Theresia Gläser


Die musikalische Verarbeitung des 11. Septembers:
Bruce Springsteen, The Rising


Abstract: Der 11. September ist ein nur schwer zu begreifendes, traumatisches Ereignis. Der folgende Beitrag untersucht, inwieweit Musik ein Medium zur Verarbeitung eines solchen Traumas darstellen kann. Bruce Springsteen veröffentlichte 2002 ein Album in diesem Kontext, das sich intensiv mit den Ereignissen um den 11. September auseinandersetzt und das in diesem Beitrag auch durchaus kritisch betrachtet wird.

Im Sommer 2002, nur wenige Monate nach den einschneidenden Ereignissen des 11. Septembers, veröffentlichte Bruce Springsteen sein neues Studioalbum The Rising, das er nach längerer Pause erstmals wieder zusammen mit der E-Street-Band produziert hatte. Kurz zuvor war er bei einem Benefizkonzert zu Gunsten der Opfer des 11. Septembers mit dem Song My City of Ruins aufgetreten, der jedoch ursprünglich für einen völlig anderen Kontext konzipiert worden war: Springsteens anfängliche Intention war der schleichende Verfall der Gemeinde Asbury Park, New Jersey. Unter den Eindrücken der Terroranschläge vom September 2001 gewann der Song nun eine grundlegend andere Bedeutung: „Suddenly the song`s lyrics took on new meaning, making a powerful statement and giving it a life of it`s own. […] and even if My City of Ruins had nothing to do with September 11, it was hard to imagine any song better capturing the mood of a nation.“ ( Metzger 2005) So versteht sich dann auch Springsteens komplettes Album The Rising als Konzeptalbum, bei dem alle Songs im Kontext des 11. September geschrieben, gelesen bzw. gehört und auch interpretiert werden können.


Die Verarbeitung des 11. September als geschickte Marketingstrategie?

Vor allem der Veröffentlichungszeitpunkt des Albums stand immer wieder in der Kritik. Man warf Springsteen vor, die Tragödie und das damit einhergehende Leid der Betroffenen zu rein marketingstrategischen Zwecken zu missbrauchen, um damit seiner Karriere förderlich zu sein (vgl. Vasilakis 2005). Auch der Zeitpunkt der neuerlichen Zusammenarbeit mit seiner E-Street-Band, die Springsteen bis dato auf Eis gelegt hatte, gab Anlass zu solchen Spekulationen und zu dem Vorwurf, er versuche Nutzen aus der Katastrophe vom 11. September zu ziehen und sich selbst wieder in den Ranglisten der Musikcharts zu platzieren, vor allem weil die Veröffentlichung seines letzten Albums bereits einige Jahre zurück lag (Bordowitz 2004, S.161). Außerdem könnte man ihm natürlich auch sämtliche Promotionsauftritte, etwa in Talk-Shows, Radio- und Fernsehinterviews zur Last legen, die allesamt Marketing- und Promotionsinteressen für The Rising dienten.

Man kann den Vorwurf, Springsteen benutze den 11. September zu seinem Vorteil allerdings durch einige Argumente entkräften: Steffen Lehmann sieht The Rising beispielsweise als „konsequente Fortsetzung [von Springsteens] musikalischem Schaffen“ (Lehmann 2005), da dieser bereits seit über 30 Jahren über die Sorgen des kleinen Mannes schreibe, über seine Wünsche, deren Erfüllungen aber auch Enttäuschungen. Man hätte wohl eher mit einer düsteren und pessimistischen Grundstimmung des Albums rechnen müssen, entspräche es der Behauptung, Springsteen wolle lediglich Profit aus der Katastrophe ziehen, so Lehmann weiter. Vielmehr sei The Rising viel eher von „Optimismus und Hoffnung“ geprägt.

Am Morgen des 11. Septembers, als das „Öffentliche ins Private kippte“ (Heidkamp 2005), konnte Bruce Springsteen, der in New Jersey wohnt, die brennenden Twin Towers sehen. Auch auf Grund der Tatsache, dass vor allem Springsteens Heimat, der Bundesstaat New Jersey, besonders viele Opfer zu beklagen hatte, die bei den Terroranschlägen in New York ihr Leben verloren hatten, war Springsteen selbst auf eine besondere Art in die Geschehnisse involviert.
Bruce Springsteen gilt als ein Künstler mit besonders starkem Bezug zu seinen Fans, was sicherlich zum einen daraus resultiert, dass er sich von jeher mit Alltagsproblemen des Mittelstandes in Amerika musikalisch auseinander gesetzt hat. Springsteen „portraitiert in seinen Songs das Leben des 'kleinen Mannes’ mit all seinen Träumen und Sehnsüchten, seinen Freuden, aber auch seinem Scheitern an der Realität. Dabei begleitet er die Figuren, die er beschreibt, auf ihrem Lebensweg.“ (www.wikipedia.de). Es gelingt ihm, einen besonders hohen Identifikationsgrad der Hörer mit den „Besungenen“ aufzubauen, nicht zuletzt auch deshalb, weil er „die Folgen sozialer Missstände und wirtschaftlicher Krisen anhand fiktiver und verallgemeinert dargestellter Einzelschicksale exemplarisch zu erzählen“ (ebenda) weiß. Springsteens Album ist kein pessimistisches, resignierendes musikalisches Werk, sondern es versucht, Optimismus und Hoffnung zu vermitteln, wie auch schon der programmatische Albumtitel The Rising, das Erheben, Wieder-Aufstehen, deutlich macht. Kevin Oliver beschreibt es so: „One of Springsteen`s many talents as a songwriter is to make the dark and depressing into something uplifting.“ (Oliver 2005)


Pop-/Rockmusik als Ausdrucksmöglichkeit zur Verarbeitung

Unmittelbar nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 kam es zu einer Vielzahl an Veröffentlichungen von Liedern, die einerseits Coverversionen von alten Hits darstellten – man denke beispielsweise an Imagine von den Beatles – die nun im Kontext 11. September mit neuem Sinn beladen und unter den Eindrücken der Anschläge neu interpretiert wurden. Doch inwieweit spielt Musik, vor allem Pop-/Rockmusik, eine Rolle bei der Verarbeitung von Ereignissen wie dem 11. September, welche Bedeutung kommt ihr dabei zu?

Musik hat eine stark assoziative Wirkung. So gibt es viele Lieder, bei deren Hören man sich sofort an bestimmte persönliche oder auch überindividuelle Ereignisse erinnert fühlt. Ulla Littan beschreibt und erklärt die große Bedeutung der Musik für den Menschen in ihrer Dissertation folgendermaßen:

„[Musik versetzt] als Schwingungsereignis den Menschen ganz konkret in Bewegung […], dadurch, dass sie Gefühle nicht nur weckt, sondern auch lebt, dadurch, dass sie den Menschen von seinen bewussten, intellektuellen Fähigkeiten her anspricht und andererseits ihn auch leiblich betrifft, dadurch, dass die Musik am Übergang steht zwischen materieller und geistiger Welt – also den Menschen auch religiös anrührt –, dadurch, dass in ihr sowohl Unbewusstes als auch Bewusstes angesprochen wird, ist die Musik für den Menschen eine elementare Quelle der Lebendigkeit, die ihn in seiner Ganzheit meint.“ (Littan 1994, S. 146)

Dies erklärt, warum die Menschen nach den Terrorangriffen von New York besonders vehement nach Musik verlangten: Sie erhofften sich Trost und Zuversicht durch Musik und Songtexte.

Dass Springsteen diesen Erwartungen entsprach, beweisen deutlich die außerordentlich guten Verkaufszahlen und hohen Platzierungen in den Charts (zwei mal Multi Platin), fünf Grammy-Nominierungen für The Rising im Jahre 2003 (Bordowitz 2004, S. 2), andererseits aber auch der Kauf und die Lektüre der Songtexte.


Textbeispiel: Lonesome Day

Liest man den Text zu Lonesome Day im Kontext 11. September, lassen sich in der Tat einige inhaltliche Relationen zu den Anschlägen finden. Es ist von

„Hell`s brewin`, dark sun`s on the rise“, aber auch von Rachegedanken die Rede: „A little revenge and this too shall pass […]. Better ask questions before you shoot, deceit and betrayal`s bitter fruit. It`s hard to swallow, come time to pay. That taste on your tongue don`t easily slip away.”

Hoffnungsvoll heißt es: „But it`s gonna be okay if I can just get through this lonesome day.” Und auch der Refrain entspricht völlig dieser Haltung, wenn er lediglich daraus besteht, die Phrase “It`s alright…“ (alle: Springsteen 2002) zu wiederholen. Da Lonesome Day zugleich der Opener des Albums ist, kann er durchaus programmatisch für die gesamte Publikation Springsteens gesehen werden.


Springsteen in der Tradition von 'Populärer Musik’

Dass Bruce Springsteens Musik im wahrsten Sinne sehr populär ist, beweist neben seinen enormen Umsätzen durch Plattenverkäufe, seiner großen Popularität bei seinen Fans, vor allem auch seine ungewöhnlich lange Präsenz. Untersucht man sein Konzeptalbum zum 11. September unter popmusiktheoretischen Gesichtspunkten, so gibt es durchaus einige Punkte, die sich mit den gängigen Definitionsansätzen decken. Danach entspricht The Rising hörerorientierten Definitionsansätzen, die besagen, dass „[d]ie Explikation psychischer Bedürfnisse und deren Befriedigung durch populäre Musik […] hier der zentrale Aspekt [ist]. Populäre Musik wird diesen Bedürfnissen durch ihren auf leichte Rezipierbarkeit ausgelegten strukturellen Komplexitätsgrad und durch expressive Modi mit hohem Bekanntheitsgrad gerecht.“ (Bullerjahn/Erwe 2001, S. 46) Außerdem, so eine weitere Definition, zeichne sich Populärmusik aus durch die „Artikulation von Situationsbedeutungen, die für das Publikum große Aktualität haben“. (Bullerjahn/Erwe 2001, S. 43) Natürlich ist Popmusik gegenüber immer der Vorwurf haltbar, sie sei einfach, geradezu trivial, indem ihr „leichte Rezipierbarkeit“ unterstellt wird, und da Springsteens Musik in dieses Genre gehört, kann man ihm ebenso den Vorwurf machen. Doch sollte man auch innerhalb des Musikgenres unterscheiden. Die Texte eines Bruce Springsteens scheinen im Vergleich zu denen viele seiner Kollegen gerade zu „lyrisch“ und ambitioniert. So sind seine Texte, vor allem die seiner späteren Schaffensphase, inhaltlich aufgeladen und sie enthalten Wertvorstellungen, die vermittelt werden sollen. Nicht zuletzt deshalb gilt Bruce Springsteen als explizit politischer Künstler, der in seinem Werk Missstände anprangert und sie beim Namen nennt.

Doch auch Springsteens Album The Rising wurden Schwächen vorgeworfen, die vor allem daraus resultierten, dass er sich ein gesamtes Album lang mit der Thematik 9/11 auseinander setzte. Konrad Heidkamp relativiert dies jedoch:
„Es scheint ebenso unmöglich, die Ereignisse des 11. September angemessen in Noten und Töne zu fassen, wie man sie nicht in Worten erklären kann. Und doch liegt der Schnittpunkt von Rockmusik und Politik genau darin, die Toten Amerikas, die Opfer des Attentates zu ehren und zugleich, mit einer leisen, brüchigen Stimme, jene Melodien zu singen, in denen alle Fehler und Niederlagen der USA nachklingen.“ (Heidkamp 2005)

Kann Popmusik helfen, ein globales Ereignis wie den 11. September zu verarbeiten?

„Popularmusik ist eine spezifisch eigenständige Musikkultur auf der Grundlage industrieller Produktion und Distribution. Ihre sozialen und psychologischen Funktionen sind bestimmt durch ihre emotionalen und körperlichen Bedürfnisse, die in verstärktem Maße durch die rationalisierte Lebens- und Arbeitsform in der industrialisierten Gesellschaft erzeugt werden. Ihre Ästhetik wird bestimmt durch die Bedingungen und Möglichkeiten der Massenkommunikationsmittel […].“ (Flender/Rauhe 1989, S.17)

Andreas Meier sagt zur Kernfunktion von populärer Musik: „Sie ist die Projektionsleinwand für die emotionale Verarbeitung individueller Erfahrungen des Glücks und des Unglücks mit den sozialen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen.“ (Meier 1999, S. 12)


Popmusik als kulturelles Alltagsphänomen

Obwohl Popmusik immer wieder von Musikkritikern als „Kitsch, Schund und niederes Machwerk […] verunglimpf[t]“ (Meier 1999, S. 3) wird, stellt sie doch einen nicht zu vernachlässigenden Teil menschlichen Kulturschaffens dar. Bei dem Volkskundler Gottfried Korff, der sich auf den erweiterten Kulturbegriff Helge Gerndts (Gerndt 1997, S. 35) bezieht, der davon ausgeht, dass Kultur mehr beinhaltet als das konventionelle und bürgerliche Kulturverständnis mit einer „schön-geistigen Überhöhung“ des Geschaffenen (ebenda), ist von einem „Kulturbegriff die Rede, der mehr meint, weiter ausgreift und all das subsumiert, was die Menschen in Konfrontation mit ihren Alltagsanforderungen geschaffen haben.“ (Bausinger 1993, S. 18)

Am Beispiel von Bruce Springsteens Konzeptalbum The Rising sind diese „Alttagsanforderungen“ ganz klar mit den verheerenden Terrorattentaten vom 11. September gleichzusetzen, mit denen die Menschen konfrontiert wurden. Somit ist auch in diesem Sinne dieses Album oder jede andere Art von Musik, die einen Bezug zum 11. September hat, eine Form der kulturellen Verarbeitung dieses 11. September. Musik bietet sich an

„als Medium zur Therapie oder Linderung psychopathologischer Erscheinungen, […] da sie wie kein anderes kreatives Medium gefühlsmäßig berührt und darüber hinaus aufs Differenzierteste das Unbewusste zur Sprache kommen lässt.“ (Littan 1994, S. 3f.)

Kritische Auseinandersetzung mit Bruce Springsteens Konzeptalbum The Rising

Die Rezensionen zu Springsteens Album The Rising fielen äußerst zwiespältig aus. Neben vielem Lob gibt es aber auch durchaus skeptische und kritische Töne. Immer wieder wurde ihm Mythologisierung und religiöses Vokabular (Girke 2005) vorgeworfen. So schreibt Michael Girke, der in seiner Albumrezension Springsteen unter anderem „pathetische Rock-Routine“ (Girke 2005) vorwirft: „Unerträglich an The Rising ist, dass jede Distanz, jede Mehrdeutigkeit, jeder Zweifel, dass also alle Kunst aus Springsteens Musik verschwunden ist.“ Girke setzt hier also bewusst Mehrdeutigkeit mit Kunst gleich, und spricht diese Springsteens Album zugleich ab.

Einige Kritiker sehen jedoch in Springsteens Album gerade eine Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten und stellen diese komplexen Interpretationsvarianten positiv in den Vordergrund ihrer Besprechungen. Gerade das Universelle sei ein positiver Gesichtspunkt, denn „the album cries out to be viewed in the context of 9/11, but with few exceptions, each song is open to interpretation by the listener.“ (www.music-critics.com) Auch der anfänglich recht kritische Konrad Heidkamp unterstreicht die These von der Mehrdeutigkeit in den Texten auf The Rising: „Er [Springsteen] deutet die Rollen in dieser Tragödie nur an und wendet sie in jedem Moment ins Allgemeine. Wer nichts vom 11. September wüsste, hätte Schwierigkeiten, die personae dramatis zu identifizieren.“ (Heidkamp 2005) Und auch Dietrich Helms verweist zwar darauf, dass Springsteens The Rising durchaus einen konkreten Bezug zu den Ereignissen des 11. September aufweist, beim Hörer sich aber heute dieser konkrete Bezug bereits wieder verwische. Dies führt er auf die „Freiheit des Verstehens“ (Helms 2004, S.152f.) zurück, die das „ständige Aktualisieren von Bedeutungen, das notwendig ist für die Aufrechterhaltung psychischer und sozialer Systeme, [beschleunigt]“. Helms geht sogar so weit zu sagen, man könne heute wieder unbeschwert zu Liedern aus The Rising tanzen, ohne sie noch mit dem 11. September in Verbindung zu bringen.


Songs mit kontextuellen Bezügen: Into The Fire, The Rising

Jeder, der mit dem Wissen an The Rising herangeht, dass es sich hierbei um ein Konzeptalbum mit „Denkmalfunktion“ (Helms 2004, S.150) zum 11. September handelt, hört es natürlich nach Bezügen, die in irgendeiner Weise mit diesen Ereignissen korrelieren, ab. So lassen sich Feuerwehrmänner ausmachen, die „up the stairs, into the fire“ gehen, die von „duty […] someplace higher“ gerufen werden, unterwegs mit „dust“ und „darkness“ konfrontiert werden und schließlich für ihren Einsatz mit dem Leben bezahlen müssen: „Then [you] walked into the darkness of your smoky grave.“ Bei dieser beinahe schon schmerzhaften Eindeutigkeit fällt es schwer, diesen Songtext nach allgemeineren Bezügen abzuhören. Zu stark ist die Assoziation des Rezipienten mit den Ereignissen des 11. September. Wenig Interpretationsspielraum ist auch bei einigen anderen Songs vorhanden. So ist auch im Titelsong The Rising ein Feuerwehrmann der Protagonist, und die eindeutigen Bezüge zu 9/11 lassen sich nicht leugnen:


„Can`t see nothin` in front of me. Can`t see nothin` coming up behind. I make my way through this darkness. I can`t feel nothing but this chain that binds me. Lost track of how far I`ve gone, how far I´ve gone, how high I`ve climbed. On my back`s a sixty pound stone. On my shoulder a half mile of line.” (alle: Springsteen 2002)


Songs mit variablen Deutungsangeboten: Empty Sky

Doch bei aller Kritik muss man auch ganz sachlich feststellen, dass The Rising noch andere Beispiele vorzuweisen hat. Es gibt durchaus Lieder, die sowohl auf die Ereignisse von 9/11 bezogen werden können, jedoch auch anders gedeutet und interpretiert durchaus Sinn ergeben. Diese Songs befinden sich zumeist weiter hinten auf dem Album. Da gibt es beispielsweise den Song, der mit Empty Sky tituliert ist. Der Protagonist erwacht morgens allein in seinem Bett und artikuliert seine Sehnsucht nach seiner Partnerin, die nicht mehr da ist: „I woke up this morning, I could barely breathe. Just an empty impression in the bed where you used to be. I want a kiss from your lips […].” (Springsteen 2002) Hier wird dem Hörer durchaus Spielraum zur Deutung und Auslegung des Textes angeboten. Ließe man den Kontext 9/11 völlig außer Acht, könnte man ihn beispielsweise auf die Trennung oder das Ende einer Beziehung hin auslegen, ebenso wäre der Interpretationsansatz denkbar, es gehe um den Verlust einer Person, die gestorben ist. Dem Rezipienten werden also durchaus variable Deutungsmöglichkeiten angeboten. Die an die eben zitierten Verse anschließende Zeile ist jedoch schon wieder etwas gebundener in ihrer Deutung: „I want an eye for an eye.“ (Springsteen 2002) Springsteen verwendet biblische Metaphorik, die den Rachegedanken Auge um Auge, Zahn um Zahn, zum Ausdruck bringt. Das passt nun wieder eher in den Kontext 11. September, als unmittelbar nach den Anschlägen Fragen nach der Täterschaft laut wurden und genau solche Rachegedanken thematisiert wurden. Empty Sky ist im Kontext 9/11 natürlich eindeutig auf die verstümmelte New Yorker Silhouette bezogen. In einem kontextfremden Zusammenhang jedoch könnte Empty Sky ebenso gut auf die Perspektivlosigkeit des Protagonisten nach einer Trennung verweisen.

Zusammenfassend bringt Kevin Olivers Aussage über Springsteen als Songwriter dieses Verhältnis von Eindeutigkeit einerseits und Deutungsangeboten andererseits genau auf den Punkt: „He is too good a songwriter to make his songs too specific to Sept. 11, but a line here and a line there serve to remind the listener of it anyway.“ (Oliver 2005)


Zusammenfassung

Nicht jeder muss Bruce Springsteen mögen, und das Gleiche gilt natürlich auch für seine Musik. Doch bei aller sachlichen Kritik, die teilweise durchaus berechtigt ist, sollte man aber auch immer die Leistung des Künstlers bedenken, die hinter seinem fertigen Werk steht. So kann man beispielsweise Springsteens Diskretion im Umgang mit den Opfern und Hinterbliebenen, die er zu seinen Erzählern und Protagonisten macht, an seinem Werk besonders schätzen. Er deutet die Rollen, wie oben erwähnt, tatsächlich nur an, seine Bezüge zum Kontext 11. September sind niemals aufdringlich, sondern im Gegenteil sehr dezent. Dies kann durchaus als die größte Leistung an einem Werk, das in so einem komplexen und schwierigen Zusammenhang entstanden ist, gesehen werden.

Bruce Springsteens Musik dient der Verarbeitung von negativen und bedrohlich wirkenden äußeren Einflüssen, denen der Mensch ausgesetzt war und ist und die irgendwie kompensiert werden müssen. Dietrich Helms begründet die außerordentliche Bedeutung der Musik für den Menschen so: „Es verwundert daher nicht, dass dieses Medium eine prominente Rolle in der Kommunikation spielt, besonders in Zeiten, in denen sich soziale Systeme durch übergroße Kontingenz aufzulösen drohen, weil sie neu entstehen […], oder weil sie durch unerwartete Ereignisse destabilisiert wurden. Gemeinsames Singen, gemeinsamres Hören hilft sozialen Systemen, das Chaos der Umwelt zu reduzieren. Es schafft ein wieder überschaubares Maß von Bedeutungen bei der (Selbst-)Beobachtung, und auch das verstörte, verwirrte psychische System wird beruhigt durch die Beobachtung anderer psychischer Systeme, die (beim Hören oder Machen von Musik) mit ihm zusammen gleichsinnig handeln. Trost kommt, wenn das Fragen nach dem „Warum?“ endet.“ (Helms 2004, S. 147f.)

Mit der Musik Trost zu spenden war auch Springsteens Intention zu The Rising, und wenn ihm das – und sei es auch nur in wenigen Fällen (was die enormen Verkaufszahlen eigentlich widerlegen) – mit diesem Album gelungen ist, kann man das durchaus als Verdienst Springsteens ansehen. Seine Musik wird zu einem prädestinierten Medium für die Kompensationsarbeit der Menschen, und sei es auch nur für Springsteens Zielgruppe.

 

Literatur:

Bausinger, Hermann, Jeggle, Utz, Gottfried Korff und Scharfe, Martin: Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1993.
Bordowitz, Hank: The Bruce Springsteen Scrapbook. New York 2004.
Bullerjahn, Claudia und Erwe, Hans-Joachim (Hg.): Das Populäre in der Musik des 20. Jahrhunderts. Wesenszüge und Erscheinungsformen. Hildesheim 2001.
Flender, Reinhard und Rauhe, Hermann: Popmusik. Aspekte ihrer Geschichte, Funktion, Wirkung und Ästhetik. Darmstadt 1989.
Gerndt, Helge: Studienskript Volkskunde. Eine Handreichung für Studierende. Münster 1997.
Girke, Michael: Billigreisen ins Elend der anderen. In: http://www.freitag.de; Stand: 06.01.2005
Heidkamp, Konrad: Aus dem Schatten, die Sonne im Gesicht. In: http://www.zeus.zeit.de; Stand: 06.01.2005
Helms, Dietrich: „I can`t see New York“? Der 11. September und die Bedeutung von “Bedeutung populärer Musik”. In: Helms/Phleps (Hgg.): 9/11 – The world`s all out of tune. Populäre Musik nach dem 11. September 2001. Bielfeld 2004.
Lehmann, Steffen: Die Welt erträglicher machen. In: http://www.kunden-viosysy.de; Stand: 06.01.2005
Littan, Ulla: Musik aus der Perspektive der Jungschen Psychologie. Abhandlung zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich. Zürich 1994.
Meier, Andreas: Politischer Wertewandel und populäre Musik. Münster 1999.
Metzger, John: 9/11 in Songs. In: http://www.musicbox-online.com; Stand: 06.01.2005
http://www.music-critic.com; Stand: 09.01.2005
Oliver, Kevin: The Gospel According to Springsteen. In: http://www.free-times.com; Stand: 09.01.2005
Springsteen, Bruce: The Rising. Columbia Records 2002.
Vasilakis, Stelios: The Boss rises to the occasion. In: http://www.greekwork.com; Stand: 09.01.2005
http://www.wikipedia.de; Stand: 18.07.2005



Verfasserin:Theresia Gläser; Datum der Veröffentlichung: 28.02.2006
   


 
    Sämtliche Beiträge dürfen ohne Einwilligung der Autoren ausschließlich zu privaten Zwecken genutzt werden. Alle Rechte vorbehalten.
© Medienobservationen 2006.