Internet Chatlines (IRC) / Internet / Kommunikation / Macht / Kontrollverlust / Kontrollsteigerung


Stephanie Schmaus

Die grenzenlose Freiheit der Chat-Kommunikation - eine Illusion?




Abstract: Durch das Internet ergeben sich neue Formen computervermittelter Kommunikation. Zu den wichtigsten zählen die elektronische Post (E-Mail), die Newsgroups und Chatlines. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit den Internet-Chatlines (IRC), mit "Kommunikationsräumen", die über Internet kontaktiert werden können und einer unbegrenzten Anzahl von Kommunikationsteilnehmern eine zeitgleiche Kommunikation ermöglichen. Im besonderen wird auf Kontroll- und Machtmechanismen eingegangen, die es ermöglichen, den eigenen Kontrollbereich auszuweiten und darüber hinaus den Kontrollbereich anderer Chatter einzuschränken. Es gilt zu klären, ob sich die Chat-Kommunikation hierbei von anderen Kommunikationsformen unterscheidet.


Macht- und Kontrollausübung sind Bestandteile jeglicher zwischenmenschlicher Kommunikation. Somit sind sie auch in scheinbar herrschaftsfreien Diskursen wie den Internet-Chatlines vorzufinden. Obwohl bestimmte Macht- und Kontrollmechanismen nicht auf alle Teilnehmer die gleiche Wirkung haben und so auch nicht von vornherein zu generalisieren sind, erscheint es mir wichtig, bestimmte Verhaltens- und Kommunikationsweisen der Chatter sowie Besonderheiten der Chat-Kommunikation aufzuzeigen, die entsprechende Wirkungen hervorrufen können.
Wenn Machtausübung und Kontrolle von den Teilnehmern als solche wahrgenommen werden, kann Chat-Kommunikation entgegen der allgemein verbreiteten Meinung nicht nur als "belangloses" Spiel angesehen werden. Chatten macht Spaß, das ist unbestreitbar. Das bedeutet jedoch nicht, daß es keinerlei Bedeutung für die Kommunikationsteilnehmer hat. Denn: Chatten stellt soziale Kontakte her und diese Kontakte können eine wichtige Rolle in den Leben der Chatter einnehmen. Vor diesem Hintergrund muß auch Machtausübung in der Chat-Kommunikation als Einschränkung des Kontrollbereichs der Teilnehmer ernstgenommen werden.

Kontrollverlust und Kontrollsteigerung
In der Chat-Kommunikation kann es ebenso wie bei anderen Kommunikationsformen zu Kontrollverlust, aber ebenso zu Kontrollsteigerung für die Teilnehmer kommen. Kontrollverlust im IRC ergibt sich durch bewußte Manipulationsversuche anderer Teilnehmer, aber auch durch die spezifischen Rahmenbedingungen der computervermittelten Kommunikation. Kontrollverlust bedeutet jedoch nicht nur, daß Gesprächsteilnehmer kontrolliert oder manipuliert werden, um "konformes Verhalten zu erzielen (...) und abweichendes Verhalten zu verhindern" (Reinhold, S.362), sondern auch, daß es Unsicherheiten im Umgang mit dem IRC-Programm und Mißverständnisse innerhalb der Gesprächsführung gibt. Kontrolle ist ebenso nicht automatisch negativ konnotiert, sondern bedeutet zum Beispiel auch, daß die Kommunikationsteilnehmer ihr eigenes Verhalten, Auftreten etc. kontrollieren und bewußt gestalten können.

Elektronische Vermittlung
Die Chat-Kommunikation ist elektronisch vermittelt. Dies kann sowohl zu einer Ausweitung des Kontrollbereichs als auch zu Kontrollverlust der Chatter führen. Die Elektronik bestimmt nicht nur das Zustandekommen der Kommunikation, sondern beeinflußt auch den gesamten Kommunikationsverlauf: Um bestimmte Sonderfunktionen nutzen zu können, müssen die Chatter eine spezielle Befehlssprache - zusammengesetzt aus Schrägstrich ("/") und englischem Ausdruck - beherrschen. Zwar ist der Einsatz eines Schrägstriches in der Schriftsprache nicht ungewöhnlich, da er zur Verdeutlichung der Einheit bestimmter Wörter auch in anderen schriftlichen Kommunikationsformen eingesetzt wird. Unüblich ist jedoch die Verwendung am Ansatz einer Ausdruck-Satzzeichen-Kombination ohne vorangestellten Wortteil. Diese Besonderheit macht eine computerspezifische Abweichung von der natürlichen Zeichenverwendung deutlich. Englischkenntnisse der IRC-Teilnehmer können den Umgang mit dem Programm nur bedingt erleichtern, da es bei der für die Interaktion mit dem Computer benötigten Sprachform trotz vorhandener Ähnlichkeiten keine direkte natürlichsprachliche Entsprechung gibt.

Die Nähe zur natürlichen Sprache kann sogar Probleme aufwerfen: "Gleiche Wörter mit eingeschriebener Bedeutung können zu Interferenzen zwischen natürlicher Sprache und formaler Sprache führen. Erst durch Übung lernen die Benutzer, von den Wörtern im System nicht die ganze Breite der natürlichsprachlichen Bedeutungen zu erwarten." (Zoeppritz, S.113)
Um zum Beispiel eine "private" Konversation mit einem einzelnen Gesprächspartner zu beginnen, ist die Eingabe des Befehls "/query Nickname" nötig. Die Übersetzung des Ausdrucks "query" mit "Frage", "befragen" oder "bezweifeln" läßt jedoch nur in geringem Maß auf die Funktion des Befehls schließen. Somit wird deutlich, daß es sich bei der Befehlssprache nicht um eine natürlichsprachliche Übertragung handelt, die selbsterklärend ist. Auch IRC-Teilnehmer aus dem englischen Sprachraum müssen sich auf die gegebenen Vorgaben einlassen und können nur begrenzt auf ihre bisherigen Spracherfahrungen zurückgreifen. Inwieweit dieser Aspekt als Kontrollverlust von den Teilnehmern empfunden wird, ist schwer zu sagen. Denkbar ist jedoch, daß die Auseinandersetzung mit neuen sprachlichen Ausdrücken als Unsicherheit erfahren wird.
Kenntnisse im Umgang mit dem IRC-Programm und seiner Befehlspalette sind allerdings immer eine wichtige Voraussetzung, um den eigenen Kontrollbereich während des Kommunikationsverlaufs auszuweiten. So kann ein Teilnehmer zum Beispiel durch einen bestimmten Befehl automatisch über das Hinzukommen bestimmter Chatter informiert werden, unabhängig ob er im gleichen Kanal anwesend ist oder nicht (mit "/notify Nick"möglich). Somit wird eine direkte Kontaktaufnahme erleichtert, ohne einzelne Kanäle mühsam "absuchen" zu müssen.

Aufgrund der elektronischen Vermittlung der IRC-Kommunikation ist es möglich, daß Teilnehmer ihre EDV-Kenntnisse nutzen, um den Kontrollbereich anderer Kommunikationsteilnehmer einzuschränken. So verweist Dibbell (1993) auf einen Vorfall aus der MUD-Kommunikation, bei dem technisches Wissen eingesetzt wurde, um Teilnehmern das "Zugriffsrecht" auf ihre MUD-Persönlichkeit zu verwehren (MUD = Multi User Dungeons: "Viel-Nutzer-Kerker"; Kommunikationsform mit Rollenspielcharakter) (siehe Dibbell). Mit Hilfe eines speziellen Programms wurde es möglich, Handlungen und Äußerungen verschiedener Gesprächspartner zu beeinflussen, so daß es gegen ihren Willen zur Darstellung von Vergewaltigungsabläufen und Selbstzerstümmelung kam. Obwohl dieses Ereignis im MUD stattfand, macht es deutlich, welche Gefahren in der elektronischen Kommunikationsübermittlung liegen können. Denn auch in der Chat-Kommunikation ist eine Manipulation denkbar. Versiertheit im Umgang mit der Computertechnik kann dazu mißbraucht werden, die Kommunikation anderer zu beeinflussen und indirekt Gewalt auszuüben. So wäre zum Beispiel der Einsatz eines Robots denkbar, der automatisch den Namen (Nickname) eines Chatters übernimmt, wenn dieser das Programm verlassen hat. Dem Chatter ist es dann nicht mehr möglich, beim erneuten Eintritt in den Kanal unter seinem bisherigen Nickname in den Gesprächsverlauf einzusteigen. Derartige "Übergriffe" sind allerdings nicht so harmlos, wie zunächst vermutet werden könnte. Der Name spielt nämlich häufig eine wichtige Rolle bei der Selbstdarstellung der Kommunikationsteilnehmer.
Folgendes Beispiel macht die Bedeutung des Namens bezüglich der Erzeugung einer Chat-Identität deutlich:

Beispiel 1:
1  ‹Ora_› ora is my nick.
9  ‹Ora_› how long have you used ora ?
12 ‹ora› since a few months, sorry
13 ‹Ora_› ora has been my nick for over a year....
14 ‹ora› so you want me to change it?
15 ‹Ora_› if it would be possible for you to make some changes to it, it would mean a great deal to me
18 ‹Ora_› I used it so long that some of my friends might get you mixed up

Wenn es nicht mehr möglich ist, unter seinem Namen einem Kanal beizutreten, können Chat-Bekanntschaften den Kommunikationsteilnehmer auch nicht mehr erkennen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die bloße Übernahme des Namens als Kontrollverlust erfahren werden kann.

Eine allgemeine Kontrollsteigerung ermöglicht die technische Vermittlung bei Gesprächsbeginn. Mit Eintritt in den Kanal erscheint die Programmnachricht "*** Nickname (...@...de) has joined #..." auf dem Bildschirm. Auf diese Weise wird für die bereits anwesenden Chatter ersichtlich, wer dem Kanal beigetreten ist, ohne daß eine explizite Namensnennung oder Bekanntmachung vonnöten wäre. Mißverständnisse wie in der Telefonkommunikation, die aufgrund von fehlender Identifikation hervorgerufen werden, gibt es im Chat nicht. Zudem ist der Name trotz mangelnder Kenntnis der "wahren" Identität des Chatters völlig ausreichend, um im Falle eines unerwünschten Verhaltens seinen Ausschluß herbeizuführen.

Die elektronische Vermittlung ermöglicht es, mit Menschen verschiedener Nationalitäten in Beziehung zu treten, mit denen im "realen Leben" ein Kontakt nur unter erschwerten Bedingungen möglich wäre. So eröffnet die Chat-Kommunikation für alle Teilnehmer gleichermaßen neue Kommunikationsmöglichkeiten. Diese können je nach kulturellen Unterschieden als Bereicherung oder Kontrollverlust verstanden werden.

Beispiel 2: Kanal mit japanischen Chattern; Namen anonymisiert
146 ‹SB› But now I want to watch TV NEWS about 30 min.
147 ‹AE› do whatever you want
152 ‹SB› And few of us can speak english.
153 ‹AE› o.k.

In diesem Beispiel wird AE von SB mit Verweis auf die mangelhaften Englischkenntnisse der anderen Teilnehmer indirekt aufgefordert, den Kanal zu verlassen. Somit versucht SB zu verhindern, daß AE nach seinem/ihrem Verlassen keinen weiteren Gesprächspartner im Kanal findet und die mangelnden Reaktionen der anderen Kommunikationsteilnehmer als Unhöflichkeit mißversteht. Für AE könnte dieser Hinweis jedoch auch als verbaler Hinauswurf gewertet werden. Dieses Beispiel zeigt, daß es durchaus zu interkulturellen Schwierigkeiten in der Chat-Kommunikation kommen kann. Die Chatlines stellen somit nicht immer friedliche und freundliche Kommunikationsräume dar, in denen alle Kommunikationsteilnehmer automatisch in gegenseitiger Zuneigung und Aufgeschlossenheit miteinander verbunden sind.

Geschwindigkeit
Geschwindigkeit spielt in der Chat-Kommunikation eine wichtige Rolle. Dies zeigt sich sowohl in der Kürze der Äußerungen als auch in der Vielzahl von Orthographiefehlern, die auf eine hohe Tippgeschwindigkeit schließen lassen.

Beispiel 3:
‹JA› IT: sorry, aber der spruch hat soooo nen bard

‹SU› ich hiese SU

Eine schnelle Abfolge der einzelnen Äußerungen zeigt sich besonders deutlich in der Zweiergesprächssituation. "Gesprächspausen" durch den Partner werden sofort durch eigene Äußerungen kompensiert. Häufig ist so kein stringenter Gesprächsverlauf mehr zu erkennen, da die Äußerungen nicht in direktem Bezug zu vorangegangenen stehen.

Beispiel 4:
37 ‹KR› mein vatter arbeitet dort jetzt, in einem il-de projekt..
38 ‹AE› ich bin ja auch rumgereist, aber nicht so lange
39 ‹AE› il-de?
40 ‹KR› und meine mom mit ihm dort. also ich gehe sie zu besuchen
41 ‹KR› israeli-german:)
42 ‹AE› ach so
43 ‹AE› was machstn du in Jerusalem, arbeiten, studieren?
44 ‹KR› also,was hast du in neve shalom gemacht?
45 ‹KR› alles. studieren in der uni
46 ‹AE› in neve shalom habe ich im Garten gearbeitet. Ich mußte Blumen pflanzen. Außerdem gab es ein paar Workshops

Thema 1: Tätigkeit von KRs Eltern
Thema 2: Israelaufenthalt von AE
Thema 3: Tätigkeit von KR

In diesem kurzen Gesprächsausschnitt werden drei verschiedene Themenkomplexe behandelt. KR bezieht sich in Zeile 37 auf eine vorangegangene Frage AEs, während AE in Zeile 38 auf eine andere Äußerung KRs eingeht. Gleichzeitig bezieht sich AE in Zeile 39 auf KRs Äußerung in Zeile 37. Ähnlich verhält es sich mit den restlichen Äußerungen. Beide Kommunikationsteilnehmer scheinen nicht abzuwarten, bis die Antwort des Gegenübers erfolgt. Dies ist darauf zurückzuführen, daß man sich in keiner Gesprächssituation völlig sicher sein kann, die volle Aufmerksamkeit des Partners zu erhalten. Es besteht immer die "nicht kontrollierbare Möglichkeit, daß einer der Teilnehmer sich unbemerkt gleichzeitig mit dritten unterhält." (Krotz, S.122/123) Durch eine schnelle Abfolge des Gesprächs wird versucht, die Aufmerksamkeit auf das Zweiergespräch zu lenken, um somit nicht durch einen unachtsamen Gesprächspartner von Kontrollverlust bedroht zu werden.

Neben der Tippgeschwindigkeit beeinflußt die elektronische Vermittlung die Äußerungsschnelligkeit der Kommunikationsteilnehmer. Eine Überlastung des Netzes oder des Servers und Geschwindigkeitsbeschränkungen des Internetzugangs kann zu Wartezeiten führen, bis die Kommunikationsteilnehmer dem Chat-Kanal beitreten können. Aufgrund des vorwiegend nicht zielgerichteten Kommunikationszwecks scheinen Wartezeiten vor Beginn der eigentlichen Kommunikation jedoch weniger schwerwiegend zu sein und können höchstens den Mißmut des betroffenen Kommunikationsteilnehmers herbeiführen.
Dahingegen können "Time-Lags" während des Gesprächsverlaufs zu schwerwiegenderen Kontrollverlusten führen. Unter diesen sind Übertragungsverzögerungen durch eine Serverüberlastung zu verstehen, die dazu führen, daß getippte Äußerungen erst mit einer zeitlichen Verzögerung von mehreren Sekunden auf dem Bildschirm des Gegenübers erscheinen. Ein schnelles Einschreiten in den Kommunikationsverlauf entscheidet jedoch darüber, ob einem Chatter Beachtung geschenkt wird oder nicht. Neben mangelnden Tippkenntnissen, die jeder Kommunikationsteilnehmer durch Übung verbessern könnte, entziehen sich technisch bedingte Übertragungsv
erzögerungen seinem direkten Kontrollbereich. So ist anzunehmen, daß sie zu einem größeren Ohnmachtsgefühl führen als unzureichende Tippkenntnisse.

Anonymität
Die Gesprächssituation im Chat ist durch die vorherrschende Anonymität geprägt, da die Teilnehmer mit selbst gewählten Namen in den Kommunikationsverlauf eintreten. Durch die Anonymität wird es möglich, dem Gegenüber ein kontrolliertes Bild der eigenen Identität zu übermitteln, da nur die Informationen bekannt werden, die der Chatter selbst preisgibt.
So kann es zu einem ungehemmteren Umgang miteinander kommen, da keine Äußerung direkt mit der realen Person in Beziehung gebracht werden kann.
Im Umgang mit anderen Chattern kann es jedoch aufgrund der anonymen Gesprächssituation auch zu Schwierigkeiten kommen. So gibt es weniger kommunikative Kontexte als in der Face-to-face-Kommunikation, an denen sich die Chatter bei der Einschätzung des Gesprächspartners orientieren könnten. Es ist schwer zu unterscheiden, "ob das, was übermittelt wird, ein situativ entwickelter Beitrag zum Gespräch oder eine standardisierte, angepaßte Mitteilung ist." (Krotz, S.122)
Grundsätzlich muß immer die Möglichkeit berücksichtigt werden, daß die Angaben der Teilnehmer bezüglich der dargestellten Identität nicht der Wahrheit entsprechen. Für den Gesprächspartner kann dies zu Kontrollverlust führen, wenn er sich auf die Angaben des anderen verläßt. Obwohl sich jeder Kommunikationsteilnehmer darüber im klaren sein müßte, daß Hinweise des Gesprächspartners bezüglich der eigenen Identität nicht unbedingt der "Realität" entsprechen, wird dies häufig als Täuschung und somit als Vertrauensbruch empfunden.

Die anonyme Gesprächssituation macht Experimente wie den Geschlechtertausch möglich. Dies bietet den Vorteil, Erfahrungen als Angehöriger des anderen Geschlechts zu sammeln, die im RL nicht möglich wären (Turkle, S.213). Reid verweist jedoch darauf, daß Geschlechtertausch häufig nicht ohne eigenen Kontrollverlust abläuft: "It is indeed a truly disorienting experience the first time one finds oneself being treated as a member of the opposite sex.(...) I did not know how to speak, whether to women or to 'other' men, and I was thrown off balance by the ways in which other people spoke to me."

Die Anonymität im Chat verhindert nicht, daß Chatter mit weiblichen Nicknames von Kontrollverlust durch männliche Annäherungsversuche bedroht werden. Da sich diese aber auf der kommunikativen Ebene bewegen, kann nicht von einem völligen Kontrollverlust ausgegangen werden. So besteht immer die Möglichkeit, sich nicht auf derartige Belästigungen einzulassen, indem die häufig gestellte Frage nach dem Geschlecht mit "männlich" beantwortet werden kann.

Beispiel 5:
6 ‹TU› areu m/f? ["areu": bedeutet "are you"]
7 ‹AE› m
8 ‹AE› and you?

Außerdem müssen Textfenster mit "privaten" Nachrichten nicht geöffnet werden und sind durch Befehlseingabe "/ignore Nickname" zu verhindern. Die Äußerungen des "ignorierten" Chatters erscheinen nicht mehr auf dem Bildschirm des Initiators oder der Initiatorin. Inwieweit sexuelle Belästigung im Chat als beängstigende Erfahrung gewertet wird, kann hier nicht geklärt werden. Zwar muß aufgrund der vorherrschenden Anonymität nicht mit Übergriffen im RL gerechnet werden, jedoch läßt sich nicht ausschließen, daß verbale Angriffe im Chat Auswirkungen auf die Lebenssituation der Betroffenen haben.

Hierarchischer Aufbau
In der Chat-Kommunikation kommt es wie in anderen menschlichen Gemeinschaften zum Aufbau von Hierarchien, die einen Einfluß auf die Ausübung von Kontrolle in den Kanälen und den dadurch bedingten Kontrollverlust haben. Dem Operator kommt so zum Beispiel die Funktion des "Kanalwächters" zu, der darauf achtet, daß die Kommunikationsteilnehmer ein für den Kanal angemessenes Verhalten verfolgen. In diesem Zusammenhang ist er durchaus positiv zu bewerten, da er den Kanal vor störenden Kommunikationsteilnehmern bewahrt. Allerdings zeigt sich anhand des Datenmaterials auch eine Ausnutzung der Machtposition, indem die Operators nach eigenem Ermessen über angemessenes oder unangemessenes Verhalten entscheiden.

Beispiel 6:
67 ‹LC› is hier wohl euer privatchannel!??
72 * LE weiß wieder jemanden zum kicken
74 ‹AD› LE: wen wen wen wen wen ????
76 ‹LE› AD: der scheint einer aufzumucken.. irgendwas mit privatchannel hat er gesagt...
[Channel: Bezeichnung für einen Gesprächsraum.
Kicken: Hinauswurf durch den Operator.]

LC kritisiert mit seiner Äußerung "is hier wohl euer privatchannel" die mangelnde Kommunikationsbereitschaft der Chatter. Grundsätzlich scheint an dieser Kritik keine gemeinschaftsgefährdende Absicht deutlich zu werden, doch LE zieht es in Erwägung, LC aus dem Kanal auszuschließen. Die Bereitschaft, auch kritische Ansichten zuzulassen, ist also nicht immer vorhanden. Auch wenn in diesem Fall der eigentliche Ausschluß LCs nicht erfolgt, wird zumindest eine indirekte Verwarnung ausgesprochen. Auch im nächsten Beispiel kann keine konkrete Normverletzung festgestellt werden.

Beispiel 7:
74  *** TS was kicked by IU (IU)
85  *** TS (icafe@spaghetti.icafe.spacenet.de) has joined #muenchen
89  ‹TS› was sollte das IU ?
91  ‹IU› TS: ich ?? ich war das nich das war der da
92  * TZ findet: wer schon von nem spagetti rechner joined .. gehoert sowieso gekicked
100 ‹IU› TS: du hast da nich viel zu sagen :))
103 ‹TS› sei ruhig IU
136 *** TS was kicked by IU (nich betteln du ja !!!)
141 *** TS (icafe@spaghetti.icafe.spacenet.de) has joined #muenchen
154 *** TS was kicked by TO (you are now identified as ENEMY target)
156 *** TS (icafe@spaghetti.icafe.spacenet.de) has joined #muenchen
157 *** TP sets mode: +b TS!
158 *** TS was kicked by UE (banned)

159 *** TP sets mode: -b TS!
[TS was kicked: symbolisiert den Hinauswurf durch den Operator; +b symbolisiert Verbannung eines Teilnehmers, im Gegensatz zu "kick" kann der Teilnehmer erst wieder dem Kanal beitreten, wenn der Bann wieder aufgelöst wird. Der Einsatz von "Kick" oder "+b" ist dem Operator vorbehalten; (icafe@spaghetti.icafe.spacenet.de): E-Mail-Adresse des Teilnehmers. #muenchen: Kanalbezeichnung.]

In diesem Gesprächsausschnitt wird TS keine Chance gelassen, dem Gesprächsverlauf länger beizuwohnen. Obwohl kein eindeutiger Normverstoß anhand seiner/ihrer Äußerungen deutlich wird, wirft IU ihn/sie in Zeile 74 das erste Mal aus dem Kanal. Weitere Hinauswürfe folgen in den Zeilen 154, 156 und 158. Der Protest von TS wird von IU mit "TS: du hast da nich viel zu sagen :))" abgewendet. Obwohl das Smileyzeichen den Gehalt der Äußerung zu mindern scheint, bewertet IUs Hinweis die Situation, in der sich TS befindet, in angemessener Weise: TS hat keinerlei Kontrolle über das Geschehen. Um dem Hinauswurf durch die Operators zu entgehen, muß der Kanal gewechselt werden. Von seiten der Operators mögen die "Kick-Attacken" gegen TS nicht allzu ernst gemeint sein. Dies zeigt sich vor allem daran, daß TS mittels "TP sets mode: -b TS!*@*" in den Kanal zurückgeholt wird, nachdem TP selbst die Verbannung eingeleitet hat. Es ist fraglich, inwieweit TS dieses jedoch als Spiel auffaßt. Er/sie versucht immer wieder, in den Kanal zurückzugelangen, und hofft so, doch noch in den eigentlichen Kommunikationsverlauf integriert zu werden.

Abschließend läßt sich festhalten, daß die Chatlines nicht demokratischer oder offener als andere Gemeinschaften sind, sondern sich zum Teil sogar restriktiver und willkürlicher verhalten. Regelwidriges Verhalten oder nur vermutet anomisches wird oft mit sofortigem Ausschluß aus der Kanalgemeinschaft geahndet, ohne dem Betroffenen die Möglichkeit zur Verteidigung zu geben. Größere Freiheit als im "realen Leben" wird den Kommunikationsteilnehmern auch nicht im Umgang mit Sprache und Zeichen außerhalb bereits konventionalisierter Veränderungen - Abkürzungen, Emoticons und Comicsprache - zugestanden, wie folgendes Beispiel deutlich macht.

Beispiel 8:
25 ‹OE› 12,0(―`'·.Έ(―`'·.Έ ______________ Έ.·'΄―)Έ.·'΄―)
27 ‹OE› 13,0(―`'·.Έ(―`'·.Έ1,0Ÿ2,0Ÿ3,0Ÿ4,0Ÿ5,0Ÿ6,0Ÿ7,0Ÿ
8,0Ÿ9,0Ÿ10,0Ÿ11,0Ÿ12,0Ÿ13,0Ÿ14,0Ÿ29Έ.·'΄―)Έ.·'΄―)
28 ‹OE› 4,0 ----==>>>>-----> lorrein <------<<<<==----
29 ‹OE› 13,0(_Έ.·'΄(_Έ.·'΄1,0Ÿ2,0Ÿ3,0Ÿ4,0Ÿ5,0Ÿ6,0Ÿ7,0Ÿ
8,0Ÿ9,0Ÿ10,0Ÿ11,0Ÿ12,0Ÿ13,0Ÿ14,0Ÿ33`'·.Έ_)`'·.Έ_)
30 ‹OE› 12,0(_Έ.·'΄(_Έ.·'΄ ―――――――――――――― `'·.Έ_)`'·.Έ_)
31 *** OE was kicked by OG (Textflood detected!14,15>2,15OG 14,15‹
Bad person:127) [Zu "Kick": Jeder Operator eines Kanals kann störende Chatter mittels Befehl "/kick Nickname" zumindest kurzfristig aus dem Kanal befördern.]

Trotz OEs kreativer Fähigkeiten wird er/sie aus dem Kanal geworfen. Dies liegt vermutlich daran, daß er/sie sein "Kunstwerk" nicht mit einleitenden Worten näher erklärt, sondern unerwartet in den Kommunikationsverlauf einfließen läßt.

Macht manifestiert sich vor allem in der Funktion der Operators, die sie teilweise willkürlich gegen einzelne Kommunikationsteilnehmer einsetzen. Willkür entsteht vor allem dann, wenn ohne ersichtlichen Grund die Operatorfunktion ausgenutzt wird, um mißfallende Gesprächsteilnehmer aus dem Kanal auszuschließen. Macht konzipiert sich zudem indirekt durch die elektronische Vermittlung der Chat-Kommunikation, die verhindert, daß die Kommunikationsteilnehmer völlig "frei" kommunizieren können.




Literatur
Dibbell, Julian: A rape in cyberspace. Or how and evil clown, a Haitian trickster spirit, two wizards, and a cast of dozens turned a database into a society. 1993. (http://www.uni-koeln.de/themen/cmc/ text/dibbell.93.txt).
Krotz, Friedrich: Hundert Jahre Verschwinden von Raum und Zeit? Kommunikation in den Datennetzen in der Perspektive der Nutzer. In: Beck, K./Vowe, G. (Hrsg.): Computernetze. Ein Medium öffentlicher Kommunikation? Berlin 1997.
Reid, Elizabeth: Cultural formations in text-based virtual realities. 1994. (http://fun91.kuvikko. hoas.fi/ ~donwulff/irc/cult-form.html). Reinhold, Gerd: Soziologie-Lexikon. München, Wien 1991.
Turkle, Sherry: Life on the screen. Identity in the age of internet. London: 1996.
Zoeppritz, Magdalena: Kommunikation mit der Maschine. In: Fiehler, Reinhard / Weingarten, Rüdiger (Hrsg.): Technisierte Kommunikation. Opladen: 1988.



Der hier veröffentlichte Artikel stellt einen Ausschnitt einer umfangreichen Untersuchung dar, die im Rahmen meiner Magisterarbeit entstanden ist. Ausführlichere Angaben zum Thema über Post und e-mail bei der Redaktion: medienobservationen@lrz.uni-muenchen.de

   


  

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