Bernd Scheffer
Irakkrieg - welchen Verschwörungstheorien
soll man den Vorzug geben?
Deutungslose Welt-Zeichen und Coolness
Anlässlich der Gefahr oder sogar
dem Beginn eines neuerlichen Golfkriegs wissen wir erneut nicht, was in
Wahrheit läuft, sondern können eigentlich nur noch entscheiden,
welchen Verschwörungstheorien wir jeweils den Vorzug geben sollen
- den amerikanischen, den (alt-) europäischen oder den von vornherein
anti-amerikanischen. Zwar kennen wir eine lange Vorgeschichte der realen
Inszenierungen und Fingierungen, der Gerüchte und Verleumdungen,
der Verschwörungstheorien und der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen
(gerade in Krisen-Zeiten), und es ist wohl auch möglich zu behaupten,
diese Vorgeschichte sei ohnehin so lang wie die jeweilige Geschichte selbst,
aber erleben wir jetzt, trotz der globalen Medienpräsenz oder gerade
erst wegen ihr, drastische Ausweitungen und Steigerungen dieser längst
bekannter Effekte? Schon der erste Golfkrieg
war in einer bis dato einmaligen Weise unbeobachtbar, und je mehr wir
nachträglich über diesen Krieg erfahren, desto zweifelhafter
erscheint die Lage an seinem Beginn, in seinem Verlauf und vor allem an
seinen Ende (das offenbar doch kein „richtiges“ Ende war,
wenn jetzt Fortsetzungen folgen müssen). Die Fragen, die eigentlich
dringend zu beantworten wären, lassen sich aber nicht mehr so beantworten,
dass alle von nur einer einzigen Wahrheit überzeugt wären: Hat
Saddam Hussein es hauptsächlich den USA zu verdanken, dass er überhaupt
an die Macht kam und sich dort so lange halten konnte? Wieso wurde er
im 1. Golfkrieg nicht abgesetzt bzw. wieso haben die USA in den letzten
Kriegstagen den inner-irakischen Aufstand gegen Saddam Hussein nicht unterstützt,
sondern es Saddam Hussein durch einen überraschenden Waffenstillstand
sogar erst ermöglicht, diesen Aufstand niederzuschlagen? Und war
es überhaupt so? Wieso erinnern unsere Medien so gut wie gar nicht
daran, dass von den USA im Golfkrieg uran-verseuchte Geschosse eingesetzt
wurden, die noch heute zahllose Opfer unter der irakischen Bevölkerung
und unter amerikanischen Soldaten fordern? Ist das so bekannt oder als
„collateral damage“ so unvermeidlich, dass kein Wort mehr
darüber verloren werden muss (im Unterschied zu den alltäglichen
Erinnerungen an die Giftgas-Morde Saddam Husseins)? Zwingend Fakten sind
entweder nicht zu erbringen bzw. noch schlimmer: Selbst zwingende Fakten
ändern nicht an den Überzeugungen, die man in grotesker Ignorierung
jeder Beweislage nun einmal vorsätzlich haben will. Offenbar ist
die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung inzwischen davon überzeugt,
dass der Irak schon jetzt Atomwaffen hat, die jederzeit die USA erreichen
könnten. Die US-Regierung fordert ihre Geheimdienste zwar ununterbrochen
auf, Beweise für die eigenen Befürchtungen vorzulegen, wenn
aber die Geheimdienste die erwünschten Beweise nicht erbringen können
oder umgekehrt sogar beweisen können, dass ein bestimmter Verdacht
tatsächlich gegenstandslos ist, dann beweist auch das den Machthabern
unter Umständen gar nichts, es ändert nicht das Geringste an
dem, was man trotzdem für restlos erwiesen hält. So gesehen
werden die Geheimdienste nicht zur Erbringung von Beweisen aufgefordert,
sondern zu deren Fingierung. Ängste und vorsätzliche Überzeugungen
und Planungen („Neuordnung des Nahen Ostens“) sind offenbar
resistent gegen das, was sie eigentlich zwingend widerlegen müsste.Bekanntlich
gab es nach dem 11. September in kürzester Zeit eine Flut von Verschwörungstheorien,
z. B. die Behauptung betreffend, das Pentagon sei gar nicht von einem
Flugzeug attackiert worden. (In Frankreich soll sich ein Buch mit dieser
Behauptung mehr als 100000 mal verkauft haben; vgl. „Süddeutsche
Zeitung“ vom 27. 3. 2002) Das Problem liegt allerdings nicht in
den unzähligen, offenkundig abstrusen Behauptungen, sondern in einem
Bereich, wo auch seriöses Nachforschen keine endgültige Klarheit
mehr schaffen kann - etwa bei der Ermordung John F. Kennedys z.B. oder
etwa auch die Frage betreffend, ob „Pearl Harbour“ im vollen
Umfang als „Überraschungsangriff“ gelten kann bzw. inwieweit
die amerikanische Regierung schon vorher von diesem Überfall wusste.
Als uns die ersten Berichte erreichten, Mitglieder der US-Regierung hätten
sich nach dem 11. September bezüglich der aktuellen Terror-Bekämpfung
von führenden Regisseuren und Drehbuchschreibern Hollywoods beraten
lassen, mochten wir das noch für einen schlechten Scherz auf der
Welle der in solchen Fällen üblichen Gerüchte und Verschwörungstheorien
halten, indessen: Solche Treffen fanden tatsächlich mehrfach statt
(die Namen der Teilnehmer sind bekannt; seriöse Zeitung haben darüber
berichtet), und es scheint eigentlich nur konsequent, wenn man seit längerem
befürchtet, Hollywood bestimme die USA stärker als umgekehrt.Gerade
weil ein Ereignis wie der 11. September einzigartig ist, sind keine immer
schon „angemessenen Antworten“ verfügbar. Katastrophen
sind eben auch dadurch katastrophal, weil der Wunsch nach Antwort, nach
Sinn-Stiftung einerseits dramatisch steigt ("Warum nur, warum konnte
das geschehen?"), aber andererseits ist Sinn in solchen Situationen
auch schwieriger denn je zu erreichen. Was wurde unseren Versuchen, den
11. September zu begreifen, denn überhaupt geboten? Endlosschleifen
der Präsentation und Deutung, ungezählte Wiederholungen der
immer gleichen Zeichen, die Verstehen nicht fördern, sondern destabilisieren.
Überall eine Rhetorik zwischen Sinn-Erleuchtungen und Sinn-Schrott,
nicht selten einander zum Verwechseln ähnlich (und allenfalls unterscheidbar
nach den Meinungen, die man schon vorher gehabt hat). Die eilfertigen
Erklärungen von „ersten Erkenntnissen“ und „ausgeräumten
letzten Zweifeln“ überdecken eher den Deutungs-Mangel, die
Hilflosigkeit, als dass sie Klarheit erzielen könnten. Die Anschläge
vom 11. September 2001, auf die jetzt direkt oder indirekt geantwortet
werden soll, zumal Osama bin Laden entgegen allen Versprechungen noch
immer nicht ausfindig gemacht werden konnte, diese Anschläge sind
zwar dermaßen faktisch hart, materiell absolut unmissverständlich,
mehrere Tausende tödliche Gewissheiten, Schmerz und Leid von unzähligen
Menschen, aber dennoch enthält ein Anschlag nicht per se schon die
richtige Antwort in sich selbst: Weil es keinerlei Vorerfahrungen und
entsprechende Einordnungen gibt, bestimmen im hohen Maße nun Erfahrungen
mit Fiktionen (etwa aus Literatur und Film) und emotionale Prozesse die
Deutungs-Muster - zum Teil in Western- oder Rambo-Manier. Die Gefühle
nicht nur der Bevölkerung, sondern vor allem die Gefühle der
Regierung(en) kommandieren in dieser Lage das Verhalten. Gründe,
Begründungen, Vernunft und Rationalität kommen (wenn überhaupt)
verspätet und werden nicht selten völlig fingiert. An diese
„rationalen Begründungen“ glauben in einer Art von Selbsthypnose
bald sogar diejenigen, die sie erfunden oder jedenfalls in entsprechende
Medienformate gebracht haben.Leider gibt es keinerlei wirklich zwingend
Umstände, die die emotionalen Welt-Wahrnehmungen einer Gemeinschaft
- und mögen wir sie auch für paranoid halten -, widerlegen könnten.
Bevor irgendeine Person oder Institution das eigene Verhalten auch nur
geringfügig korrigiert, gibt es immer erst die meist lebenslangen
Versuche, so weiter zu machen wie bisher: „Noch-Mehr-Desselben“.
Dies zeigt sich im Nahen Osten. Was immer geschieht, man wechselt nicht
grundsätzlich die Qualität der längst fatal eingespielten
Reaktionen. Doch sog. „Zwangslagen“ sind nicht selten nur
der quasi zweite Teil einer Inszenierung, die zur sozialen Realität
geworden ist; der erste Teil ist das massenhafte Hinein-Rufen oder Herbei-Beschwören,
die massenhafte und erfolgreiche Erfindung dieser angeblichen Zwangslage,
die dann freilich als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung all
die „Sachforderungen“ nach sich zieht, die zunächst nur
hypothetisch waren.Die Deutungen der USA-Regierung tendieren, je weniger
abgestuft, je weniger differenziert sie sind, zu einem ungerechtfertigten,
beängstigenden, bisweilen sogar fundamentalistischen Zeichen-Handeln,
das in keinerlei Hinsicht dem entspricht, was man über die Deutungsproblematik
von Zeichen wissen könnte. Ein ungerechtfertigtes, beängstigendes,
bisweilen sogar fundamentalistisches Zeichen-Handeln kennt dann keine
maximale Differenz mehr zwischen einem „heiligen Krieg“ und
einer „grenzenlosen Gerechtigkeit“, einer „Operation
Infinite Justice“, wie es zunächst hieß. Die ganze Zeichen-
bzw. Weltdeutungs-Praxis stimmt dort von Grund auf nicht: Sie relativieren
weder ihren Deutungs-Anspruch noch ihren daraus abgeleiteten (Welt-) Herrschafts-Anspruch
in der erforderlichen Weise. Solche Deutungen beseitigen alle, in jeden
Zeichenprozess doch basal eingebaute Momente von Selbstkritik und Toleranz.Diejenigen
Zeichen, die bei aller Un-Eindeutigkeit immer noch relativ eindeutig erscheinen,
sind die zerstörerischen, die gewalttätigen, die tödlichen
Zeichen. Aber gerade hinter ihnen steht oft (und jetzt wohl auch wieder)
eine regressive, eine infantile Mythisierung der Welt, allein schon dadurch,
dass - allemal entsetzlich unterkomplex - überschaubare Konflikte
und simpel polarisierte Akteure erfunden werden. Und es wird ja nicht
nur vereinfacht, sondern man schreibt jedem Konflikt, den man selbst betreibt,
unzulässig weltpolitische Exemplarizität zu: Es gehe um die
Rettung der ganzen Welt vor dem Bösen. Selbstverständlich gibt
es historische Beispiele, dass dies der Fall ist, aber es ist nicht immer
der Fall. Ölinteressen und sonstige Machtinteressen können offenbar
auch gewisse Restunterschiede zwischen mörderischen Diktatoren verwischen.
Mit der Annahme von der weitreichenden Deutungslosigkeit der Zeichen verbindet
sich indes eine gewisse Hoffnung: Es gibt ja nicht nur das Western-Vorbild
im simplen Modell von klarer Herausforderung und adäquater Antwort,
sondern es gibt auch die bei jüngeren Leuten verbreitete, medial
bedingte „Coolness“, die bei allen kräftigen Nachteilen
durchaus auch ihre weltpolitischen Vorteile hat. Diese Coolness, dieser
spezifische Anti-Fundamentalismus ist ein Medien-Resultat, das gerade
bei Medienfreaks zu beobachten ist, bei Leuten, die mit vielen, teilweise
einander widersprechenden Realitäten ganz selbstverständlich
umgehen. „Coolness“ erweist sich zumindest in theoretischer
Hinsicht als das intelligentere Zeichen-Handeln gegenüber einem stets
getreulichen Nach-Buchstabieren verbindlicher, um nicht zu sagen heiliger
Vor-Schriften: Bedauerlich „cool“ zwar, aber gottlob auch
weder fundamental „militant“, geschweige denn fundamental
„militär“. Die Coolen haben hoffentlich etwas (außer
immer nur Spaß), wofür es sich zu leben lohnt, aber wir sollten
ihnen dankbar sein, dass sie wohl nichts haben, wofür sie eilfertig
sterben wollten. Sie verkörpern gewissermaßen das Gegenteil
von Deutungs-Hohheit und verordneter Gewaltanwendung. Sie sind möglicherweise
nicht die allerschlechteste Antwort auf sie. |