Internet / Systemtheorie / Kommunikation / Welt / Gesellschaft / Weltgesellschaft / Demokratie


Peter Fuchs

Die world in der Welt des World Wide Web




Abstract: Der folgende Beitrag stellt eine Beschreibung der Kommunikationsform, wie sie das Internet im world wide web etabliert, auf der Grundlage der Systemtheorie dar. Es geht dabei um die Klärung der Begriffe und Konzepte der Welt/world, der Globalisierung und der Demokratie.


Im Unterschied zu geläufigen Diskussionen suche ich im Blick auf den Problemzusammenhang von Globalisierung, World Wide Web und Demokratie einen eher unscheinbaren, einen eher abstrakten oder asketischen Zugang. Dieser Zugang ist vor allem nicht-cartesisch. Das soll heißen: Er geht nicht von Subjekten und Objekten, nicht von Akteuren aus, auch nicht, wenn von einem Globus und entsprechend von Globalisierung die Rede ist, auch nicht von Steuerung (oder gar Steuerungsmedien), wenn dieser Begriff auf zu Steuerndes (im Sinne eines Objektes) bezogen ist.

Insofern ist dieser Zugang befremdlich. Er ist es auch deswegen, weil er sich der so leicht verfügbaren, kritischen Attitüde enthält. Er setzt auf Analyse und kontrollierte Spekulation.(1) Und er tut es, weil die Befunde im Blick auf jenen Problemzusammenhang offensichtlich noch nicht scharf gestellt sind und nicht klar ist, wovon eigentlich gesprochen wird, wenn die Worte Globalisierung, World Wide Web, Demokratie fallen.

Das Mittel, mit dem scharf gestellt werden soll, ist die soziologische Systemtheorie. Sie ist nicht jedermanns Sache, und es ist ja jedermann unbenommen, andere Theorien zu wählen, also andere Unterscheidungen zur Beobachtung zu benutzen. Aber, und darüber wird sich Konsens finden lassen, wenn es so sein sollte, daß moderne Beobachtung der Welt (wenn sie redlich betrieben wird) nur nicht-cartesisch sein kann, dann empfiehlt sie sich als das einzige in der Soziologie gegenwärtig verfügbare Instrument, das nach dem Kollaps der Subjekt/Objekt-Unterscheidung mit den dann verbleibenden Un-jekten (also mit Differenzen) arbeiten kann.


I.

Die soziologische Systemtheorie spricht in ihrer gegenwärtigen Verfassung weniger von Globalisierung als von Weltgesellschaft. Die Gesellschaft ist das soziale System, dessen Eigentümlichkeit darin besteht, daß es ausschließlich Kommunikationen zu seiner eigenen Reproduktion benutzt.(2) Der Unterschied zu anderen Sozialsystemen liegt darin, daß in der externen Umwelt der Gesellschaft keine Kommunikation vorkommt.(3) In dieser Hinsicht ist Gesellschaft singulär, ist sie als Begriff nur im Singular verwendbar.(4) Sie ist diese Differenz, und deshalb scheint das Wort Weltgesellschaft nur so etwas wie eine strategische Verschärfung zu bezeichnen, eine Tautologie, denn Gesellschaft ist immer Weltgesellschaft.

Über die bloße Tautologie mit ihren räumlichen Assoziationen kommt man hinaus, wenn man Sozialsysteme (so gut wie psychische Systeme) als sinnprozessierende Systeme begreift. Im Augenblick, wo man so verfährt, fällt die Welt als Container für Dinge und Operationen aus. Sie wird potentialisiert dadurch, daß sie zur Irritationsquelle für die Irritabilitäten wird, die wir Sinnsysteme nennen, zum Anlaß für das unabschließbare Spiel der Verweisungen, durch die Information (als Auswahl und damit virtuell) konstruiert werden kann. Jede Identität, die in einer universitas rerum noch garantiert werden konnte, löst sich auf in der Sinnzeit, die durch Nachträglichkeit, durch différance, durch die Differenz von Identität und Differenz gekennzeichnet ist.(5) Die Gesellschaft ist eine zeitgegenläufige Sinnmaschine, die (weil sie ihren Ursprung, ihr Original nicht erreicht, weil sie sich nicht haben kann) ihre Welt, wenn wir hier die Freudsche, auf Bewußtsein bezogene Metapher mutatis mutandis einsetzen dürfen, als Projektion einer Oberfläche erzeugt, eine virtuelle Welt mithin. Anders gesagt: Die Realität der Welt ist immer schon virtuell, und gerade das macht die Rede von der virtuellen Realität obsolet und ungemein bestimmungsbedürftig.

Weltgesellschaft (diese analytische Entfaltung des Gesellschaftsbegriffs in einer Tautologie) wird als Begriff informativ gerade dann, wenn man nicht auf einen Globus abstellt, auf einen Erdball, auf Räume oder Container, sondern auf eine Unbestimmtheit, die befristete Bestimmtheit erzwingt, auf Beobachtungsverknüpfungen, die Gesellschaft erfordern nur mehr als “primordiale(s) Weltverhältnis des Beobachtens”(6). Dieser Begriff der Gesellschaft impliziert Welt als nicht dekomponierbar, sie hängt an virtuellen Konstruktionen, und weil diese Konstruktionen Konstruktionen von Beobachtern sind (und heute: Beobachtungen zweiter Ordnung), trifft die Rede von der Globalisierung nur sehr indirekt, was mit Weltgesellschaft gemeint ist. Welt ist gerade nicht das Register, in das sich regionale Gesellschaften, Nationen, Staaten einhängen lassen, sie ist nicht ein Behältnis, in dem kollektive Akteure Verhandlungen aufnehmen, ein Container, in dem es japanische und finnische und bayrische Kommunikation gibt. Sie ist vielmehr der Projektionsschirm, auf dem die entsprechenden Imaginationen segmentärer Selbstbeschreibungen aufleuchten, wenn mit solchen Unterscheidungen beobachtet wird. Dieses Aufleuchten setzt die blinden Flecke der je genutzten Unterscheidungen voraus. Vergessen wird, daß andere Unterscheidungen andere Projektionen ermöglichen, zum Beispiel die der funktionalen Differenzierung der Weltgesellschaft, die sich die Projektion segmentärer, isolierbarer, als Entitäten behandelbarer Lokalgesellschaften leistet.


II.

Wir wollen jedenfalls all das ernst nehmen und die world im World Wide Web (WWW) nicht nur als einen Hinweis darauf verstehen, daß der Erdball, seine natürlichen und historischen Grenzen, kein Hindernis mehr sind für elektronisch basierte Kommunikationsprozesse.(7) Man hätte nicht sehr viel gesagt (ja man wäre nicht einmal originell gewesen), wenn nur dies der Sinn von world wäre, Entgrenzung als die Form der Oberfläche einer Kugel zu suggerieren, also als endliche Unendlichkeit von Bewegungsoptionen. Man hätte sogar empirisch wenig Einleuchtendes gesagt, da doch gewiß nicht allüberall die technische Infrastruktur zur Verfügung steht und man nicht einmal sicher sein kann, daß sie es eines Tages tun wird, wenn anders man nicht von einem immanenten Telos der Evolution ausgehen möchte, eine Theorieposition, die sich heute von selbst verbietet. Die world im WWW ist also nicht die Welt der Gesellschaft. Sie markiert eine Differenz.

Geht man von der Semantik aus, die sich im Blick darauf eingespielt hat, so würde die virtuelle Realität von irgendeiner realen Realität unterschieden. Die Differenzseite der Virtualität verstünde sich dabei nur gegen die Differenzseite der Wirklichkeit. Zugleich würde die Virtualität in einem seltsamen logischen Verfahren als reale Virtualität begriffen werden müssen, da sie um nichts weniger real sein kann als die reale Realität, sonst würde man das alte Schema Sein und Schein revitalisieren müssen oder, wenn man so will, das parmenidische Schema von aletheia und doxai, für das ja auch gilt, daß die eine Seite absolut wahr, aber die andere auch ein bißchen wahr, weil allgemein ist.(8)

Wir verzichten auf die hier möglichen philosophischen Finessen und gehen von einer Differenz-in-Demselben aus. Das ist ein anderer Ausdruck für gesellschaftliche Differenzierung, die besagt, daß Sozialsysteme, die nicht Gesellschaft sind, sich gesellschaftlich ausdifferenzieren, also durch Kommunikationen, die sich von anderen Kommunikationen unterscheiden müssen, die sich spezifizieren und im Falle von Systembildung Grenzen stabilisieren müssen im Medium der Kommunikation. Die Kommunikation sozialer Subsysteme ist spezifizierte Kommunikation, ein Grund dafür, daß Differenzierung einer memory-function bedarf, eines Moments der Irritierbarkeit, durch das Sozialsysteme sortieren können, was an Kommunikation interner Anschluß, was an Kommunikation Umweltkommunikation ist.

Diese Überlegung läßt sich fruchtbar machen, wenn davon ausgegangen wird, daß das WWW, auf welchen technischen Grundlagen es auch immer operieren mag, auf alle Fälle Kommunikationen prozessiert (weswegen es überhaupt erst in den Gegenstandsbereich der Soziologie fällt, also gemessen werden kann mit der Elle einer sozialen Realität sui generis).(9) Die Frage ist ferner, ob das WWW dies als Sozialsystem tut, also ausschließlich mit spezifischen (und nicht verwechselbaren) Operationen. Und die These ist, daß eben dies der Fall ist. Das WWW ist ein Sozialsystem, es hat spezifizierte Operationen, und die world im WWW macht eben deshalb Sinn. Sie ist nicht die Welt der Weltgesellschaft, sondern der Titel für einen spezifischen Umgang mit Sinn durch Sinn in der Gesellschaft.


III.

Sinn ist ein universales, nicht negierbares und hoch fluides Medium.(10) Wie alle Medien ist es homogen, es besteht nur aus einer Sorte von Elementen, deren Form sich als die von Sinnverweisungen beschreiben läßt, die für soziale und psychische Prozesse zum Zweck der Formenbildung zur Verfügung stehen. Die in das Medium einschreibbaren Formen sind zerfallsanfällig, nicht dauerhaft stabilisierbar. Kein Sinn bleibt. Jeder Sinn vergeht. Keine Bedeutung ist dauerhaft. Diese besondere Flüchtigkeit (diese extrem niedrige Bindungsfähigkeit von Sinn) hat ihren Grund in der eigentümlichen Bedingung der Möglichkeit der Benutzbarkeit von Sinn. Er läßt die Markierung von Identitäten nur durch Differenz zu, und das in einer Zeit, die wir die Sinnzeit nennen können: Nur im Nachtrag, nur durch Folgeereignisse wird der Sinn von Etwas fixiert, wird eine Sicht aufgespannt, die an dasselbe Gesetz geknüpft ist, an das Gesetz der différance, des Aufschubs, der jedes Ereignis zum Eräugnis werden läßt, wenn es verschwunden ist. Man könnte auch sagen: Sinngebrauch bindet die Imagination der Präsenz an die Nichtpräsenz. Oder: Die Konstitution von Sinn erzwingt die Normalzeitgegenläufigkeit der Identitätskonstruktion sozialer und psychischer Systeme. Oder einfacher: Das Medium Sinn erzwingt Virtualität.

Jede Systembildung, die Sinn benutzt, ist an dieses Gesetz gebunden, also auch das WWW. Allerdings ist auffällig, daß die Sinnkonstitution in diesem Netz seltsam doppelt geschieht und dann auch noch seltsam doppelt nachträglich.

Man sieht das, wenn man darauf achtet, daß der Form nach jeder Äußerungen, Mitteilungen (utterances) in das Netz einhängen kann.(11) Wir wollen das hier Dokumente erster Ordnung nennen. Diese Dokumente lassen sich als gesellschaftliche Kommunikation beobachten: Irgend wer sagt irgend etwas in irgend einer Form, und irgend wo wird irgend wie verstanden. Das bereitet keine Probleme jenseits technischer Voraussetzungen, ist gesellschaftliche Kommunikation, die auf dieser Ebene den Nachtrag, die différance schon voraussetzt. Bei den Dokumenten erster Ordnung fällt es auch nicht schwer, zu bemerken, daß die Kommunikationen, zu denen sie beitragen, nicht spezifisch sind. Das WWW schließt nichts von dem aus, was gesagt werden kann, es schließt kaum etwas von dem aus, wie etwas mitgeteilt werden kann, und es kümmert sich kaum um die Selektion des Verstehens, also um das soziale Ereignis des Anschlusses.(12) Kurz: Es findet sich nichts Spezifisches, das sich nicht auch sonst in der Gesellschaft fände, oder anders gesagt: Wir haben es mit der Spezifik der bloßen Operation von Kommunikation zu tun, die sich offenhält für Indexierungen der verschiedensten Art, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, rechtlichen, ästhetischen, erzieherischen, sportlichen, politischen oder wie auch immer beschaffenen Auszeichnungen von Exklusivität - Gesellschaft as usual, Gesellschaft, die sich mit ihren Binnendifferenzierungen (Funktionssystemen etc.) in einem neuartigen Medium vollzieht, das genau zu analysieren ist, weil die Typik des Mediums die Form, in der Gesellschaft vollzogen werden kann, strukturell verändert. Dergleichen geschah schon durch die Einführung der Schrift, des Buchdrucks, der Rotationspresse, des Morseverfahren, des Telephons, des Fernsehens, des Computers ebenfalls. Es existieren also instruktive Vergleichsmöglichkeiten, die die Spezifik des Mediums zu ermitteln gestatten, aber gerade deshalb ausblenden, ob das WWW eine besondere soziale Operation kennt.

Die heuristische Annahme, der wir hier folgen, ist, daß es über den Dokumenten erster Ordnung eine zweite Ebene der Kommunikation gibt, die eben jene Spezifik der Operationen aufweist, die es möglich macht, vom WWW als Sozialsystem ganz eigentümlicher Art zu sprechen.(13) Diese Operationen sind die Hyperlinks, also die minimalen, in die Dokumente der ersten Ordnung eingestreuten Anweisungen oder Aufforderungen, zu weiteren Dokumenten durchzuschalten.(14) Die Hyperlinks sind, wenn man so will, operative Verweise (in der Form von Mitteilungen), die zu weiteren Dokumenten führen, die weitere operative Verweise enthalten. Man könnte auch von minimal sinnhaltigen Operationen sprechen, die zu weiteren Angeboten von minimal sinnhaltige Operationen führen. In der Sprache der Kommunikationstheorie: Die Dokumente der ersten Ordnung enthalten Kleinstäußerungen, also Mitteilungen von Informationen, die bei Akzeptanz aus der Umwelt (Anklicken) weitere Dokumente aufblenden, für die dasselbe gilt. Das Anklicken aus der Prozessorsphäre der Umwelt ist im System anschlußerzeugend. Und eben das Anschließen ist die soziale Selektion eines (dann wiederum minimalen) Verstehens dessen, daß weiter (auf die gleiche Weise) angeschlossen werden kann.

Das klingt zunächst bizarr, aber für alle Kommunikation gilt, daß sie bei einem bestimmten Sinn enden (ein Gespräch wird beendet, eine Organisation löst sich auf etc.) und an anderen Stellen anders begonnen, anders fortgeführt, anders wieder beendet werden kann. Eben diese Möglichkeit wird durch Gesellschaftlichkeit jeder Kommunikation garantiert. Der Benutzer (sagen wir hier: die psychische Umwelt) kann sich im WWW zu Dokumenten erster Ordnung durchklicken, dort verweilen, abbrechen oder von der kommunikativen Sinnofferte des Surfens auf operativen Verweisen Gebrauch machen. Die These ist ja nur, daß die Geschlossenheit des Systems im Davon-Gebrauch-machen liegt, denn offensichtlich ist, daß der operative Verweis (die Operation des Linkens) immer im System und nie neben dem System stattfindet.(15) Das WWW ist auf diese Weise immer im Betrieb und ist es immer intern, gleich, wieviel psychische Systeme im Moment sich zugeschaltet oder weggeschaltet haben. Wenn etwas an ihm exklusiv und spezifisch ist, dann eben diese im System laufenden Operationen des Linkens. Aber dabei kommt etwas sehr Merkwürdiges zustande.


IV.

Die Sinnzeit ist Retro-Zeit, das haben wir gesagt. Soziale und psychische Systeme markieren Identität als Differenz. Was etwas ist, was gesagt worden ist und was es bedeutet, was einer wirklich geschrieben hat, was ihm als Handlung zugerechnet wird und was nicht, ist an Nachträglichkeit gebunden. Die Dokumente erster Ordnung des WWW fallen (als gesellschaftliche Dokumente) unter dieses Gesetz. Sie haben Sinn durch Anschlüsse, die Sinn zuschreiben und denen selber Sinn zugeschrieben wird. Die operativen Verweise, diese kuriosen Minimalmitteilungen sind (das bleibt, wenn man so will erhalten) Mitteilungen dann, wenn sie betätigt werden, wenn nicht, dann nicht. Der Nachtrag (das nächste aufgeblendete Dokument mit seinen operativen Verweisen) beschreibt, was eben geschehen ist, als einen Verweis, der funktioniert hat. Der Schalter war ein Schalter und keine Täuschung. Er hat in etwa dorthin geführt, wohin zu führen er versprach. That´s all. Und wieder findet sich dieser kuriose Minimalismus. Die Retrospektive markiert die Operation des Linkens als vollzogen.

Aber, und dies ist ein wichtiges Aber: Das Dokument erster Ordnung, das im operativen Verweis ermittelt wird, muß keineswegs das Vorangegangene als ein Bestimmtes identifizieren. Es muß nicht einmal ein Anschluß, es kann etwas völlig anderes sein. Die Operation des Linkens erzeugt nicht eine series rerum, sie läßt es vielmehr zu, die Dokumente der ersten Ordnung in Reihen zu staffeln, die normalzeitläufig gebaut sind, in denen es nicht darauf ankommt, daß die aufgeblendeten Dokumente vorangehende oder Ketten von vorangehenden Ereignissen als Identitäten markieren. Oder anders gesagt: Welchen Sinn die psychische Umwelt mit den durch operative Verweise angesteuerten Dokumenten auch immer verbinden mag, er ist für das System der Form nach gleichgültig. Es entwickelt seine Strukturen und Prozesse nicht auf der Ebene jener virtuellen, wieder erlöschenden, unentwegt permutierenden Reihen der Dokumente erster Ordnung, sondern (und dies ist erwartbar bei geschlossenen Systemen) auf der Basis seiner eigentlichen Elemente, jener Hyperlinks, durch die es sich betreibt. Die Analyse der Spezifik des Systems wird deshalb bei den operativen Verweisen ansetzen müssen, bei den Objekten, Ordnern, Attraktoren, die auf dieser Ebene evoluieren und wirksam werden. Jeder Versuch, das System im Blick auf seine Dokumente zu beschreiben, findet nur Gesellschaft und nicht: Besonderung. Er führt in das, was im einschlägigen Diskurs geläufig ist: in Kultur- und Gesellschaftskritik, kaum aber in ein Verständnis dessen, was neu an diesem System ist.

Die zentrale Verrichtung (dynamis, Operation) des Systems ist der Bezug auf ein Beziehen, und nicht (oder kaum) der Bezug auf Bezogenes, obgleich die Dokumente erster Ordnung sich dem psychischen Beobachter als Bezogenes aufdrängen. Die Selbstreferenz des Systems manifestiert sich in jenem Bezug auf das, was bezieht, oder auf den Verweis, der prozedural oder operativ verweist. Sie liegt gerade nicht in den Themen der Ebene erster Ordnung, und auch das (diese spezifische Indifferenz) spricht für die Geschlossenheit des Systems so gut wie der Umstand, daß die Hyperlinks nicht durchblicken lassen auf die technische Infrastruktur, die sie (als eine Oberfläche) projiziert. Das System verhielte sich in dieser Hinsicht zur Technik wie das Bewußtsein zu seiner neuronalen Bedingungsmöglichkeit.

Wenn es so ist, daß das System sich im Netzwerk der operativen Verweise reproduziert, läßt sich nach der Form seiner strukturellen Kopplung mit der psychischen Umwelt fragen.(16) Daß diese Kopplung - gesetzt, das WWW ist ein Sozialsystem - im Medium Sinn geschieht, versteht sich. Aber auffällig ist, daß dabei ins Medium Sinn (für Bewußtsein, für das Sozialsystem) nur sehr schwache Formen von Sinn eingezeichnet werden, im Grunde die Formen der Anweisung für einen Verweis, dem nachgegangen werden kann oder nicht. Weder das Bewußtsein noch das System hat in dieser Hinsicht hohe Komplexitätslasten zu tragen. Und wir wollen sagen, daß dies ein Hinweis darauf sein kann, daß die Operationsweise des WWW der Sinnform selbst isomorph ist. Es geht um das Verweisen auf ein Verweisen. Der Unterschied zum Medium Sinn liegt allein in der Operativität, in der dynamis: Sinn betreibt sich nicht selbst, aber genau das tut das System. Es kopiert auf der Ebene seiner Operationen die Sinnverweisung mit einem minimalen Aktualitätskern (die Anweisung zum Verweisen), es ist, wenn diese Metapher erlaubt ist, in dieser Hinsicht ein flackerndes, ein gleitendes, ein surfendes System, das gegen Themen indifferent nur intern auf die Schläge seiner Verweisungen reagiert. Die Überlegung drängt sich auf, daß diese Beschreibung eine Art Schwundstufe des Sozialen bezeichnet, ein zutiefst asketisches Sozialsystem, das eines elaborierten Bewußtseins kaum noch bedarf und dies nur noch auf den Dokumenten der ersten Ordnung voraussetzt, die aber genau nicht das System sind.

Das heißt, die world im WWW resultiert aus der operativen Kopie der Sinnform, die ja ihrerseits universell und nicht negierbar ist. Das Spiel unabschließbarer Verweisungen (und die Nichtbeobachtbarkeit ihres Totums) wird in diesem System in der Welt noch einmal, gleichsam pur gespielt. Die Folgen, die daraus resultieren, daß es dies geben könnte, sind unabsehbar.


V.

Um Mißverständnisse zu vermeiden: Soziale Systeme sind keine Objekte, sondern Differenzen (oder Un-jekte). Wer glaubt, er habe es mit Objekten zu tun, neigt zur Hypostasierung. Er ist in der nicht-cartesischen Beobachtung der Welt noch nicht angekommen. Die Beschreibung des WWW unterscheidet sich nicht von der Beschreibung geläufiger Sozialsysteme durch die soziologische Systemtheorie. Die psychischen Systeme sind Umwelt des Systems, das System betreibt sich über operative Kopplungen, auch in diesem Fall über minimale utterances, auf die utterances des gleichen Typs folgen. Die Differenz ist markiert durch eben diese Minimalität, nicht dadurch, daß ein völlig neuer (oder im Blick auf Technik) sehr alter Systemtyp in die Welt gekommen ist. Überraschend ist nur, mit wie wenig Sinn das WWW im Blick auf seine genuinen Operationen arbeitet und wie wenig individualisiertes, schwieriges, idosynkratisches Bewußtsein es dabei voraussetzt.

Aber gerade das ist ein Punkt, der das anfangs bezeichnete Thema berührt. Das System, so könnte man formulieren, de-individualisiert für sich die Individuen. Es benötigt nur flache soziale Adressen.(17) Aber gerade deshalb schafft es in seiner Umwelt ein ungeheures Maß an Freiheit, oder, weniger pathetisch, ein Reservoir für idiosynkratisches (dann als individuell beschriebenes) Verhalten. Es legt der Form nach seiner psychischen Umwelt keine sozialen Fesseln an, jedes Bewußtsein kann jederzeit das Feld verlassen, nahezu folgenlos. Es ist deshalb für mich bezeichnend, daß es so viele Versuche der sozialen Kontrolle des WWW gibt. Es geht dabei um die Zähmung der operativen Verweise, um die Erzeugung von Objekten oder Linkdomänen mit schwer überschreitbaren Grenzen, um die Rückrechenbarkeit der Verweisungsschläge auf Personen, um die Einschränkung der sinntypischen Umwegigkeit oder, wie man auch formulieren kann, um die Bändigung einer psychischen Umwelt, die in gewisser Weise dämonisch und unbeherrschbar zu werden droht und die Grenzen der Sitte, der mores, der Normen überschreiten könnte.

Das WWW ist in diesem Verständnis weder demokratisch noch undemokratisch. Diese Unterscheidung macht wenig Sinn, sie wirkt altbacken gegenüber dem Phänomen, auf das sie angewandt werden soll. Demokratie setzt (gerade anders als in der athenischen Radikaldemokratie) nach heutigem Verständnis Bürger/innen voraus, die als Gemengelagen von Individualinteressen und deren Ausrichtung auf kollektive Interessen konstruiert sind, als gebändigte Idiosynkrasien, die als Einheiten aufgefaßt werden können.(18) Oder paradox: Die Demokratie benötigt der Form nach allgemeine Singularitäten. Sie ist ihrer Konstruktion nach habermasianisch, also aristokratisch, insofern sie die Souveränität der Individuen (und ihre Identität) proklamiert und einige dieser Individuen super-souveränisiert bzw. super-identifiziert: als Repräsentanten einer Allgemeinheit, die bei Kant Vernunft heißen würde.

Wenn es zutrifft, daß das WWW sich konstituiert auf der Basis jener minimalen Elemente der Hyperlinks, dann ist eben für diese individuelle Allgemeinheit im System kein Repräsentationsort. Die psychische Umwelt ist auf anklickfähige Adressen reduziert.(19) Es kommt nicht darauf an, was der psychische Gegenhalt einer solchen Adresse sonst noch sein mag. Er ist freigesetzt für sein Eigen-Spiel. Worin er sich Normen verpflichtet, einer Ethik verbunden sieht, ist für das System irrelevant. Eben deshalb ist das Spiel mit der Identität (sind die internet-typischen Travestien) erwartbar.

Eine Kommunikationsform, die abkoppelt von elaborierter psychischer Selbstreferenz, ließe sich hyperautonom nennen. Sie verschärft, wenn man so will, die Autonomie sozialer Systeme, wie wir sie bislang kannten, indem sie einerseits die psychische Umwelt freisetzt (dämonisiert), andererseits im System nur noch minimal benötigt. Wenn das System eine Art Spiegel ist, in dem sich die Form von Sinn erkennen läßt, wird daran zu erinnern sein (um eine Leibnizsche Metapher zu gebrauchen), daß dieses System wie jeder Spiegel etwas sehen läßt, aber selbst nichts sieht.

Ich gehe davon aus, daß sich unter solchen Voraussetzungen das alte Problem sozialer Ordnung aufs neue und in unerhörter Weise stellt - in einer polykontexturalen Gesellschaft, die angesichts des WWW beginnen könnte, zu sehen, daß sie das Problem hyperautonomer Kommunikation schon längst hat. Sie könnte es vielleicht anhand der world in der Welt des WWW schärfer beleuchten.



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