Charles M. Schulz / Peanuts / Charlie Brown / Snoopy / Santa Rosa


Oliver Jahraus

Die Peanuts trauern
Nachruf auf Charles M. Schulz, den Schöpfer von Snoopy, Charlie Brown & Co.



Abstract: Anläßlich des Todes von Charles M. Schulz läßt dieser Essay Charlie Brown und seine Peanuts-Freude noch einmal aus einer philosophischen Perspektive Revue passieren. Charlie Brown erscheint dabei als tragischer Held in der Einsamkeit, der exemplarisch deutlich macht, daß das Leid der Menschen einzig aus dem unerfüllten und erfüllbaren Wunsch resultiert, geliebt zu werden. Und daher werden die Peanuts, das Lebenswerk von Charles M. Schulz, auch als Philosophie eigener Art gewürdigt.


Am Samstag, 12. Februar 2000, ist Charles M. Schulz in seinem Heimatort Santa Rosa in Kalifornien gestorben. Schulz war nicht nur ein genialer Cartoonist, sondern darüber hinaus ein begnadeter Zeichner, und das gilt nicht nur für seine Figuren, die Peanuts, sondern auch für die Landschaften, in denen sich seine Figuren bewegen. Da man von den autobiographischen Bezügen von Schulz zu seinen Kreaturen weiß, auch wenn einige davon sehr inszeniert erscheinen, habe ich mir immer vorgestellt, daß der Wohnort von Schulz so aussehen muß wie die nähere Heimat der Peanuts, und ich dachte immer, das müsse wohl Neuengland oder etwas Ähnliches sein, nicht aber Kalifornien. Diese sauberen Gesteige, diese gar nicht kleinen, aber feinen Bürgerhäuser im Grünen, die gepflegten Anlagen, die Sportmöglichkeiten, die modernen öffentlichen Gebäude wie Schule, Krankenhaus, Bibliothek, der wunderbare, kindersichere öffentliche Nahverkehr, das sah alles nach einer solch eminent durchdringlichen, ja fast schon penetranten Bürgerlichkeit aus, die ich nicht in Kalifornien vermutet hätte, immerhin das Land von San Francisco, Los Angeles, Big Sur, Bay Watch u.a. Mittlerweile kenne ich Santa Rosa und hatte sogar die Ehre, dort einmal Schulz selbst sehen zu können, und seither weiß ich, genau das ist auch das Lebensumfeld der Peanuts. Was das landschaftliche und das soziale Milieu angeht, war Schulz ein Realist, poetisch und naturalistisch zugleich. Wer Santa Rosa nicht kennt, soll sich vor allem die Fernsehfolgen der Peanuts ansehen, in denen sie ihre heimatlichen Abenteuer erleben. So schaut auch Santa Rosa aus, ungefähr 90 km nördlich von San Francisco gelegen, 125.000 Einwohner, kaum ein Gebäude höher als zwei Stockwerke, dafür eine überdimensionierte Ausdehnung, kaum ein Zentrum (ein down town), dafür elend langweilige streets und avenues. (Einzige Ausnahme: Das Redwood Empire Eistadion, das zum Snoopy-Imperium gehört und dessen bayrische Innenverkleidung sehr verwirrt, und daneben Snoopy's Gift Shop and Gallery, ein Museumskaufladen, der Snoopy in allen denkbaren Variationen verkauft; 1665 West Steele Lane, Santa Rosa, Ca. (707) 546-3385.)

Gepflegteste Bürgerlichkeit also. Und darauf kommt es an. Sie charakterisiert auf angenehme Weise jenen freundlichen Herrn Schulz, aber mehr noch: Ich bin fest davon überzeugt, daß dieses bürgerliche Umfeld nicht nur Lebensraum, sondern auch die Voraussetzung für den liebenswürdigen Herrn Schulz war, die Peanuts zu zeichnen. Schulz war in seinen Cartoons ein Meister der Diskrepanz zwischen bürgerlicher Ordnung und tiefem Leid. Und deswegen ist diese Bürgerlichkeit auch die Voraussetzung dafür, um überhaupt diese gigantischen Dimensionen des menschlichen Leids entstehen zu lassen, deren paradigmatisches und exemplarisches Opfer Charlie Brown war, ist und bleiben wird. Die Kinder leben eine behütete Kindheit, doch was einer unter ihnen erfährt, überstiege an Tragik menschliches Fassungsvermögen. Eine fast messianische Gestalt, denn sie nimmt uns einiges von dem ab, was allein zu tragen wir ohnehin zu schwach sind: das Leid des Menschen in seiner lieblosen Einsamkeit. Das kann überhaupt nur aufscheinen in der Wohlgeordnetheit anständigster Mittelklassebürgerlichkeit. Nur hier kann ein solcher Messias auftreten. Aber messianisch wird Charlie Brown nicht durch die Verkündigung von Erlösung, denn wer so viel Leid trägt, dem fällt es nicht ein zu verkünden, sondern bestenfalls bitterlich zu jammern, und das tut Charlie Brown ausführlich seit 1950. Messianisch wird er vielmehr dadurch, daß er Leid abnimmt, indem er es trägt, und auf die Art und Weise, wie er es trägt. Und die Art und Weise, wie er es trägt, hängt unmittelbar mit dem zeichnerischen Stil von Schulz, aber ebenso mit der Botschaft zusammen, die sich mit diesem Stil vermittelt. Charlie Brown ist furchtbar tragisch und furchtbar komisch. Komisch klingt komisch. Gemeint ist wohl eher das, was im Englischen Comic Strip mitschwingt, also auch das Pointierte, dessen Meister Schulz zweifellos war: Die tragische Situation, die so tragisch ist, daß sie sofort umkippt in das funny.

Das schlimmste Leid des Menschen - und eben hierfür steht Charlie Brown stellvertretend und messianisch - ist seine Einsamkeit. Diese Einsamkeit ist ein notwendiges Korrelat der Bürgerlichkeit. Charlie Brown ist nicht einsam wie die Selbstinszenierungen von Woody Allen, die feststellen, daß sie niemals einem Club angehören wollen, der Leute aufnimmt wie sie. Es ist eine tiefere, eine tragischere Einsamkeit. Es ist die Einsamkeit der Lieblosigkeit. Daß Charlie Brown diese Einsamkeit so exemplarisch verkörpern kann, liegt an seiner widersprüchlichen Umwelt. In seiner Umwelt gibt es zwar Liebe unter den Menschen, aber sie ist oberflächlich wie die von Peppermint Patty, die immer glaubt, alle seien in sie verliebt, und die Charlie Brown so trügerisch 'Schatz' nennt, daß es ihm noch nicht einmal einfällt, auch nur mit der Wimper zu zucken.

Aber es gibt auch Liebe, die nicht und niemals zustande kommt, z.B. die von Lucy für Schröder. Insofern wäre auch Lucy eine tragische Gestalt, wenn sie nicht vielmehr das Prinzip wäre, das uns unsere Einsamkeit immer wieder so hämisch und gemein vor Augen führt. Lucy ist daher die große Antagonistin Charlie Browns. Sie wiederholt ständig seine Einsamkeit in einem Ritual körperlicher Performance, indem sie Charlie Brown immer wieder stolpern, ja durch die Luft sausen läßt, indem sie ihm den Ball wegzieht, den sie ihm eigentlich zum Treten hinhalten wollte. Charlie Brown sitzt in der Falle, denn jedesmal glaubt er, daß sie nun wisse, daß er wisse, daß sie ihm den Ball wegziehen würde, was ihn zu der Annahme verleitet, daß sie nun den Ball eben nicht mehr wegziehen würde können. Aber sie zieht ihn weg. Jedesmal! Lucy ist das verkörperte Realitätsprinzip, an dem unsere Versuche, die Realität zu meistern, kläglich zuschanden werden. Charlie Brown muß durch die Luft segeln. Und jedesmal Mal hören wir seinen markerschütternden Verzweiflungsschrei. Die Verzweiflung ist auch in deutscher Übersetzung zu spüren!

Damit ist Lucy aber nicht mehr nur allein Antagonistin. Sie ist notwendige Partnerin, sie ist sein Korrelat. Die Welt könnte anders sein, würde Lucy einmal, nur ein einziges Mal aus Liebe Charlie Brown gegenüber handeln. Sie hat es kein einziges Mal getan, nicht einmal in 50 Jahren. Aber Lucy trägt viel, wenn nicht Entscheidendes zur messianischen Einsamkeit Charlie Browns bei. Interessanterweise besitzt sie auch einen kleinen Stand, an dem sie 'psychiatric help' für 5 Cents anbietet und spendet. Ihre Ratschläge sind so praktisch und lebenstüchtig wie hoffnungslos unbrauchbar für jemanden wie Charlie Brown. Das läßt sich nicht allein auf das amerikanische Motiv der Psychiatriekritik beschränken, die sich aus der amerikanischen Sucht nach Psychiatrie sich erklären läßt, welche wiederum aus dem Verfassungszwang zum Glücklichsein (steht dort!) resultiert. Die Untauglichkeit von Lucys Seelenheilkunde besteht gerade darin, daß sie keine Seele hat und deswegen als Partnerfigur so hervorragend geeignet ist, den Seelenschmerz Charlie Browns offenzulegen.

Charlie Brown hat das einzige Problem, das alle Menschen in ihrem Menschsein haben. Er will nur geliebt werden. Ist das zuviel verlangt? Ja! Seine Einsamkeit ist die Einsamkeit desjenigen, dessen Liebe in den Weiten des Universums verpufft. Wir wissen, daß Liebe nichts anderes ist als der maßlose Wunsch, selbst geliebt zu werden. Nur wer geliebt wird, ist nicht einsam. Die Einsamkeit Charlie Browns ist der Beleg dafür, daß das Wechselspiel von Liebe und Geliebtwerden eine existentielle Chimäre ist.

Charlie Brown ist daher absolut einsam. Was seinen Erfolg aber wohl in all den Jahrzehnten ausgemacht hat, ist die Tatsache, daß diese Einsamkeit so gelagert ist, daß wir sie mit ihm teilen können. Charlie Brown erlaubt es uns anderen, nicht ganz so absolut einsam zu sein, wie er selbst es ist. Und darin gründet auch sein komisches Moment.

Hier kommt nun sein anderer Mit- und Gegenspieler ins Spiel: Snoopy. Er ist nicht einsam, denn er ist der einzige, der einen Freund hat: Woodstock - ein Vogel, der gar nicht richtig fliegen kann. Das paßt! (Daß Linus der Freund Charlie Browns ist, kann wohl nicht gesagt werden, hält er doch niemals dazu her, Charlie Browns Einsamkeit zu durchbrechen. Und Linus' Freund wiederum ist ohnehin allein seine Schmusedecke.) Snoopy hat eine andere Methode, der Einsamkeit zu entgehen, eine Methode, die Einsamkeit gar nicht erst zuläßt, und sie heißt Größenwahnsinn. Snoopy ist größenwahnsinnig, und dieser Wahnsinn hat Methode und hat Realität. Snoopy kann den roten Baron jagen, sich in einem Gentleman verwandeln und mit seinen Ohren einen Hubschrauber imitieren. Und vieles mehr. Zudem ist dieser Wahnsinn mit umfassender Phantasie begabt, die immer wieder die Realität ersatzlos streicht. Dennoch erlebt auch Snoopy Niederlagen, z.B. wenn der Editor schon wieder eine Geschichte von ihm ablehnt oder wenn ihn die böse Nachbarskatze in die Fänge bekommt. Doch Snoopy überwindet seine Niederlagen, indem er sie schwupps verdrängt, während Charlie Brown die seinigen mit einem großen Seufzer immer nur hilflosest kommentieren kann. Snoopy ist das konstruktivistische Lebensprinzip, ein amerikanischer Hund par excellence. Anders ist es auch gar nicht zu erklären, wie er auf der schmalen Dachfirstkante seiner Hundehütte gemütlich liegen und schlafen kann. Snoopy ist das Komplement zu Charlie Brown. Es sind unterschiedliche, komplementäre Identifikationsmuster, die jeweils greifen. Mit Charlie Brown seufzen wir, mit Snoopy grinsen wir.

Mit den Peanuts liegt uns eine Existentialanalytik vor, die an Radikalität und Schärfe nichts, aber auch gar nichts vermissen läßt und tausende von philosophischen Entwürfen Makulatur werden läßt. Charles M. Schulz hatte die Ehrendoktorwürde einer philosophischen Fakultät, aber er wollte sich nicht als Philosophen sehen. Und doch starb mit ihm einer der größten Philosophen der Moderne. Zurecht wollte er sich nicht als Philosoph sehen und wollte vielmehr als Cartoonist gelten und zurecht kann ich ihn doch als einen der größten Philosophen bezeichnen, weil er zweierlei geschafft hat, was Ziel einer jeder Philosophie sein sollte und woran Philosophie seit dem Anbeginn jeglicher Metaphysik beständig, aber konstitutiv scheitert: Nämlich die wahre Natur der menschlichen Existenz zu zeigen, also den Sinn des Lebens in seiner Vergeblichkeit, das menschliche Leid in all seiner lächerlich-furchtbaren Seichtigkeit und Tiefe. Und außerdem hat er es geschafft, das, was so gezeigt wird, auch noch verträglich zu machen, damit es uns nicht allzu sehr schaudert. Wir schaudern nicht, im Gegenteil, mit wie vielen Millionen anderer lesen und sehen wir Charlie Brown gern, schmunzeln und lachen über ihn und seine Abenteuer und wissen oder ahnen zumindest, wir wollen doch alle nur das eine: geliebt werden.

A propos, geliebt werden. Charles M. Schulz hat gerne jenen Ursprungsmythos erzählt, wonach er, weil zu schüchtern, unglücklich verliebt war in ein unerreichbares Mädchen, und gerade deswegen angefangen hat zu zeichnen. Die Welt ist kalt und lieblos. Das wissen wir jetzt. Aber die Welt ist auch manchmal von einer geradezu hypertrophen Rachsüchtigkeit, deren Brutalität nichts zu wünschen übrig läßt. Hätte diese dumme Göre die Liebe von Charles M. Schulz erwidert, sie wäre heute eine milliardenschwere Witwe. Oder hätte Charles M. Schulz dann wirklich nicht gezeichnet? Nein, nein, Charles M. Schulz konnte gar nicht anders, sonst hätten nicht erst Krankheit und Tod kommen müssen, um ihm den Griffel aus der Hand zu nehmen.

Coda:
Das ist nun mein dritter Nachruf, den ich für die MedienObservationen schreibe. Nach Diana und Luhmann jetzt Charles M. Schulz. Ich möchte damit in einer besonderen Weise dem Programm nachkommen, wie ihn der Titel der MedienObservationen selbst zum Ausdruck bringt. Alle drei Todesfälle waren mehr oder minder Medienereignisse, freilich in weitgespannter Abstufung. Und es gibt bei allen drei Todesfällen eine metonymische Beziehung zwischen den Medien und dem Werk der Toten, und diese Beziehung war für alle drei ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens, den sie als Fluch oder Segen, Last oder Aufgabe empfunden haben, dem mit Angst oder Freude, mit Abscheu oder Neugierde begegnet sind. So kommen die MedienObservationen nicht umhin, auch den Tod zu beobachten, insofern auch er oder gerade er uns zu den Medien führt.



Ausführlichere Angaben zum Thema über Post und e-mail bei der Redaktion: medienobservationen@lrz.uni-muenchen.de oder beim Autor Oliver Jahraus.
   


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