Architektur / Architekturtheorie


Daniel Krause

Daniel Libeskind
Architektur als "Ereignis"

Libeskinds Bauten sind in besonderer Weise Text, und sie verbinden verschiedene Medien. Tatsächlich gibt es sonst keine Architektur mit einer derart „intermedialen“ Charakteristik. Darum verdient Libeskind Aufmerksamkeit, obwohl ihm Theatralität und Eklektik zum Vorwurf gemacht werden und seine Einlassungen nach Inhalt und Form eher kryptisch sind. Anhand programmatischer Selbstauskünfte sollen die architekturtheoretischen Grundannahmen Libeskinds sichtbar gemacht werden. Der Begriff „Ereignis“ hat dabei besonderen heuristischen Wert.


1. Einleitung

Daniel Libeskind ist der berühmteste Architekt der Dekonstruktion. (1) Seit Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao und Eisenmans Berliner Holocaust-Mahnmal haben die Gewichte sich etwas verschoben, aber Libeskinds Jüdisches Museum in Berlin (1988-1999) war der erste dekonstruktionistische Bau, der auch außerhalb der Architekturszene wahrgenommen wurde, und zwar weltweit. Libeskinds (letztlich erfolgloses) Engagement an Ground Zero hat seine Reputation jüngst wieder gestärkt, vor allem in Amerika, wo er höhere Wertschätzung genießt als Eisenman oder Zaha Hadid. Es gibt aber auch sachliche Gründe, sich mit Libeskinds Architektur auseinanderzusetzen: In gewisser Hinsicht ist er der Prototyp eines Dekonstruktionisten: Anders als Gehry und Eisenman erhielt er jahrzehntelang keine Gelegenheit zu bauen. Seine frühen Entwürfe sind daher aller Sachzwänge statischer und funktionaler Art enthoben. Sie gehören zum Wildesten, Phantastischsten, was Architekten erdacht haben. Zur `Verwirklichung’ sind sie nicht geeignet. Darin sind sie repräsentativ für die Architektur der Dekonstruktion: Die Materialisierung von Entwurfsideen ist deren Grundproblem. Solche Architektur spielt sich zuerst und vor allem im Kopf ab. (Und viele meinen, als Gedanke überzeuge sie mehr denn als `in Wirklichkeit’.) (2) Zweitens lohnt es, Libeskinds Auffassung von Architektur als Text zu würdigen. Sie verbindet derridistisches Gedankengut (der „dislozierende“ Text, die Uneinholbarkeit der Bedeutung) – man kennt es von Eisenman – mit der „postmodernen“ Idee einer „sprachlichen Architektur“. Drittens sind Libeskinds Bauten in hohem Maße „intermedial“: Sie sind Raum, Materie, Text und Klang gleichermaßen. Auch gehen topographische und historische Gegebenheiten des städtischen Umfelds in den Entwurfsprozess ein. So entsteht – musikalisch gesprochen – eine Polyphonie (mancher wird sagen: Kakophonie) der verschiedensten Medien. Darin kommt niemand Libeskind gleich. Seine Bauten sind viertens besonders geeignet, einen Zentralbegriff der zeitgenössischen kontinentalen Philosophie verständlich zu machen: das „Ereignis“.
Die folgende Darstellung will einige dieser Aspekte verdeutlichen. Sie schließt mit der Frage, ob Dekonstruktion charakteristisch jüdisch ist.


2. Lektüre

Wie Jencks und Eisenman verweigert sich Libeskind der modernen Idee `absoluter’ Architektur. Seine Architektur kommuniziert, nimmt Bedeutungen an:

Architecture is a communicative art. All too often, however, architecture is seen as mute. Buildings are understood as disposable consumer items whose sole fate is to disappear with their use. (3) (Libeskind 2002)

Die `Bedeutungen’ der Architektur – ihr Text – können nicht ohne weiteres verbalisiert werden. Libeskind betont die Schwierigkeiten des Redens über Architektur:

As I was thinking about what to say today I realized how difficult it is for an architect to speak about his work without the usual paraphernalia of slide projectors and images. Architecture, which is evoked only by words, makes one almost feel 'at home' in language. By surrounding oneself with language one almost comes to believe that one has escaped from the opacity of space and that what remains 'out there' is only an empty stage set. […]
The experience of alienation from architecture, as a dimension of culture, should be contrasted with the stark and astonished encounter with IT - crowned-out, spewed-out into night - resistant to theorization. For then, one might see that architecture […] can be interpreted, but itself continues to remain oblivious to the interpretation. It continues to live its own existence whether we share it or not. (Libeskind 1997)

So kann es nicht überraschen, dass Libeskinds Ausführungen über Architektur vage bleiben: Sie gleichen metaphorischen Umschreibungen al fresco. Ihr rhapsodischer Duktus ist grundverschieden von Eisenmans Bemühungen um begriffliche Durchdringung und Jencks Entwürfen zu einer Klassifikation architektonischer Zeichen. (4) Um architekturtheoretische Rechtfertigungen seines Vorgehens ist Libeskind allerdings nicht verlegen:

No abstract theory, game of forms, application of technology or pragmatics is sufficient to communicate the fact that architecture is a movement beyond the material. It is length, height and width, but also the depth of aspiration and memory. The living source of architecture is the very substance of the soul and constitutes the structure of culture itself. (Libeskind 1999)

Oder:

A building can be experienced as an unfinished journey. It can awaken our desires, propose imaginary conclusions. […] A building can awaken us to the fact that it has never been anything more than a huge question mark. (1999)

Oder:

Architecture is generated, sustained and propelled into the future by dreams and aspirations; by awakenings and realizations; by the visible and the invisible. (5) (1999)

Oder:

The power of building is certainly more than meets the eye. It is the non-thematized, the twilight, the marginal, event. (1997)

Als „Fragezeichen“, „Zwielicht“, „Unsichtbares“, „Traum“ und „Sehnsucht“ kann Architektur kaum Gegenstand eines wissenschaftlichen oder alltagssprachlichen Diskurses werden. In gewisser Weise ist sie das Uneinholbare schlechthin:

Is architecture not the quintessential 'taken for granted', the unthinkable, the monstrous, the gender-less, the repressed, the other? (1997)

Architektur in Libeskinds Sinne ist also durch eine eigenartige Ambivalenz gekennzeichnet: Auf der einen Seite steht Jenckssche Beredsamkeit – viele sagen: Redselig- oder Geschwätzigkeit –, auf der andern die dekonstruktionistische Grundüberzeugung, dass sich die Bedeutung der `Rede’ der Architektur stets entzieht. Die Idee von der (sprach-) transzendenten Qualität der Architektur erfährt dabei eine eigentümliche Überhöhung. Sie motiviert das Pathos von Libeskinds Einlassungen. (6) In der zeitgenössischen Architekturszene sucht es seinesgleichen. Recht besehen setzt es ein scheinbar antiquiertes Kunstverständnis voraus:

Architecture is and remains the ethical, the true, the good and the beautiful, no matter what those who know the price of everything and the value of nothing may say. (1997)

In gewisser Weise überbietet Libeskind die `Alten’ sogar: Schon bei Kant wurden die Sphären der Ontologie/Erkenntnistheorie, der Ethik und Ästhetik voneinander getrennt. (7) Auch der Geniebegriff ist Libeskind keineswegs fremd. So hält er hartnäckig an der kreativen Autorität des Architekten fest: Der Computer wird zum bloßen Hilfsmittel degradiert. Es scheint zwar forciert, aus Libeskinds `personalisierten’ Entwurfsverfahren auf den Genie-Begriff zurückzuschließen. Doch dekonstruktionistische Architektur ist größtenteils computergeneriert, und der Versuch, das Genie (das Subjekt, den Künstler) mit Hilfe des Computers `auszulöschen’, wird zumindest bei Eisenman zum Programm erhoben. Auch außerhalb des dekonstruktionistischen Umfelds – etwa beim weltweit angesehensten `Ingenieurarchitekten’: Norman Foster – wirkt der Computer entscheidend in den Entwurfsprozess hinein. Unter den `Weltarchitekten’ der Gegenwart dürfte keiner sein, dem das eigene `demiurgische’ Vermögen mehr gilt als Libeskind.

Libeskinds Architektur steht für „Intermedialität“ – ein Schlagwort, das heute ganze Diskurse bestimmt. Kein Künstler ist dafür einschlägiger. (8) Ein Musterbeispiel ist das Jüdische Museum in Berlin, das als Zeichnung im imaginären Raum konzipiert wurde (daher der Projektname: „Between the Lines“), zugleich als Antwort auf Schönbergs „Moses und Aaron“. (9) Es verarbeitet mehrere Textsorten: literarischen Text (Walter Benjamins „Einbahnstraße“), dokumentarischen (eine Liste der aus Berlin deportierten Juden) und die historische `Textur’ der Stadt. (10) So ist es massiv übercodiert – intermedial. Interferenzen zwischen verschiedenen Medien kommen hier aber nicht dadurch zustande, dass Schriften auf Bilder platziert oder Räume mit Sounddesigns ausgestattet werden: Intermedialität hat ihren Ort im Entwurfsprozess und im Imaginären. In gewisser Weise ist dieses Gebäude nahe daran, sich in ein `Traumgespinst’ zu entmaterialisieren:

Lines of history and of events; lines of experience and of the look; lines of drawing and of construction. These vectors form a patterned course towards 'the unsubsided' which paradoxically grows more heavy as it becomes more light. I think of it as that which cannot be buried: that which cannot be extinguished: Call it Architecture if you want. Berlin Museum and the Jewish Museum: addresses; matrix of light; names; echoes of the Void; intermarriage; assimilation; integration; exile; erasure; hope. What is lost in the sky, slender images as blue as shadows, vernal ice, divine ice, spring ice: They are leading a storm cloud by a leash. The music and light of Schoenberg's inaudible space, soundless bridges which illuminate the darker corners of thought. (1997) (11)

Zugleich verfügt das Jüdische Museum über eine harte, kompromisslose Materialität. Keine Architektur erzielt stärkere körperliche und synästhetische Wirkungen: Die Raumfolge im Untergeschoss und die „voids“ – `funktionslose’ Leeräume von beklemmender Wirkung – scheinen darauf angelegt, alle Sinne und das Körperempfinden selbst zu manipulieren. (12) Von da erhellt auch der Vorwurf der Theatralität, der Effekthascherei.

In der Zusammenschau der genannten Momente – Beredsamkeit, Uneinholbarkeit der Bedeutung, Immaterialität und Materialität, Singularität – wird deutlich, dass unter allen Begriffen Heideggers „Ereignis“ am besten geeignet ist, die Besonderheit von Libeskinds Architektur zum Ausdruck zu bringen. Das „Ereignis“ ist kein „Begriff“ im herkömmlichen Sinne. Es ist ein „Grundwort“, das vieles – und Widersprüchliches – `anklingen’ lässt. Sein wohlkalkulierter Assoziationsreichtum prädestiniert es zum `Schlüsselbegriff’ für Libeskinds disparate Architektur (-theorie). Dabei muss man nicht in jedem Detail Heideggers Ausführungen folgen – Libeskind selbst könnte das mit Blick auf dessen Verstrickung in den Nationalsozialismus kaum goutieren. (13) Längst ist das „Ereignis“ zu einem Zentralbegriff der kontinentalen Philosophie und selbst der feuilletonistischen Reflexion über Kunst avanciert, ähnlich der „Differenz“ oder „Iterabilität“. Heute firmiert es als Inbegriff einer „Wahrheit“, die sich nur für den Augenblick mitteilt, sich gibt und sich wieder entzieht; einer Wahrheit, die sich begrifflich nicht orten lässt; die einzig den Künsten erreichbar ist. Solche „Wahrheit“ ist vieles (Text, Musik, Gedanke, Materie; Gegenwart, Abwesenheit), und alles dies nicht. (14) Dass der Grundriss des Jüdischen Museums die Form eines Blitzes annimmt, kann so gesehen nicht überraschen. Der Blitz ist Zeichen einer augenblickshaften Emanation, Libeskind würde kaum zögern zu sagen: Epiphanie. Vor diesem Hintergrund erhellt auch sein Künstlerstolz, das Wissen um die unverbrüchliche Würde und Verantwortung des eigenen Tuns, das Pathos, die poetisierende Rede.


3. Schluss

Die Protagonisten dekonstruktionistischer Architektur entstammen jüdischen Familien: Libeskind, Eisenman, Gehry, Zaha Hadid. Das gilt auch für Derrida, den philosophischen Wortführer der Dekonstruktion. So drängt sich die Frage auf, ob dekonstruktionistisches Denken charakteristisch jüdische Züge hat. Die Frage ist heikel, umso mehr, als die `Markierung’ „jüdisch“ historisch belastet ist. Doch die statistische Evidenz für einen Zusammenhang zwischen Judentum und Dekonstruktion ist überwältigend, und einige der genannten Autoren stellen selbst einen solchen Zusammenhang her:

In meinen Jugendjahren fühlte ich mich nicht als Jude, meine Eltern waren assimiliert. Wir sind nie in den Tempel gegangen, und natürlich gab es bei uns zu Weihnachten einen Tannenbaum. Dennoch spüre ich so etwas wie eine jüdische Empfindsamkeit. Und die hat sich durch meine Erfahrung mit diesem Projekt [dem Berliner Mahnmal, d. V.] noch gesteigert. […] Ich fühle mich oft fremd in meiner Stadt und in meinem Land, so als lebte ich in einer Art Diaspora. Ich fühle mich nirgendwo mehr daheim. Und ich mag dieses Gefühl. (15) (Eisenman 2004, S. 48)

Es fällt auf, dass stets auf den Erfahrungshintergrund von Randständigkeit, Diskriminierung und Verfolgung verwiesen wird. Die geistesgeschichtliche Dimension, die Tradition jüdischen Denkens wird nicht in Anspruch genommen. Das mag mit einer verständlichen Scheu vor der `Theologie’ zu tun haben. Zwar gibt es eine jüdische Aufklärung, diese hat aber anders als das Werk Voltaires, Rousseaus, Kants keine universelle Geltung erlangt. So besteht die Gefahr, dass, wer sich auf jüdische Traditionen beruft, als unseriös, als Obskurantist angesehen wird. Auch liegt bekennenden Atheisten wie Eisenman kaum etwas ferner, als Glaubenssätze zu zitieren. Doch nimmt die jüdische `Theologie’ wesentliche Figuren der Dekonstruktion vorweg: Der Begriff „Schrift“ ist von überragender Bedeutung, und der Sinn der heiligen Schriften ist nicht `gegeben’; er entzieht sich dauerhaft. (16) Zugleich gibt es, ganz wie bei Libeskind, ein utopisches Moment, die Hoffnung auf eine Präsenz, die – zumindest für Augenblicke – jede Abwesenheit überwindet. Darin liegt der eschatologische Gehalt der jüdischen Theologie, ihr Messianismus. Dass es ausgerechnet ein „Jüdisches Museum“ ist, das als erstes Bauwerk der Dekonstruktion Furore machte, mag man vor diesem Hintergrund kaum noch für Zufall halten. Damit ist aber nicht erwiesen, dass die Rede von „’jüdischer’ Architektur“ legitim wäre. Keiner der fraglichen Architekten würde eine solche Einordnung hinnehmen. Tatsächlich gibt es auch andere Einflussfaktoren: Aufklärung, Psychoanalyse, Avantgarde – v. a. den russischen Konstruktivismus – und (post-) strukturalistische Philosophie. Wenn es gilt, Dekonstruktion zu verstehen, sind biographische und geistesgeschichtliche Zusammenhänge mit dem Judentum ein heuristisches Mittel unter anderen – doch eines der wichtigsten.


Fußnoten

  1. In Übereinstimmung mit Eisenman und gegen den herkömmlichen Sprachgebrauch ist hier nicht von „dekonstruktivistischer“, sondern von „dekonstruktionistischer“ Architektur die Rede. Dekonstruktion und Architektur werden seit einer Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art (1988) miteinander in Verbindung gebracht. Ihr Kurator: Philip Johnson hat 1932 ebendort den Begriff des „Internationalen Stils“ geprägt und später die Diskussion um „Postmoderne“ entscheidend mitbestimmt. Tatsächlich wurde auch die Ausstellung zu „Deconstructivist Architecture“ als Proklamation eines neuen Stils rezipiert: Er sollte die Postmoderne ablösen. Die betroffenen Architekten sind allerdings nicht bereit, sich einem Stil-Begriff zuordnen zu lassen. Am deutlichsten wird das bei Eisenman: „Ich glaube, in dem Augenblick, wo die Dekonstruktion ein Stil und eine Mode wird, können wir sie angreifen. Vor der Schau [im Moma, d. V.] war sie kein Stil und keine Mode, sie war eine Arbeitsweise. Ich meine, Dekonstruktion ist ein Prozess, der viele Stile haben könnte.“ Eisenman 1987, S. 263. (top)
  2. Kein Zufall, dass die ersten dekonstruktionistischen Bauten – Eisenmans Houses der Sechziger und Siebziger Jahre – zeitgleich mit der Concept Art (Kossuth etc.) enstehen, jener Tendenz in den bildenden Künsten, die auf Materialisierungen künstlerischer Ideen weitgehend verzichtet, auf den Begriff eines in sich geschlossenen Werks sowieso. Dass der Werk-Begriff (und die Begriffe „System“ und „Methode“) zur gleichen Zeit auch in der philosophischen Dekonstruktion Derridas unterminiert werden, bedarf keiner Erläuterung. (top)
  3. Wie Jencks insinuiert Libeskind, moderne Architektur sei ein Ausdruck kapitalistischen Geistes. Vor dem Hintergrund jüngster Geschehnisse hat diese Äußerung einen bitteren Klang: Libeskinds Projekt für Ground Zero wurde von prototypischen Repräsentanten des „stummen“ Architekturkapitalismus: vom Büro Skidmore, Owings and Merrill überarbeitet und entstellt. Bei öffentlichen Präsentationen seines Projekts gab Libeskind geradezu eine Karikatur des vergeistigten Künstlers, fremd und hilflos in der schnöden Welt des Mammon. (top)
  4. Tatsächlich hat Eisenman keine hohe Meinung von der Architektur (-theorie) Libeskinds und Gehrys: Diese machten sich die Sache zu einfach, indem sie die wesentlichen Aufgaben und Probleme des Architekten (bzw. Architekturtheoretikers) umgingen. Recht besehen könnten sie den Titel „Dekonstruktionist“ nicht beanspruchen: „Ich kann Dir den Unterschied zwischen meiner Dekonstruktion und der Frank Gehrys erklären. Bei Franks Arbeit geht es um Fragmentation – und Fragmentation ist nicht Dekonstruktion. Frank wirft Teile umher und zerbricht die Struktur, aber im Grunde spricht er über eine Sehnsucht nach dem verlorenen Ganzen. Bei meiner Arbeit geht es nicht um eine Sehnsucht nach dem verlorenen Ganzen. Ich glaube, bei Zahas Arbeit auch nicht. […] wir […] unterscheiden uns von Daniel Libeskind in der Weise, dass Daniels Dekonstruktion, wenn Du es so nennen willst, sich immer außerhalb der Metaphysik der Architektur bewegt hat; das heißt immer außerhalb der Kategorien des Schutzes, der Umhüllung, des Bewohnens und so weiter. Wenn man an diesen nicht festhält, dann hat man die Destruktion und nicht die Dekonstruktion der Architektur. […] Das wäre der Unterschied zwischen uns und Daniel und Frank Gehry.“ Eisenman 1987, S. 263f Was Gehry angeht, so tut ihm Eisenman möglicherweise zu viel der Ehre an: Der ‚Westküstenmensch’ Gehry sieht sich als Bildhauer, als Schöpfer von Formen. Eine ideologische, geistesgeschichtliche Überhöhung der eigenen Arbeit im Sinne des „romantischen Fragments“ muss ihm befremdlich erscheinen. (top)
  5. Das spielt auf Merleau-Pontys „Le visible et l´invisible“ (1964) an. Libeskind zitiert häufig Begriffe aus der philosophischen Diskussion. Das geschieht aber en passant, ohne dass die Implikationen dieser Begriffe aufgehellt werden. (top)
  6. Eine weitere Konsequenz seines emphatischen Architekturverständnisses liegt darin, dass Libeskind die für Eisenman und Jencks – und zum Teil für ihn selbst – verbindliche Hierarchie von Text und Architektur umkehrt. Dann geht es nicht mehr um den Text der Architektur oder die Architektur als Text, sondern um die Architektur des Texts oder den Text als Architektur: „Perhaps language and its meaning is grounded in the spaces of architecture, and not vice-versa. Consider the functions of foundation, circumcision, territorialization, openness and closure. These are all experiences of space – and of a certain kind of architecture – which provide a symbolic model and understanding of life itself.” (1997) Diese Einschätzung ist insofern bemerkenswert, als „topologisches“ Denken seit einigen Jahren in den Geisteswissenschaften eine Hochkonjunktur erlebt. In dieser Hinsicht ist Libeskind `an der Zeit’. (top)
  7. Kein Wunder, dass aus Libeskinds Perspektive Eisenmans programmatischer „Anti-Humanismus“ als „Nihilismus“ erscheint. Auch den psychologisierenden Zug vieler Einlassungen Libeskinds („soul“, „dreams“, „aspirations“) darf man dessen humanistischer Attitüde zurechnen. (top)
  8. In der Architektur wäre ansonsten u. a. an Nouvel und Herzog/De Meuron zu denken. (top)
  9. Libeskind ist seiner ersten Ausbildung nach Musiker. Die Entwürfe zum Jüdischen Museum präsentierte er dem Berliner Senat auf Notenpapier. „Moses und Aaron“ ist von besonderem Interesse: Hier werden die Aporien der Darstellung verhandelt, die Schwierigkeit, das, was zu sagen ist, zur Sprache zu bringen: „O Wort, du Wort, das mir fehlt!“ Das ist auch Libeskinds Thema. (top)
  10. Das Gebäude ist u. a. nach Achsen im Berliner Stadtraum ausgerichtet. Diese weisen auf historische Stätten, etwa die Wohnorte Rahel von Varnhagens, Kleists, Heines, Celans. So erschließen sie den ‚Erinnerungs-Raum’ der Berliner Geschichte. Auch zeichnet im Grundriss das Ineinander einer gezackten und einer geraden Linie die Geschichte des Judentums nach. Erstere repräsentiert die „Verbundenheit“ mit der deutschen Kultur, letztere die „Leere“, die der Holocaust hinterließ. Die Zickzacklinie kann zudem als aufgebrochener Davidstern aufgefasst werden. Der „E.T.A. Hoffmann-Garten“ – ein Feld übermannshoher schräger Betonstelen außerhalb des Gebäudes (es repräsentiert das Exil) – erlangte traurige Berühmtheit, als er zum Anstoß für das Zerwürfnis zwischen Libeskind und Eisenman wurde: Dieser soll im „Stelenfeld“ des Berliner Holocaust-Mahnmals den „E.T.A.-Hoffmann-Garten“ plagiiert haben. Immerhin: Es beruhigt, dass Adam sich überall gleich bleibt – auch in den durchgeistigten Sphären der Kunst. (top)
  11. Der Text des Gebäudes ist vom Kontext: dem städtischen Umfeld kaum noch zu trennen, so weit greifen die Assoziationsketten über jeden konturierbaren Zusammenhang ins Unübersehbare aus. Doch gerade durch die Verschränkung mit der Umgebung des Ortes wird Architektur in die Lage versetzt, dessen „Singularität“ zu artikulieren: „Throughout my projects I have followed a certain path which one could name as the search for the Irreplaceable, that which was known by the pagans as the genius loci.“ (1997) (top)
  12. Dieselben „voids“ sind der Haupteinsatzpunkt philosophischer Libeskind-Lektüren: Derrida hat die Frage aufgeworfen, ob Leere tatsächlich als `Abwesenheit’ bestimmt werden kann. (Darauf laufen Libeskinds Stellungnahmen hinaus.) Derrida hält dem Platos „chora“ entgegen: Raum wird gedacht, als sei er der Unterscheidung von An- und Abwesenheit vorgängig. Vgl. Libeskind 1994, S. 117. (top)
  13. Die Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis) (1936) gelten vielen Autoren als Heideggers zweites Hauptwerk neben Sein und Zeit. Sie verhandeln – im Grunde – dasselbe Problem:
    „Die Frage nach dem „Sinn“, d. h. nach der Erläuterung in „Sein und Zeit“ die Frage nach der Gründung des Entwurfsbereichs [des „Daseins“, sozusagen des „Menschen“, d. V.], kurz nach der Wahrheit des Seyns ist und bleibt meine Frage und ist meine einzige […]“ (S. 10)
    „Wahrheit“ meint „Un-verborgenheit“, das Ineinander des (Sich-)Entbergens und (Sich-)
    Verbergens von Seyn. „Seyn“ steht für den Zentralbegriff aller Ontologie: „Sein“. Die veränderte Schreibweise soll den Anspruch markieren, Sein anders zu denken als die ontologische Tradition („Metaphysik“):
    „Die Metaphysik meint, das Sein lasse sich am Seienden finden, und dies so, daß das Denken über das Seiende hinaus geht [d. h.: es transzendiert, d. V.]. Je ausschließlicher das Denken dem Seienden sich zuwendet und für sich selbst einen seiendsten Grund sucht (vgl. Descartes und die Neuzeit), umso entschiedener entfernt sich die Philosophie aus der Wahrheit des Seyns.“ (S. 170)
    Gerade weil Seyn (als das „Sein“ der Metaphysik) stets von Seiendem her gedacht wurde, musste die „Wahrheit des Seyns“ verfehlt werden, denn anders als Seiendes bleibt Seyn auch als entborgenes zugleich noch verborgen. Die wesenhafte Verschiedenheit von Seyn und Seiendem („ontologische Differenz“) geriet in Vergessenheit. Sie gilt es erneut zu Bewusstsein zu bringen. Seyn ist in seinem Verhältnis zu „Seiendem“ – und an erster Stelle ist damit „Dasein“: der Mensch (genauer: dessen „Seinsweise“) gemeint – neu zu bedenken, und zwar radikal ‚dialektisch’, in der Verschränkung konträrer Momente: von Entbergung und Verbergung, von Identität und Differenz, von Sich-Zeigen und (durch Dasein) Gezeigt-Werden. Dieses Verhältnis heißt das „Ereignis“. Seyn und Seiendem ist es logisch vorgeordnet, als deren Möglichkeitsbedingung, denn außerhalb jener ursprünglichen Verbundenheit ist weder Seyn noch Seiendes zu denken. Andererseits gilt, dass das „Ereignis“ nur als Verhältnis,als Relation, gegeben ist, und keine Relation lässt sich ohne Relata denken: Wie das „Ereignis“ Seyn und Seiendem vorausgeht, so gehen Seyn und Seiendes dem Ereignis voraus. Die drei zentralen ‚Begriffe’ der Heideggerschen Spätphilosophie stehen in einem zirkulären Verhältnis, und ihre wechselseitige Abhängigkeit wird konsequent durchgespielt:
    „Das Seyn ist das Er-eignis: Dieses Wort nennt das Seyn denkerisch, gründet seine Wesung in ihr eigenes Gefüge, das sich in der Mannigfaltigkeit der Ereignisse anzeigen läßt.“ (S. 470)
    Das Seyn „ist“ „Ereignis“, insofern es nur im Verhältnis zu Seiendem gedacht werden kann. Das „Ereignis“ „ist“ Seiendes, wenn es sich unter raumzeitlichen Koordinaten (als ein „Ereignis“, als „Ereignisinstanz“) manifestiert. In dieser Hinsicht ähnelt Heideggers „Ereignis“-‚Begriff’ dem umgangssprachlichen emphatischen Begriff vom „Ereignis“ als Augenblick gesteigerten Erlebens: die Verbundenheit von Seyn und Seiendem wird in „mannigfaltigen“ „Ereignissen“ in besonderer Weise offenbar. Deren Ort ist das Kunstwerk, nicht zuletzt Hölderlins Lyrik. Als „dichtendes Denken“ macht auch die Philosophie sich literarische Schreibweisen zu eigen: Weil das „Ereignis“ nichts Gegenständliches ist, entzieht es sich prädizierender Rede. Als Gegenstand einer Theorie kann es nicht taugen. Der späte Heidegger will deshalb nicht so sehr über das „Ereignis“ als vielmehr ‚ereignishaft’ schreiben, so, dass Autor und Leser das „Ereignis“ in der De-Konstruktion von Bedeutung, im Ent- und Verbergen von Seyn durch die Sprache erfahren. Denkend und dichtend, aber auch schauend, im Blick auf die Dinge des täglichen Lebens, übt Heidegger, nach einem Wort Meister Eckharts, „Gelassenheit“ ein, über-lässt, über-eignet sich Seiendem, um darin Seyn „sich ereignen“ zu lassen. „Wege, nicht Werke“ heißt seine Devise. (top)
  14. Vielleicht sind Bauten von intermedialer Beschaffenheit besonders geeignet, das Ereignis „geschehen zu lassen“: Ihre Eigenart lässt sich innerhalb keines einzelnen Mediums adäquat wiedergeben. So können sie „irreduzible“ Singularität zu suggerieren. Vor Verallgemeinerungen muss man sich aber hüten. Oft genug tendiert intermediale Architektur zur lärmenden Geschwätzigkeit. Dann „ereignet“ sich nichts. Ein Beispiel sind Bauten Nouvels. Auch Libeskind ist dieser Gefahr nicht enthoben. Nicht von ungefährt beklagt Zumthor, dekonstruktionistische Architektur erscheine ihm seltsam „unruhig“, „bemüht“. Er bietet den Gegenentwurf einer ‚reinen’ und ‚klaren’ Architektur. Seine Berliner Gedenkstätte „Topographie des Terrors“ auf dem Gelände der Gestapo-Zentrale kann in ihrer äußersten Schlichtheit als ‚Antidot’ zum Jüdischen Museum gelten. (top)
  15. Just dieses Gefühl will Eisenman erklärtermaßen durch alle seiner Bauten vermitteln. (top)
  16. Deswegen kennt das Judentum – anders als die katholische Kirche – keine Lehrautorität. (top)


Literatur

Libeskind

Auf Libeskinds Homepage: www. daniel-libeskind.com findet sich eine umfassende Bibliographie. Dort sind auch alle zitierten Libeskind-Text einzusehen:

  • Catching on fire. Article written by Daniel Libeskind for The New Statesman on the occasion of the opening of the Imperial War Museum North in Manchester, 2002.
  • German Architecture Prize Speech. Speech given by Daniel Libeskind on the occasion of being awarded the German Architecture Prize for the Jewish Museum Berlin, 1999.
  • Proof of Things Invisible. A speech given by Daniel Libeskind on the occasion of being awarded an Honorary Doctorate by the Humboldt University, Berlin, 1997.

Eine übersichtliche Zusammenstellung von Grundrissen, Modellen etc. sowie theoretischen Stellungnahmen Libeskinds, Derridas und anderer Autoren bietet:

  • Müller, Alois Martin (Hrg.): Daniel Libeskind. Radix – Matrix. Architekturen und Schriften, München 1994.

Heidegger

Der maßgebliche Referenztext sind die Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis), als Band 65 der Heidegger-Gesamtausgabe posthum bei Klostermann erschienen. Manche Exegeten sehen darin die „systematische Grundlegung“ der Heideggerschen Spätphilosophie, den „Aufriss“ seines „Ereignis“-Denkens. Heidegger praktiziert hier freilich schon jene `ereignishafte’ Schreibweise, die den Zugang zu seinem Spätwerk zunächst so erschwert. Als Einführung sei daher Wolfgang Ullrichs Der Garten der Wildnis. Zu Martin Heideggers Ereignis-Denken, München 1996, empfohlen.

Sonstiges

  • Eisenman, Peter: Ich war ein Nichts. Gespräch mit Hanno Rauterberg, in: DIE ZEIT, 9. 12. 2004, S. 48.
  • Eisenman, Peter: Misreading Peter Eisenman, in: Ders.: Houses of Cards, New York/Oxford 1987, S. 167-186.
  • Jencks, Charles: The Language of Post-Modern Architecture, London 1977

Kontakt: daniel.krause@campus.lmu.de Veröffentlicht am 25.11.2005

   
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