Laura Schütz


Der Stellenwert des Symbolischen
in der kulturellen Verarbeitung von "9/11"


Abstract: Als am 11. September 2001 zwei Flugzeuge kurz hintereinander in die Zwillingstürme des World Trade Centers rasten und den Einsturz der 412 Meter hohen, 110-geschossigen Betongebäude verursachten, konnte dieses Schreckensszenario anfangs gar nicht realisiert werden, vielmehr erschien es wie eine Simulation des Grauens aus den Filmfabriken Hollywoods. "Wir haben die ersten Schreckensbilder der Television ästhetisch, mithin auch lustvoll und aus sicherer Distanz, erfahren." (Gorsen: 96) Der vorliegende Text thematisiert "9/11" als Symbolisierungsprozess.

Was sind Symbole? Welche Zeichen sind involviert?

Die Fotos und Filme der Katastrophe von "9/11" gehören zur Kategorie der "ikonischen Zeichen", denn "(...) sie erhalten bzw. ‚besitzen' ihre Bedeutung nicht aufgrund sozialer Konventionen, sondern aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu dem Gegenstand, auf den sie verweisen[.]" (Burkart: 47) Diese Ähnlichkeitsrelationen erweisen sich jedoch immer dann als problematisch, wenn etwas Ungewöhnliches, das sich nicht aus sich selbst heraus erklärt, abgebildet wird. Dann zeigt sich, dass auch jedes Foto und jeder Film in einem Kontext (ent-)steht und somit das Ergebnis eines Diskurses ist.

"In sozialwissenschaftlichen Experimenten wurde gezeigt, daß fotografische Bilder [...] systematisch einen ‚essentialistischen Trugschluß' beim Betrachter erzeugen. Er hält den Bildgehalt [...] nicht für einen Diskurs über die Realität, sondern für die Repräsentation der Realität selbst." (Meyer)

Bei den Bildern des "11. September" gab es jedoch eher einen gegenteiligen Effekt. Das Geschehen konnte von Anfang an genauso gut nicht als Realität, sondern als Fiktion, als Hollywoodfilm wahrgenommen werden. Die Ähnlichkeitsrelationen, die in den Köpfen der Betrachter entstanden, bezogen sich auf längst visualisierte cineastische Katastrophenszenarien. Dies konnte sogar zu einer "realpolitischen Verwechselbarkeit von Fiktion und Realität" (Scheffer:2) führen. So ließ sich beispielsweise die US-Regierung nach dem 11.September 2001 bezüglich der aktuellen Terror-Bekämpfung von führenden Regisseuren und Drehbuchautoren beraten (vgl. Scheffer: 8f.).

Wodurch zeichnet sich eine "symbolische Politik" aus, die derartige Vermischungen erst möglich macht?

"Symbolische Politik (1) trägt der Tatsache Rechnung, daß jedes politische Phänomen erst als Deutung Realität wird. Insofern ist symbolische Politik nicht oder nicht immer eine Ersatz- oder Täuschungshandlung, sondern eine sinnproduzierende Reduktion gesellschaftlicher Komplexität, welche Kommunikatoren und Rezipienten im Prozeß der Politikvermittlung Orientierung ermöglicht." (Sarcinelli 1998: 438)

Die politische Realität ist hier gewissermaßen gedoppelt: Alle politischen Handlungen und Ereignisse haben neben den tatsächlichen Effekten der politischen Handlung noch eine expressive Dimension bzw. einen dramaturgischen Symbolwert (die Darstellung der Handlung für die Öffentlichkeit). (2) Die Vermittlung von Politik in den Massenmedien geschieht entweder in Form "mediatisierter Ereignisse" (also mediengerecht überformter und strategisch geplanter Ereignisse der "materiellen" Politik wie Auslandsreisen, Parteitage) oder als "Pseudo-Ereignisse", die ohne die Präsenz der Medien gar nicht stattfänden, wie etwa Pressekonferenzen oder Demonstrationen. Das steigende Ausmaß politischer Inszenierung und symbolischen Handelns zuungunsten des sach-orientierten Handelns hat erstens eine "regressive" (vereinfachende), zweitens eine "nomische" (ordnungsschaffende) und drittens eine "affektive" (gefühlsbetonende) Funktion (vgl. u. a. Sarcinelli 1987). Als Beispiel kann das gemeinsame Auftreten zweier Politiker nach einem Staatsbesuch herangezogen werden. Es bringt die vorangegangenen Diskussionen auf den Nenner: "Einigkeit und positiver Verhandlungsausgang".

Visuelle Symbole

Die Bilder des 11.9.2001 sind so tief in den Köpfen der Menschen verankert, dass ein Foto ausreicht, um den ganzen Sinnzusammenhang der Katastrophe herzustellen. Dieses Bild hat dann

"(...) den Einzelfall überstiegen, es spricht nicht mehr von diesem oder jenem Individuum, sondern es drückt Begriffe aus. Es ist singulär, aber es verweist zugleich auf andere Bilder, die ihm vorausgegangen oder gefolgt sind und es nachgeahmt haben. Jedes dieser Fotos kommt uns vor wie ein ganzer Film, den wir gesehen haben und der wiederum auf andere Filme verweist, die es zitieren." (Eco: 218)

So bleiben von "9/11" (eintreffendes Flugzeug, Menschen springen aus den Fenstern in den Tod, sich ausbreitende Rauchwolke, etc.), ebenso wie beispielsweise von den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua im Juli 2001 (Blutlachen in der Unterkunft der Globalisierungsgegner, Polizeiauto, das Carlo Giuliani überrollt, vermummte Demonstranten im Tränengasnebel, etc.) entweder bewegte oder mehrere panische, hektische und unorganisierte Bilder in den Köpfen verankert. Wird mit der Digitaltechnik der Symbolcharakter von Bildern verstärkt? Diedrich Diederichsen hat in diesem Zusammenhang das Pressefoto des toten Carlo Giuliani (3) analysiert, der während der Demonstrationen in Genua erschossen wurde:

"Man fragt sich, ob das wirklich so war, oder nur so aussieht, weil solche Bilder von Extremsituationen heutzutage von kleinen motorisierten Kameras fast so schnell wie Filmbilder geschossen werden und daher extrem unorganisiert sind, von der Serie leben und chaotische und kontingente Ausschnitte produzieren. Während früher selbst Fotos von Ausnahmesituationen immer noch ein bißchen kadriert und komponiert wurden - wie zum Beispiel damals, als Benno Ohnesorg geborgen wurde." (4) (Diederichsen: 24)

Können diese Bilder trotzdem Symbolcharakter tragen? Die Bilder des "11.9." sprächen dafür. Diederichsen zieht eine negative Bilanz: "In diesen Horror ist man also plötzlich hineingeraten, wie in eine noch nicht symbolisierte neue Realität." (ders.: 24)

Während der erste Einschlag in den Nordturm des World Trade Centers nur in Form von Amateur-Videoaufnahmen festgehalten werden konnte, waren zum Zeitpunkt des Einschlags in den Südturm bereits mehrere Fernsehstationen vor Ort. Der zweite Einschlag konnte live gesendet werden. "Zu den verschiedenen Waffen, welche die Terroristen dem System entwendet und gegen ihre Besitzer gerichtet haben, gehört die Echtzeit der Bilder, ihre sofortige Verbreitung auf allen Kanälen. Sie haben sich der Medien ebenso bedient wie der Börsenspekulation, der Informatik oder des Flugverkehrs." (Baudrillard: 61f.) Doch anstatt die zugleich mit der Echtzeit erwartete Authentizität zu vermitteln, überwog die Faszination für die Bilder. "Am Anfang war das Bild, und erst dann kam der Schauder des Realen." (Baudrillard: 62) Zunächst wirkt die reine Sinneswahrnehmung (‚Sensation'); erst später setzt die Reflexion ein. Auch die ständigen Wiederholungen verhalfen dem Geschehen nicht zu einer Darstellung, die ohne Mühe als "realistisch" akzeptiert werden könnte, sondern hatten eher gegenteiligen Effekt, den der Filmwissenschaftler Georg Seeßlen als "Entwirklichung" bezeichnet. "9/11" ähnelt somit eher dem Format eines Videoclips, dessen Qualität in ästhetischen Kategorien messbar ist. Diese Tendenz verstärkt sich durch die vor allem in der späteren Berichterstattung vermehrt auftretende Untermalung der Bilder mit einer passend erscheinenden, emotionalisierenden Klang- und Musikkulisse. Das reale Geschehen bekommt damit endgültig Spielfilmqualitäten.

"9/11" im Kontext vorangegangener Hollywood-Filme

Dass die Bilder von "9/11" als so irreal und wenig authentisch aufgefasst wurden, liegt nicht nur an der Art der Berichterstattung. Verschiedene Filme, die Jahre vor dem 11. September 2001 entstanden sind, nehmen das Szenario vorweg:

"Eigentlich ist es falsch, zu sagen, die Anschläge vom 11. September seien gänzlich unvorstellbar gewesen. Eher müsste es heißen, daß das in Filmen längst Vorstellbare und Sichtbare nur zu einem bis dato unvorstellbaren Schauplatz gewechselt hat, mit freilich tödlichen Real-Konsequenzen." (Scheffer: 6f.)

Als etwa "Neo", der Held in "Matrix" (1999) in der "wirklichen Wirklichkeit", in einer trostlosen Landschaft voller ausgebrannter Ruinen - den Resten einer Stadt nach dem globalen Krieg - erwacht, wird er von Morpheus, dem Anführer des Widerstands, mit dem ironischen Satz: "Willkommen in der Wüste des Realen" begrüßt.

"Was am 11. September in New York geschah, war das nicht etwas ganz Ähnliches? Den Bürgern dieser Stadt wurde 'die Wüste des Realen' vor Augen geführt - und wir, die von Hollywood Verdorbenen, konnten bei den Aufnahmen, die wir von den einstürzenden Türmen sahen, nur an die atemberaubenden Szenen der großen Katastrophenfilme denken." (Žižek: 132)

Der Journalist Michael Althen ging sogar noch einen Schritt weiter: "Im Grunde sah die Wirklichkeit so schrecklich unprofessionell aus, daß wir nicht an sie glauben mochten. Man hatte das - man verzeihe den Ausdruck - tausendmal besser gesehen." (Althen, zit. n. Gözen) Die Reihe der Filme, die nach "9/11" anders wirken, andere Assoziationen hervorrufen, ist sehr lang, exemplarisch können folgende Filme genannt werden: In "Flammendes Inferno"(1974) werden bei einem Hochhausbrand in New York bereits die heldenhaften Feuerwehrmänner gefeiert und die prophetisch erscheinende Aussage getätigt, dass man in dieser Nacht mit weniger als 200 Toten noch Glück gehabt habe, dass aber Zeiten kämen, in denen Tausende von Opfern zu beklagen seien. Am Ende von "Fight Club" (1999) stürzen in Folge eines Terroranschlags Zwillings-Türme in sich zusammen. In "Der Ausnahmezustand" (1998) verüben arabische Terroristen eine Reihe von Anschlägen. Zweifelsohne stehen die Actionfilme durch ihren Unterhaltungscharakter in einem anderen Kontext, jedoch wird der gleiche Erzählstrang, dem die Bilder in Actionfilmen folgen, auch auf die Realität angewendet.

"Wir kennen die Bilder, die wir vom Geschehen in New York über das Fernsehen erhalten haben. Das gekaperte Flugzeug voller verzweifelter Menschen auf einem 'Flug in den Tod'. Das in Flammen stehende Hochhaus. Die in Schutt und Asche fallende Metropole, die fliehenden Menschen. Wir kennen diese Bilder aus dem Kino so gut, dass ihre Wiederkehr in der Wirklichkeit wie ein Phantasma zweiten Grades wirkt. Wir haben das alles schon, einzeln und als Kollektiv, geträumt. Das heißt: Wir haben es auf eine besondere Art 'gewusst'." (Seeßlen, zit. n. Gözen)

In den Köpfen der Menschen sind also eine Reihe von Bildern vorbewusst vorhanden. Das vermeintliche Wiedererkennen der Bilder in der Realität bezeichnet Georg Seeßlen als Déjà-Vu (vgl. Seeßlen/Metz: 19).

Filme nach dem 11.September

In den nachfolgenden filmischen Verarbeitungen wird "9/11" wieder in einen fiktiv-narrativen Handlungsstrang integriert. Bislang stellt der Film "Zero Hour - The Last Hour of Flight 11" die wohl extremste Vermischung von Fiktion und Realität dar. Hier wird die letzte Stunde in der Maschine der "American Airlines Flight 11" vor dem Einschlag in den Nordturm des World Trade Centers rekonstruiert. Die eingeblendete Uhr mit der Echtzeit des Geschehens und die nach Originalbildern von den Attentätern und Fluggästen gecasteten Schauspieler suggerieren Authentizität. Die Fernsehkritikerin der "Welt am Sonntag" hat mit derartigen "Dokufiktionen" keine Probleme:

"Kein sogenannter Experte verbreitet hier verschwurbelte (5) Theorien, im Vordergrund steht die nackte menschliche Tragödie. Auch wenn einige rekonstruierte Szenen [...] und die Robert-de-Niro-Stimme von Sprecher Christian Brückner ein wenig Hollywood-Stimmung verbreiten: Der Authentizität tut dies keinen Abbruch" (zit. n. Seeßlen: 22)

Kulturelle Unterschiede in der Verarbeitung von "9/11" zwischen Amerika und Deutschland

Auch sogenannte Tatsachenberichte einzelner Beteiligter arbeiten mit Inszenierungen und Symbolisierungen. Der von Richard Picciotto, einem Chief der New Yorker Feuerwehr, verfasste Erlebnisbericht "Unter Einsatz meines Lebens. Ein New Yorker Feuerwehrmann im World Trade Center" liest sich wie ein apokalyptischer Thriller. Dies kommt nicht von ungefähr: Ko-Autor Daniel Paisner hat schließlich auch schon die Lebensberichte von Anthony Quinn und Whoopi Goldberg in die richtige Form gebracht. Tatsachenberichte werden patriotisch getrimmt, werden gleichsam in die amerikanische Flagge gehüllt, und die "Stars and Stripes" werden fortlaufend direkt beschworen (und bekanntlich sind Flaggen ja das politische Symbol schlechthin).

Auch die deutsche "Verarbeitung" des 11. September orientiert sich an Symbolen. Türme (und Hochhäuser) symbolisieren von je her einen Herrschaftsanspruch und sind Sinnbild der etablierten Weltordnung. Ihre Zerstörung weist demnach immer auch über den manifesten Schaden hinaus und trifft zudem das Wesen von dem, was sie symbolisieren. In der deutschen Rezeption von "9/11" stand von Anfang an die symbolische Qualität des WTC als "Zentrum der kapitalistischen Ausbeutung" und nicht die menschliche Katastrophe im Mittelpunkt: "Die Proteste gegen die Globalisierung waren ja eigentlich Proteste gegen die weltweite Amerikanisierung. Ich bedaure nicht, dass das Symbol der Twin Towers nicht mehr steht, weil sie kapitalistische Arroganz symbolisieren." (Wolfgang Joop im "profil", zit. n. Broder: 76)

Sogar die phallische Symbolkraft des WTC blieb nicht verborgen:

"Wenn sich arabische Männer gedemütigt fühlen, verwandeln sie sich zu Killermaschinen, zu Rächern im Namen des Propheten. Zuerst haben sie ihre Rache auf die eigenen Frauen gerichtet. Sie haben sie verhöhnt und ins Mittelalter zurückgestoßen. Dann sind sie zur globalen Rache geschritten und haben mit der Zerstörung der phallischen Symbole des WTC einen Auftakt gesetzt. Der 11. September ist ein Resultat männlichen Frusts, die Religion dient für diesen Krieg nur als Vorwand. Es fehlt nicht viel, und dann wird Bushs Krieg auch noch heilig." (Joop zit. n. Broder: 77)

Die phallokratische Deutung stellt zwar eine skurrile Ausnahme dar, das WTC als "kapitalistische Kommando-Zentrale" war jedoch ein gängiger Topos in den deutschen Kommentaren.

"Amerika" gilt ohnehin als das Symbol kapitalistischer Herrschaft:

"'Amerika' ist zu einem allgegenwärtigen negativen Symbol im Westen des Kontinents geworden. [...] Die USA gelten als gefährlich, kommerziell, undemokratisch, intolerant, unsozial, krude, religiös, puritanisch, vulgär - als das genaue Gegenteil dessen, was die Europäer von sich selbst denken und wie sie sich gerne vor- und darstellen." (Markovits:118)

"Amerikanisierung" wird mit "Kapitalisierung" und "Globalisierung" gleich gesetzt. Dass der Kapitalismus auch als Herrschaftsinstrumentaufgefasst werden kann, dessen brutale Verwertungslogik sich ebenso in Europa zeige, wird dabei geflissentlich übersehen. Besonders erschreckend ist, dass gerade die intellektuellen "Eliten" für diese vereinfachende Gleichsetzung des Kapitalismus mit Amerika zu haben sind. (vgl. Markovits: 53f.)

Auch radikale Anleihen aus der Holocaust-Symbolik, werden nicht gescheut: "Der Unterschied ist, daß die Nazis vorhatten, Europa zu besiegen; die Amerikaner aber wollen die ganze Welt besiegen." (Peter Zadek, zit. n. konkret 8/2003, S. 11) Antisemitismus in der Beurteilung von "9/11" zeigt sich in drei wesentlichen Variationen: Erstens werden die Anschläge als direkte Reaktion auf die amerikanische Unterstützung Israels bewertet. (Vgl. z.B. Joop). Zweitens wird zuweilen öffentlich behauptet, Mossad und CIA hätten die Anschläge gemeinsam geplant. "Es wäre vermessen, Vorgeschichte und Tat des 11.9. in allen Einzelheiten ohne Hilfe aus den Riesenapparaten des FBI, der CIA, der NSA oder des Mossad aufklären zu wollen." (Andreas von Bülow, zit. n. konkret 10/2003, S. 20)

Die dritte Variante behauptet, dass eine "jüdische Weltverschwörung" selbst hinter den Anschlägen stecke. Horst Mahler, Holocaust-Leugner und aktiver Rechtsextremist, bemerkte mit eben diesem Hintergedanken: "Auffällig ist natürlich, dass ganz wenige Juden umgekommen sind." ("Panorama", ARD, 21.8.2003) Diese antisemitische Deutung der Ereignisse wurde durch den Vergleich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands ergänzt. So verglich der Chefredakteur der "Jungen Welt" den Terroranschlag vom 11.9.2001 bereits einen Tag später mit dem Reichstagsbrand von 1933 und behauptete, "die Amerikaner würden diesen [Tag] für sich ebenso nutzen wie einst die Nationalsozialisten jenen." (zit. n. Woeldike: 332) (6). Die Schauspielerin Käthe Reichel warnte auf einer Friedensdemo am 13.10.2001 in Berlin vor einem "demokratischen Auschwitz" in Afghanistan. (vgl. Broder: 74) Der Geschäftsführer des Netzwerkes Friedenskooperative, Manfred Stenner, meinte sogar nicht trotz, sondern gerade wegen der "eigenen überwundenen Geschichte" zu erkennen, wer das "nächste Auschwitz" plane (vgl. Woeldike: 334). Die Journalistin Andrea Woeldike kommentiert diese Art der deutschen Vergangenheitsbewältigung: "Der Buchenwald-Schwur der Überlebenden, >Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!<, war endgültig instrumentalisiert worden. Nun hieß die Parole: >Nie wieder amerikanische Kriege! Und wir definieren was Faschismus ist!<" (Woeldike: 334f.) Die Symbole des Nationalsozialismus wurden umgedeutet - zum Beispiel waren auf einer US-Flagge die Sterne durch Hakenkreuze ersetzt; Bildern von George W. Bush mit Hitlerbärtchen waren zu sehen oder Transparente mit der Parole "USA und 3.Reich - Ihr seid euch ja so gleich." (7) .

Fazit

Dokumente, Informationen über Katastrophen sind längst in symbolische Bilderwelten integriert: In der Folge der Katastrophe des 11. Septembers und ihrer Verarbeitung wurden und werden unverhohlen alte Mythen abgerufen und neue Bilder und Symbole entworfen. Dieses Ereignis ist geradezu zu einem Paradigma dafür geworden, wie Ereignisse sich in Symbole - mit welchen Absichten auch immer - verwandeln lassen.

Fußnoten

  1. Während der Begründer der Theorie, Murray Edelmann, den Terminus "Politische Symbolik" bevorzugt, verwendet Ulrich Sarcinelli "Symbolische Politik". Da es bisher nur widersprüchliche Begriffsabgrenzungen gibt, werden beide Begriffe alternativ verwendet. (top)
  2. Vgl. u.a. Edelman, Murray: Politik als Ritual. Die Symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns. Frankfurt am Main/New York 1974. (top)
  3. Reuters-Foto von Dylan Martinez, u.a. in: Jungle World Nr 31/2001, S. 24. (top)
  4. Ullstein-Foto vom 2.6.1967, u.a. in: Proll, Astrid (Hg.): Hans und Grete / Die RAF 67 - 77. Hamburg 1998, S. 20f. (top)
  5. Wie das von Eckhart Henscheid geprägte Adjektiv "verschwurbelt" in den WamS-Sprachgebrauch übergegangen ist, bleibt schleierhaft. Es könnte allerdings als Retour-Kutsche der 1964-1976 in der Satirezeitschrift "pardon" veröffentlichten Reihe WimS ("Welt im Spiegel") gemeint sein. (top)
  6. Auch ohne diesen drastischen Vergleich zu bemühen, waren laut einer Umfrage der Zeit im Sommer 2003 ein Drittel der Deutschen unter 30 (20% aller Deutschen) überzeugt, dass die US-Regierung die Angriffe in Auftrag gegeben habe. Vgl. Bittner. (top)
  7. vgl. u.a. konkret Heft 3/2003, S. 15. (top)

Literaturverzeichnis

Baudrillard, Jean: Der Geist des Terrorismus. Das Abendland, das die Stelle Gottes eingenommen hat, wird selbstmörderisch und erklärt sich selbst den Krieg. In: Hoffmann, Hilmar; Schoeller, Wilfried F. (Hg.): Wendepunkt 11. September 2001. Terror, Islam und Demokratie. Köln2 2002, S. 53-64.

Bittner, Jochen: Umfrage: Blackbox Weißes Haus - Je komplizierter die Weltlage, desto fester glauben die Deutschen an Verschwörungstheorien. In: Die Zeit vom 31.7.2003.

Broder, Henryk. M.: Kein Krieg, nirgends: Die Deutschen und der Terror. Berlin 2002.

Burkart, Roland: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft. Wien, Köln, Weimar4 2002.

Diederichsen, Diedrich: Evidenz-Choc. Das Foto des erschossenen Carlo Giuliani zeigt den Horror einer neuen, noch nicht symbolisierten Realität. In: Jungle World Nr.31/2001, S. 24.

Eco, Umberto: Über Gott und die Welt. Essays und Glossen. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München3 1985.

Gorsen, Peter: Ästhetik der Gewalt. Medienanalytische Reaktionen der ersten Stunde. In: Hoffmann, Hilmar; Schoeller, Wilfried F. (Hg.): Wendepunkt 11. September 2001. Terror, Islam und Demokratie. Köln2 2002, S. 96-107.

Gözen, Jiré Emine: Mythos und der 11. September 2001. Turmsymbolik in visuellen Medien. Zit. n. http://www.nolovelost.com/jire/11september.html (10.1.2005). (Hausarbeit am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der JWG Universität Frankfurt. November 2002)

Jour fixe-initiative berlin (Hg.): Geschichte nach Auschwitz. Münster 2002.

Markovits, Andrei S.: Amerika, dich haßt sich's besser. Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa. Hamburg 2004.

Meyer, Thomas: Repräsentativethik und politische Kultur. Zit n. http://www.zlb.de/projekte/kulturbox-archiv/buch/meyer.htm (29.12.2002). (Reprint aus: KULTURBOX (Hg.): Kunst, Symbolik und Politik. Berlin 1995.)

Picciotto, Richard; Paisner, Daniel: Unter Einsatz meines Lebens. Ein New Yorker Feuerwehrmann im World Trade Center. München 2002.

Sarcinelli, Ulrich: Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischen Handelns in der Wahlkampfkommunikation der Bundesrepublik Deutschland. Opladen 1987.

Sarcinelli, Ulrich (Hg.): Politikvermittlung und Demokratie in der Mediengesellschaft.
Beiträge zur politischen Kommunikationskultur. Bonn 1998.

Seeßlen, Georg: Fressen für die Geier. In: literatur konkret. 11.9. Das Buch danach. Nr. 27, 2002/2003, S. 20-23.

Seeßlen, Georg; Metz, Markus: Krieg der Bilder. Bilder des Krieges. Abhandlung über die Katastrophe und die mediale Wirklichkeit. Berlin 2002.

Scheffer, Bernd: Der 11. September und die USA als Teil Hollywoods. Zur realpolitischen Verwechselbarkeit von Fiktion und Realität. In: http://www.medienobservationen.lmu.de/artikel/kino/september.html (20.11.2004)

Woeldike, Andrea: Deutscher Antiamerikanismus und der Irakkrieg. In: AStA der Geschwister-Scholl-Universität München (Hg): Spiel ohne Grenzen. Zu- und Gegenstand der Antiglobalisierungsbewegung. Berlin 2004, S. 319-335.

Žižek, Slavoj: Willkommen in der Wüste des Realen. Nach den Anschlägen von New York und Washington wird Amerika gezwungen, die Welt so wahrzunehmen, wie sie ist. In: Hoffmann, Hilmar; Schoeller, Wilfried F. (Hg.): Wendepunkt 11. September 2001. Terror, Islam und Demokratie. Köln2 2002; S. 131-139.



Verfasserin:Laura Schütz ; Datum der Veröffentlichung: 27.01.2006
   


 
    Sämtliche Beiträge dürfen ohne Einwilligung der Autoren ausschließlich zu privaten Zwecken genutzt werden. Alle Rechte vorbehalten.
© Medienobservationen 2006.