf seinen (alten) Kern“ (Bohrer) sehnen, für aussichtslos - und im übrigen auch nicht für wünschenswert. Man kann gegen den Surfer sagen, was man will (auch mir fällt eine Menge gegen ihn ein), aber er ist der erste wahrhaft friedfertige Typus: Er hat nichts, wofür er kämpfen und sterben will: weder militant noch militär; ohne Flower-Power-Blödigkeit und die Rund-um-Anmache für jeden vom Typ „Echt schön, daß es Dich gibt!“ Der Surfer ist nicht authentisch, zweifellos; dazu spielt er viel zu sehr herum, aber er ist im allgemeinen auch nicht zynisch, allenfalls dauer-ironisch. Nur bei den Eltern der Surfer findet man überall noch veraltete Reste eines Echtheitskults, eines Authentizitäts-Wahns, eine Ehrlichkeits-Doktrin, verbunden mit der strikten Weigerung, die Welt auch nur ansatzweise als Theater zu sehen, wo es um Spielen und Mitspielen geht, wo man sich selbst eingestehen muß, daß man u.U. mit künstlicher, gut inszenierter Aufregung, mit Werbestrategien also, mehr bewirkt als mit Echtheit.

Kunst und Literatur sind eher zugehörige als noch strikt getrennte Bestandteile einer Lebenspraxis, in der es fortlaufend auf kreative Konstruktion von Wirklichkeit ankommt. Der Gegensatz von Kunst und Wirklichkeit löst sich auf zugunsten von neuen Möglichkeiten: Kunst und Literatur werden jetzt weniger als emphatische Gegenentwürfe, als utopische Korrektive, als großartige Mythen, als phantastische Entschädigungen für fundamentale Mängel verstanden, sondern als selbstverständliche, alltägliche Demonstrationen der Irritation und Neukonstruktion von Wirklichkeit. Längst beschreibt das Surfen Lebensformen. Gilles Deleuze hat gezeigt, wie sich im Sport Gewohnheiten und Bewegungen ändern: Der Sportler ist nicht mehr der Ursprung einer Bewegung; in den neuen Sportarten wie Windsurfen, Drachenfliegen, Snowboarding, Bungee-Springen und Inline Skating fügt er sich in eine schon vorhandene Bewegung ein. Dieser Vorschlag ließe sich über den Sport hinaus ausweiten auf Lebens-Bewegungen.

Zu den zentralen Bedingungen des Surfens gehören die vielfältig benannten Raum-Zeit-Verschiebungen im gesamten Leben: Sicher scheint, daß sich die Surfer extrem gegenwärtig orientieren. Sie sind nicht nur geschichts-desinteressiert wie keine Generation zuvor (was übrigens auch Vorteile hat), sondern auch so wenig zukunfts-sorgend, so wenig über den Tag hinaus planend, wie wohl keine andere Generation zuvor. Verstärkt hedonistisch-orientiert leben sie voll im Hier und Jetzt. Gestern und Morgen sind medial gegenwärtig, und sie sind medial ins Gegenwärtige bis zur Ununterscheidbarkeit der Räume und Phasen integriert. Surfer entdecken sicher eher die Schnelligkeit als die Langsamkeit, immerhin haben sie gewisse begrenzte Möglichkeiten zur Tempokontrolle; nur Stillstand darf es, wie beim Zweiradfahrer, nicht geben.

Wenn Leben, wie es scheint, weniger planbar und in seinen Erwartungen weniger sicher geworden ist, dann ist die Umstellung auf Zufälligkeit, dann ist das Surfen in der Tat eine psychologisch gesehen wohl eher heilsame Lehre aus den skizzierten Gesellschaftsentwicklungen. Wer kann schon sagen: „Wenn Du das und das werden willst, dann mache die und die Ausbildung, danach wirst Du das und das dann auch sein...!“ Wer oder was bietet noch die alten Erwartungssicherheiten? Wer kann schon versprechen, daß äußerster Fleiß und energische Zielstrebigkeit sich in jeder Hinsicht lohnen, wenn für die Jugendlichen doch erkennbar ist, daß wir selber die eher abschreckenden Opfer dieser Prinzipien geworden sind. Wir hätten das Problem mit unseren Erwartungen, nicht sie. Zitat: „Sie sind nicht deshalb faul, weil sie dumm sind. Sondern sie tun nichts, weil sie schlau sind.“ (Cordt Schnibben im 'Spiegel'; 1994)

5. Abflachung des Unterschieds von Innen und Außen, von Mensch und Maschine

Wo beginnt oder wo endet das Surfen? Wo beginnt oder wo endet der Surfer? Beginnt der Surfer mit seiner Körperlichkeit, seiner biologischen Lebendigkeit? Endet er tatsächlich an der Hautoberfläche? Wäre für ihn ein Herzschrittmacher, von dem wir freilich hoffen, daß er ihn nicht nötig hat, ein Beweis dafür, daß er schon zu einer Maschine geworden ist? - Nach den ersten drei großen Kränkungen der Menschheit durch Kepler, Darwin, Freud, die jeweils die alten Erwartungen an Überlegenheit und Kontrolle destruiert haben, erfahren wir nun eine vierte Kränkung. Es fällt wirklich sehr schwer, alte tröstliche Grenzen von Innen und Außen, von Mensch und Maschine zu bewahren. Der Surfer hat gewisse Möglichkeiten der Temposteuerung und der Richtungsänderung, er mag auch während des Surfens den Rausch genießen, er sei es, der hier jetzt alles easy und cool mit Null Problemen im Griff hat, der externe Beobachter wird aber den Verdacht haben, daß der Surfer leicht zum Spielball von Wasser, Wind und Wellen werden könnte. Die Medien haben keine Fenster nach draußen mehr, in ihrer Selbstbezogenheit und als Selbstläufer sind sie nicht mehr umfassend auf diejenigen zurückführbar, die Medienprodukte herstellen oder die Medienprodukte nutzen.

Kann man dem Surfer vorwerfen, daß er keine Verantwortung übernimmt? Zwar übernimmt der Surfer Verantwortung bzw., besser gesagt, Engagement und Kompetenz nur innerhalb dessen, was auf seiner Linie und was innerhalb der jeweils gewählten Interessen liegt, aber das macht ihn auch zum Realisten. Verantwortlich ist man in den Gebieten seiner Kompetenz oder auf den Feldern, die man durchstreift. Und das war vermutlich immer schon so: genau deswegen funktionieren die humanistischen und sozialistischen Verantwortungsideale schlecht.

Nicht selten dominieren bei Surfern diffuse Gefühle, dominiert die Mitteilungsart die Information bis hin zu deren vollständigen Verschwinden. Aber so ähnlich geht es uns auch. Wir erinnern uns an kein einziges Argument, kein einziges Lernziel, das wir je mit Hans Joachim Friedrichs oder Ulrich Wickert erreicht hätten, aber wir können präzise empfinden, wie wir uns mit Ihnen gefühlt haben. Die Showbegabung qualifiziert mittlerweile den Politiker und entsprechend weniger seine Fähigkeit der Argumentation, des diskursiven Denkens. Allen Berichterstattern zufolge hätte das, was Lech Walesa je gesagt hat, meist keinen Sinn ergeben, aber es hätte stets ermutigend gewirkt; deutsche Beispiele erspare ich mir.

Niemand, der sich in den entsprechenden Feldern ein wenig kundig gemacht hat, wird ja inzwischen noch behaupten wollen, wir hätten einen direkten, klaren Blick von oben auf klar konturierte Dinge, auf Sachen, auf das Reale; wir hätten noch eine Art von Zentralperspektive, eine distinkte Subjekt-Objekt-Relation zu dem, was wir beobachten. Und es geht auch nicht mehr einfach so, daß wir denotativ etwas benennen und so gesehen weiter über den Dingen stehen und bis in die letzten Verästelungen oder Tiefen hinein sagen könnten, was Sache ist und wie sie zu ordnen wäre, sondern wir gleiten mit grundsätzlich konnotativen Benennungen an etwas vorbei, und das, was wir zu sehen und zu unterscheiden meinen, ist flüchtig und extrem abhängig von der Beobachtungart, die wir vollführen.

Es macht Sinn, sich auf die metaphorischen Möglichkeiten des Surfens zu besinnen: Die Welle ist 'easy' und 'cool', ist eben nicht an beiden Enden zu packen, es sei denn, wir hätten eine Kurbelwelle oder eine Kardanwelle in Händen. Nicht Räume, nicht abgeschlossene Welten, sondern Zwischenräume, Zwischenwelten, nicht Ereignisse, sondern Ereignisketten mit Gewohnheitseffekten: Ein Horrorvideo ist der Horror, aber für den, der 32 davon gesehen hat, ist es Kasperletheater.

(Jugendliche) Mediennutzer befinden sich nicht mehr subjekt-objekt-relational einem Medienprodukt gegenüber, sondern sie befinden sich eine Weile mitten im Strom, sie sind - bei visuellen Medien z. B. - eine Weile im wörtlichsten Sinne „im Bild“. - Anschlußmöglichkeiten ergeben sich aus Konzepten wie 'Netzwerke', 'Vielfalt', 'Integration', 'Mehrfachkodierung', 'Pluralität', 'Simultaneität' etc.

Seit Urzeiten ist der Hang zu beobachten, daß die Älteren stets die Kulturpraxis der Jüngeren denunzieren. In diese, ja unübersehbar gekennzeichnete Falle ist, trotz aller Warnungen, bislang noch jeder getappt (vielleicht erklärt es uns ja die Bioelektronik). Unsere Thesen haben alle vielleicht einen Fehler: Sie sagen einfach nicht oder zu wenig, daß das Allermeiste gleich geblieben ist. Welchen Einfluß haben wir auf die Surfer überhaupt noch? Soll ich jetzt sagen, es käme wirklich zunehmend darauf an, daß die Gegen-Show gut ist? Ich werde mich aber hüten, das auch nur zu denken.



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